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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Briefe aus dem Straflager So dachte Nawalny über Donald Trump
Der Kremlgegner Alexej Nawalny schrieb vor seinem Tod aus dem Straflager Hunderte Briefe. Sie geben einen Einblick in seine Sehnsüchte und Gedanken.
Seine Schrift ist klein, damit möglichst viel auf eine Seite passt. Aber die Buchstaben sind sauber und fein geschwungen: Hunderte Briefe schrieb Alexej Nawalny so an seine Freunde und Mitstreiter aus dem russischen Strafgefangenenlager heraus – erst aus dem Straflager Melechowo, dann aus dem abgelegenen arktischen Gefängnis namens "Polar Wolf". Dort soll der berühmte Kremlkritiker nach russischen Behördenangaben am vergangenen Freitag verstorben sein.
Seit dem Jahr 2021 saß Nawalny als politischer Gefangener des Kremls eine Haftstrafe ab. Immer wieder wurde diese in insgesamt fünf Prozessen verlängert – inzwischen sollte sie mehr als 30 Jahre betragen. Die Zeit vertrieb sich Nawalny, indem er Bücher wälzte und Briefe an seine Freunde verfasste. Der US-Zeitung "The New York Times" liegen einige von ihnen vor. Sie geben einen Einblick in Nawalnys Gedanken- und Gefühlswelt vor seinem Tod.
"Beunruhigt diese offensichtliche Sache nicht die Demokraten?"
Einem Freund, dem russischen Fotografen Evgeny Feldman, vertraute Nawalny demnach etwa an, was er von dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hielt. Die Wahlagenda des Republikaners, so Nawalny, sei "wirklich beängstigend". Wenn der amtierende US-Präsident Joe Biden ein gesundheitliches Problem habe, "wird Trump Präsident", zitiert die "New York Times" aus Nawalnys Brief. Der Zeitung zufolge fragte er mit Blick auf die US-Wahlen: "Beunruhigt diese offensichtliche Sache nicht die Demokraten?"
In einem weiteren Brief an Feldman, wenige Monate später, warnte er abermals vor einer Wiederwahl Trumps. Der Republikaner will im November erneut zur US-Präsidentschaftswahl antreten. Nach dem Tod Nawalnys zog er einen bizarren Vergleich.
"Das ist es, was ich Jelzin nicht verzeihen kann"
Auch andere Themen interessierten Nawalny, trotz harter Haftbedingungen und Folter. Wie die "New York Times" unter Berufung auf seine Briefe berichtet, prahlte der 47-Jährige damit, in einem Jahr 44 Bücher auf Englisch gelesen zu haben. Am liebsten, so schrieb er demnach, lese er zehn Bücher gleichzeitig und wechsle zwischen ihnen hin und her. Seinen Lesehunger stillte er etwa mit politischen Memoiren, einem dreibändigen Werk des sowjetischen Dissidenten Anatoli Martschenko oder dem Roman "Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch" von Alexander Solschenizyn.
Zudem hielt der Oppositionspolitiker an seiner Partei "Russland der Zukunft" fest und plante seine weitere politische Strategie. Mit Journalisten tauschte er politische Gedanken aus, gab Freunden Karrieretipps und äußerte sich zu viralen Beiträgen in den sozialen Medien, die ihm sein Team schickte.
Über Russland oder den russischen Präsidenten Wladimir Putin verlor Nawalny dabei kaum ein Wort. Lediglich über Putins Vorgänger, den früheren russischen Präsidenten Boris Jelzin, schrieb er einige Zeilen. "Gefängnis, Ermittlungen und Gerichtsverfahren sind jetzt die gleichen wie in den Büchern der sowjetischen Dissidenten", zitiert die "New York Times" aus einem seiner Briefe. Dass Jelzin es nicht geschafft habe, das Sowjetsystem zu ändern, "das ist es, was ich Jelzin nicht verzeihen kann", so Nawalny.
