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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Asylpolitik Experte warnt: "Alle Augen sind nun auf Deutschland gerichtet"
Australien fährt bei der Flüchtlings- und Asylpolitik seit Jahren einen harten Kurs. Ein Experte warnt: Deutschland sollte dieser Politik nicht folgen.
Grenzen dicht, Internierung auf abgelegenen Inseln, Rückführung von Booten: Australiens Antwort auf Asylsuchende ist seit langer Zeit ein Kurs der Abschreckung und Abschottung. Daniel Ghezelbash, ein führender australischer Experte für internationales Flüchtlingsrecht, warnt europäische Länder davor, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.
t-online: Herr Ghezelbash, schon im Jahr 2018 haben Sie einen Essay mit dem Titel: "Warum Europa nicht dem Beispiel Australiens bei Asylsuchenden folgen sollte" geschrieben. Wie bewerten Sie die Lage heute?
Daniel Ghezelbash: Die Situation hat sich seit 2018 deutlich verschlechtert – sowohl im Hinblick auf das weit verbreitete Interesse an der Übernahme des "australischen Modells" als auch auf den wachsenden Erfolg politischer Parteien, die früher Randgruppen des politischen Spektrums waren und nun für diesen Ansatz werben.
Ein bemerkenswertes Beispiel ist Geert Wilders in den Niederlanden. Er ging sogar so weit, ein Wahlkampfvideo zu erstellen, das die von der australischen Regierung produzierten Videos kopierte und ein Schild mit der Aufschrift "no way" zeigte. Die australischen Kampagnen propagierten, dass es "keinen Weg" gebe, in Australien sesshaft zu werden. Wilders hat beim Thema Asyl nicht nur die Politik der australischen Regierung übernommen, sondern auch die gleichen Botschaften und Grafiken, die sie verwendet hat.
Halten Sie die Wahlversprechen der europäischen Politiker, die das "australische Modell" anpreisen, für nachhaltig?
Menschen auf unbestimmte Zeit in Offshore-Lagern festzuhalten, ist nicht nachhaltig. Die Aufnahmeländer sind im Allgemeinen nicht bereit, eine dauerhafte Ansiedelung zu gewähren. Papua-Neuguinea etwa hatte zunächst erklärt, dass es den Menschen einen dauerhaften Aufenthalt gestatten würde, ähnlich wie es Ruanda im Rahmen des britischen "Ruanda-Abkommens" angeboten hatte. Papua-Neuguinea änderte jedoch seine Position, als es die politischen Auswirkungen vor Ort erkannte. Die meisten Geflüchteten wurden schlussendlich mit einem befristeten Visum nach Australien gebracht.
Darüber hinaus hat sich eine perverse Praxis der "Flüchtlingswäsche" entwickelt, bei der unerwünschte Geflüchtete und Asylbewerber in den USA und Australien ausgetauscht werden, ohne dass sich an ihrer Situation etwas ändert. Nur dass wir sie im Rahmen dieses Programms an einen Ort am anderen Ende der Welt schicken, anstatt ihnen Asyl zu gewähren.
Die finanziellen Kosten dieser Asylpolitik sind astronomisch: Australien gibt mehr als 10 Milliarden Dollar aus, um mit einer kleinen Anzahl von Flüchtlingen fertigzuwerden. Das ist ein erheblicher Teil des Jahreshaushalts des UNHCR (Anmerkung der Redaktion: das Flüchtlingskommissariat der UN). Eine Umschichtung dieser Mittel in Richtung Schutz statt Abschreckung wäre ein wirksamerer Ansatz, um die Sicherheit und das Wohlergehen von Flüchtlingen zu gewährleisten.
Befürworter betonen, dass Asylverfahren in Drittländern Menschen von den gefährlichen Bootsreisen abhalten könnten. Somit wäre es eine "humane" Maßnahme. Was halten Sie von dieser Rhetorik?
Man braucht sich nur Australiens Erfahrungen anzuschauen, um zu erkennen, dass die Offshore-Behandlung keineswegs human ist. Sie hat den Menschen, die nach Manus Island in Papua-Neuguinea und auf die Insel Nauru geschickt wurden, schweres Leid zugefügt. Ärzte ohne Grenzen (MSF), die vor Ort psychologische Hilfe leisten konnten, haben von einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Traumata berichtet – das sei selbst mit Kriegsgebieten kaum vergleichbar gewesen. Von den etwa 4.000 Menschen, die von Australien in Offshore-Lager geschickt wurden, haben auch mehrere ihr Leben verloren.
Daniel Ghezelbash ist außerordentlicher Professor an der Universität Neusüdwales (UNSW) in Sydney, stellvertretender Direktor des Kaldor-Zentrums für internationales Flüchtlingsrecht. Sein Fachgebiet ist das internationale und vergleichende Flüchtlings- und Migrationsrecht. Er hat zahlreiche Publikationen über restriktive Asylpolitiken weltweit veröffentlicht und forscht aktuell für den Australischen Forschungsrat (Australian Research Council) zu fairen und effizienten Asylverfahren.
Die negativen Folgen des Offshore-Verfahrens gehen zudem über den Schaden hinaus, der den Asylbewerbern zugefügt wird. Sie wirken sich auch auf die betroffenen Drittländer und ihr soziales Gefüge aus. Die Erfahrungen in Papua-Neuguinea und Nauru haben gezeigt, dass die wirtschaftlichen Vorteile nicht an die lokale Bevölkerung fließen, sondern dass große multinationale Unternehmen davon profitieren. Die Gesellschaften in diesen Ländern, die ursprünglich ethnisch homogen waren, sind nun aufgrund des Zustroms von Menschen aus verschiedenen Kulturen mit sozialen Spannungen konfrontiert. Es ist wichtig, auch die Auswirkungen auf diese Länder zu erkennen sowie den Schmerz, der dadurch verursacht wird, dass Experten wie ich aus dem globalen Norden diese Asylpolitik bewerten.
Was aber, wenn die deutsche Regierung ein Drittland finden könnte, in dem diese Menschen sicher aufgehoben wären?
Diese Diskussion ist nicht neu. Europäische Staaten suchen schon seit Jahrzehnten nach solchen Partnerländern, ohne tragfähige Optionen zu finden. Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass es in Zukunft geeignete Länder geben wird. Auch Ruanda ist von der Liste gestrichen. Dass das Land nicht sicher für Geflüchtete ist, hat das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofs in Großbritannien gezeigt.
Offshore-Verfahren sind also nicht mit dem Völkerrecht vereinbar?
Theoretisch wäre es zwar möglich, Offshore-Verfahren im Einklang mit internationalem Recht und den Menschenrechtsstandards einzuführen. Doch würde dies die von Regierungen beabsichtigte abschreckende Wirkung untergraben. Aus diesem Grund bin ich skeptisch, wenn Staaten behaupten, sie wollen bei einer solchen Politik das Völkerrecht einhalten. Denn wenn dies wirklich der Fall wäre, würde ihre Politik nicht in erster Linie auf die Abschreckung von Asylsuchenden abzielen.
Eine andere Maßnahme in Australien, die für viel Aufmerksamkeit sorgt und als erfolgreich gilt, sind Boot-Pushbacks.
Die Rückführung von Booten, auch wenn sie effektiv erscheint, verstößt eindeutig gegen internationales Recht. In Europa, wo die Europäische Menschenrechtskonvention gilt, ist das keine Option. In Australien herrscht eine außergewöhnliche Lage: Das Land hat keinen verbindlichen nationalen oder regionalen Menschenrechtsvertrag abgeschlossen. Auch eine gesetzliche und verfassungsrechtliche Charta der Menschenrechte gibt es nicht. Dieses Rechtsvakuum lässt solche Praktiken zu. Im Gegensatz dazu ist es in Rechtssystemen mit verbindlichem Menschenrechtsschutz und völkerrechtlichen Verpflichtungen, wie in den meisten europäischen Ländern, nicht möglich, eine solche Politik umzusetzen.
In Deutschland wurde die Befürchtung geäußert, dass sich die Länder aus diesen Menschenrechtsverpflichtungen zurückziehen könnten.
Selbst ein Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention oder anderen Menschenrechtsverträgen würde nicht ausreichen, um die Staaten von ihrer Verantwortung zu entbinden. Das zeigt auch die Entscheidung des britischen Gerichts im Fall Ruanda. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung (Anmerkung der Redaktion: Non-Refoulement Prinzip) ist ein völkerrechtlicher Grundsatz und in dieser Hinsicht nicht verhandelbar.
Australiens Premierminister Albanese hat ein Abkommen mit dem Pazifikstaat Tuvalu über Klimaflüchtlinge geschlossen. In Europa wurde dies als Zeichen gewertet, dass Australien seine Migrationspolitik aufweichen könnte. Wie bewerten Sie die Entwicklung?
Australien hat in den vergangenen Monaten wieder Geflüchtete in das Offshore-Lager auf Nauru geschickt – erstmals seit 2014. Außerdem führen wir immer noch Boot-Pushbacks durch, was eine klare Verletzung des Völkerrechts darstellt.
Der derzeitige Ansatz Australiens ist durch einen inhärenten Widerspruch gekennzeichnet. Die Regierung nutzt die Worte: "Stark an den Grenzen, aber nicht schwach in der Menschlichkeit" – ein offensichtlicher Widerspruch zu Australiens derzeitigem Umgang mit dem Thema. Auch wenn es also einige begrüßenswerte Abschwächungen gibt, wie zum Beispiel die Vereinbarung mit Tuvalu, die einen speziellen Visapfad für Menschen vorsieht, die von klimabedingter Vertreibung betroffen sind.
Es ist wichtig, den gesamten Kontext zu berücksichtigen. Andere Faktoren wie die australische Außenpolitik und der Umgang mit dem Einfluss Chinas in Tuvalu dürften bei der Vereinbarung eine Rolle gespielt haben.
Wie hat sich die öffentliche Meinung in Australien bezüglich der Asylpolitik im Laufe der Jahre entwickelt?
In einer Umfrage, die wir vergangene Woche in Zusammenarbeit mit "Essential Media" durchgeführt haben, zeigte sich, dass die australische Öffentlichkeit nicht ausreichend über die Asylpolitik informiert ist. Insbesondere herrscht Unwissen über die Anzahl der Geflüchteten, die das Land jedes Jahr aufnimmt. Nur neun Prozent der Befragten waren in der Lage, das richtig einzuordnen. Die Umfrage ergab aber auch eine allgemein positive Reaktion auf Geflüchtete. Vierzig Prozent stimmten zu, dass Geflüchtete Australien mehr Nutzen als Probleme bringen, während nur zwanzig Prozent anderer Meinung waren.
Politische Führung spielt bei der Beeinflussung der öffentlichen Meinung eine entscheidende Rolle. Das ist überall auf der Welt der Fall. Leider hat sich der Glaube durchgesetzt, dass man mit flüchtlingsfeindlicher Rhetorik Wählerstimmen gewinnen kann, was zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf führt. Historische Beispiele, wie die Bootsflüchtlinge aus Vietnam in den 1970er-Jahren in Australien, zeigen jedoch, dass ein anderer Ansatz möglich ist. Damals zeigte die Regierung Führungsstärke und die Menschen im Land akzeptierten die Ankömmlinge.
Wie blicken Sie auf Deutschlands Asylpolitik in den Jahren 2015 und 2016 unter der damaligen Kanzlerin Angela Merkel – als es über eine Million Asylbewerber aufnahm?
Das war ermutigend, denn es zeigte, dass ein anderer Weg möglich war, und es widersprach dem Trend, den wir in liberalen Demokratien weltweit beobachtet hatten. Die Schutzbestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Menschenrechtsverträge sind nur Worte. Ihre Wirksamkeit in der realen Welt wird durch das Handeln der Staaten geprägt. Die Umsetzung des Völkerrechts erfordert Führung; es braucht Staaten, die mit gutem Beispiel vorangehen, um andere Staaten davon zu überzeugen, Flüchtlinge zu schützen.
Es war sehr erfreulich zu sehen, dass Deutschland in den Jahren 2015 und 2016 diese Rolle übernommen hat. Doch heute sind wir dringend auf diese Art von prinzipientreuer Führung angewiesen. Alle Augen sind nun auf Deutschland und andere europäische Staaten gerichtet. Wenn sie denselben Weg wie die USA und Australien einschlagen, wird dies einen schwerwiegenden Schaden für das universelle Asylprinzip und das internationale Flüchtlingsschutzsystem insgesamt bedeuten.
Sie sagten, EU-Staaten sollten nicht denselben Weg wie Australien UND die USA einschlagen?
Interessanterweise wurde die australische Politik in Bezug auf die Offshore-Verfahren und die Rückführung von Booten von den Vereinigten Staaten beeinflusst. Ich habe mit hochrangigen politischen Entscheidungsträgern auf US-Seite gesprochen, die mir bestätigten, dass sie bei der Ausarbeitung der australischen Politik im Jahr 2001 dabei waren. Es ist wohl Ironie, dass diese heute als "australisches Modell" bezeichnet wird, obwohl es eigentlich ein Modell der Vereinigten Staaten ist. Die USA haben seit den 1980er-Jahren in der Karibik Rückschiebungen durchgeführt, und Guantanamo Bay war das erste Offshore-Internierungslager.
Wieso hören wir dann nur von dem "australischen Modell"?
Australien hat eine bewusste Kampagne geführt, um der Welt seine Politik zu verkaufen und sie als konform mit dem internationalen Recht darzustellen. Ich vermute, der Grund dafür ist Unsicherheit, die mit der Rolle einer Mittelmacht einhergeht. Australien ist sich bewusst, dass seine Asylpolitik nach internationalem Recht problematisch ist. Die beste Möglichkeit, sie zu legitimieren, ist, wenn andere Staaten einen ähnlichen Ansatz verfolgen.
Die USA im Gegensatz haben sich nie wirklich darum geschert. Wenn man mit Amerikanern spricht, wissen die meisten nicht einmal, dass Migranten nach Guantanamo Bay geschickt wurden.
Was sehen Sie als größtes Risiko, sollten weitere europäische Staaten das "australische Modell" verfolgen?
Es steht alles auf dem Spiel. Wir befinden uns an einem Kipppunkt. Es ist ein Wettlauf nach unten, bei dem Staaten Maßnahmen kopieren, die den Zugang zu Asyl blockieren. Die Gefahr liegt darin, dass das hart erkämpfte internationale Schutzsystem und die Institution des Asyls selbst verschwinden könnten. Wenn Staaten des globalen Nordens und die reichsten Länder der Welt keinen Zugang zu Asyl mehr gewähren, wie können wir von Staaten im globalen Süden, die über weit weniger Ressourcen verfügen, erwarten, dass sie sich an dieses Prinzip halten?
Was könnte Ihrer Meinung nach die Folge davon sein?
Dies würde dazu führen, dass Menschen, die sich in unmittelbarer Gefahr befinden, nirgendwo mehr Zuflucht finden können.
Welche langfristigen Lösungen können Sie sich stattdessen vorstellen?
Die Lösung dieses Problems ist nicht so kompliziert, wie es vielleicht scheint. Durch die Verbesserung und eine angemessene Finanzierung von Asylverfahren werden die Maßnahmen, die den Zugang zum Hoheitsgebiet blockieren, überflüssig. Ein Beispiel sind faire und effiziente Verfahren zur Identifizierung berechtigter Asylbewerber.
Es gibt Beispiele in Europa. Ich komme gerade von einer Reise aus der Schweiz. Dort wurde stark in die Entscheidungskapazitäten bei Asylverfahren und in die staatlich finanzierte Rechtsberatung investiert. Das führt zu effizienten und schnellen Verfahren. Die Slogans und politische Rhetorik einer solchen Politik mag zwar nicht so ansprechend sein, Investitionen in faire Verfahren sind dennoch eine kostengünstigere Alternative im Vergleich zu Offshore-Verfahren und Pushbacks.
Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Ghezelbash.
- Interview mit Dr Daniel Ghezelbash
- theconversation.com: "Why Europe shouldn’t follow Australia’s lead on asylum seekers"
- asyluminsight.com: "AUSTRALIA'S OFFSHORE PROCESSING SYSTEM: AN EXEMPLAR FOR THE EU?"