Vorliebe für Berliner Döner
Doch Nawalny zehrte in seiner Zeit im Straflager auch von anderen Gesprächsthemen. So dankte er seinem Freund Fishman etwa dafür, dass dieser ihm von seinem Leben in Amsterdam geschrieben hatte. "Normalerweise denken alle, dass ich wirklich erbärmliche und herzzerreißende Worte brauche", zitiert die "New York Times" Nawalny aus einem Auszug des Briefes. "Aber ich vermisse wirklich den Alltagstrott – Nachrichten über das Leben, Essen, Gehälter, Klatsch."
Auch die Gerichtsprozesse boten Nawalny dem Bericht zufolge die so sehr ersehnte Abwechslung. "Sie lenken ab und lassen die Zeit schneller vergehen", schrieb er. "Darüber hinaus vermitteln sie Spannung und ein Gefühl von Kampf und Verfolgung." So forderte er etwa im Januar vergangenen Jahres ein Recht auf eine längere Essenspause, um die ihm zustehenden "zwei Tassen kochendes Wasser und zwei Stück ekelhaftes Brot" zu konsumieren. Sein Antrag wurde abgelehnt.
Wie Freunde Nawalnys der "New York Times" berichten, zehrte der Kremlgegner von Schilderungen über Essen. So schrieb er seinem Bekannten Ila Krasilshchik, dass er in Berlin Döner gegenüber Falafel bevorzuge und sich für das indische Essen interessiere, das Herr Feldman in New York probiert habe.
Briefe Nawalnys könnten noch ankommen
Feldman lebt mittlerweile im Exil in Lettland. Eigenen Angaben zufolge schrieb er in der Zeit, in der Nawalny im Straflager saß, insgesamt 37 Briefe an den Kremlkritiker. "Ich mag diese Briefe wirklich", schrieb ihm Nawalny einmal. Auch in den Wochen vor seinem Tod, so Feldman im Gespräch mit der "New York Times", habe Nawalny laut Angaben seiner Rechtsabteilung noch auf einige seiner Briefe geantwortet.
Wenn die Zensoren, die die Briefe im Auftrag des Kremls kontrollieren, sie absegnen, könnte es somit sein, dass Feldman auch nach Nawalnys Tod in den nächsten Monaten noch Briefe von ihm erhalten wird. "Ehrlich gesagt, ich denke mit Entsetzen darüber nach", sagte Feldman.
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Rätselhafter Tod des Kremlgegners
Ob die Briefe jedoch tatsächlich ankommen, ist fraglich. Kritiker werfen den russischen Behörden vor, die Leiche Nawalnys zurückzuhalten. Sie soll sich in einer Leichenhalle im nordsibirischen Salechard befinden, doch Angehörigen und den Anwälten Nawalnys wird der Zutritt zu dem Gebäude bislang verweigert. Eine Sprecherin der Organisation Nawalnys warf dem Kreml vor, den Oppositionellen getötet zu haben und die Tat vertuschen zu wollen. "Sie lügen, spielen auf Zeit und verheimlichen es nicht einmal", erklärte die Sprecherin. Medienrecherchen zeigen ebenfalls Ungereimtheiten in der Erzählung der russischen Behörden. Mehr dazu lesen Sie hier.
Die russische Strafvollzugsbehörde gab an, Nawalny habe sich am Freitag nach einem Gang im Freien in seiner Strafkolonie in Sibirien "unwohl gefühlt" und sei zusammengebrochen. Zahlreiche westliche Politiker machten die russische Führung und Präsident Wladimir Putin für den Tod seines prominenten Widersachers verantwortlich. Nawalnys Tod ereignete sich einen Monat vor der Präsidentschaftswahl Mitte März, bei der mangels wirklicher Opposition Putins Wiederwahl erwartet wird. Putin selbst hat sich zu dem Vorfall noch nicht geäußert. Mögliche Proteste, angestoßen durch eine Beerdigung Nawalnys, dürften ihm jedoch ungelegen kommen.
- nytimes.com: "Inside Aleksei Navalny’s Final Months, in His Own Words" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters