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Annalena Baerbocks Deutschlandreise: Das ist nichts für schwache Nerven


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Baerbocks Krisenfahrt
Das ist nichts für schwache Nerven


Aktualisiert am 22.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Annalena Baerbock: Die Außenministerin will auf ihrer Sicherheitsreise durch Deutschland mit Bürgerinnen und Bürgern in den Dialog treten.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock: Die Außenministerin will auf ihrer Sicherheitsreise durch Deutschland mit Bürgerinnen und Bürgern in den Dialog treten. (Quelle: dpa)

Deutschland hat ein Sicherheitsproblem, das wird nicht erst durch Russlands Krieg gegen die Ukraine deutlich. Aber wie ernst ist die Lage wirklich?

Busfahren hat etwas Erhabenes, selbst in dieser Krisenzeit. Es ist nichts für Eilige. Autobahn, rechte Spur, langsam ziehen Wälder, Seen und große Weiden an den Fahrenden vorbei. Von weit oben über der Straße lassen sich kurze Blicke in andere Autos und selbst in die Kabinen von Lastwagen werfen.

Das Busfahren ist Sinnbild der aktuellen Sicherheitsreise von Außenministerin Annalena Baerbock durch die Bundesrepublik: Deutschland braucht eine Sicherheitsstrategie, und die soll nicht nur in Berlin im Eiltempo entstehen. Denn Bürgerinnen und Bürger können ihre Ideen einbringen – im Dialog mit der Grünen-Politikerin an Orten im ganzen Land, in die sich selten eine Bundesministerin oder ein Bundesminister verirrt. Das Symbol der Reise: ein blauer Bus.

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Eigentlich ist es paradox: Die Welt versinkt im Chaos, und wir fahren Bus. Um 7.55 Uhr, irgendwo in der Stadtmitte von Hannover, sammelt sich vor einem Hotel eine kleine Menschengruppe. Ein Polizeihund schnüffelt an Gepäckstücken, bevor zwei Männer in weißen Hemden die Koffer und Taschen in einen großen Reisebus verladen. Erst steigen die Delegation, das Sicherheitspersonal und die Journalisten in den Bus, dann kommt Baerbock dazu. Der Bus setzt sich in Bewegung, los geht es auf die nächste Etappe der Deutschlandreise der Außenministerin.

Deutschlands Sicherheit wird brüchiger

Der Grund für die Baerbock-Tour im Sommer ist klar: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat auch die Sicherheitslage in Deutschland verändert, und das betrifft uns alle. Die Bundesregierung möchte deshalb bis Ende des Jahres eine Sicherheitsstrategie ausarbeiten – das geschieht unter Federführung des Auswärtigen Amtes, aber alle Ministerien sind beteiligt. Eine Mammutaufgabe.

Und Baerbock? Die Grünen-Politikerin will mit Bürgerinnen und Bürgern bundesweit über Sicherheit reden – in einem Land, das sich viele Jahre eigentlich keine Gedanken über die eigene Sicherheit machen musste. Doch ihre Reise ist nichts für schwache Nerven, denn auf der Tour wird deutlich: Die Sicherheit Deutschlands ist in den vergangenen Jahren immer brüchiger geworden.

Dabei muss man zunächst festhalten: Sicherheit geht weit über die militärische Verteidigungsfähigkeit eines Staates hinaus. Das wird bei der ersten Station der Reise deutlich, in Barleben bei einem Produktionswerk von Sandoz, das zum Pharmakonzern Novartis gehört. Das Unternehmen stellt Medikamente her und gehört zu den wichtigsten Produzenten in Deutschland – laut eigenen Angaben hat es im Jahr 2021 zehn Milliarden Tabletten ausgeliefert.

Angst vor dem Gasstopp

Baerbock wird von der Firmenleitung begrüßt, in der Lobby bekommt sie ein Modell des Geländes gezeigt – natürlich mit Verweis auf die neue Photovoltaikanlage, denn schließlich ist eine grüne Außenministerin zu Besuch. "Darauf sind wir stolz", erklärt Grit Müller, Leiterin des Novartis-Standorts.

Dabei ist das Unternehmen bei der Produktion auf Gas angewiesen. Auch hier habe man Angst davor, dass der russische Präsident Wladimir Putin plötzlich den Gashahn zudreht, berichtet ein Mitarbeiter etwas später. "Dann hätten wir ein Problem." Der Pharmakonzern wirbt deshalb für eine hohe Priorisierung bei der Gasverteilung, sollte es zu einem Notstand in Deutschland kommen.

Aber sollten in einem solchen Fall Pharmakonzerne so viel Gas bekommen, dass sie rund um die Uhr jedes Medikament produzieren können? Auch um diese Frage zu beantworten, braucht es eine Strategie.

Während sich die Außenministerin zu Gesprächen mit der Unternehmensführung zurückzieht, bekommen die Journalisten eine Führung. In der Produktion muss alles steril sein, die Besucherinnen und Besucher bekommen Anzüge, Haarnetze, Überzieher für die Schuhe und müssen durch eine Luftschleuse. Im ersten Stock werden die Medikamente zusammengemischt und die Tabletten gepresst.

Wirkstoffe aus China und Indien

Auch bei Arznei ist Deutschland vom Ausland abhängig. Zwar werden die Medikamente in Europa produziert, aber die Wirkstoffe kommen oft aus China oder Indien. "60 Prozent der von Sandoz verwendeten Wirkstoffe werden in Europa produziert", erklärt ein Pressesprecher von Novartis auf Nachfrage von t-online. Die Generika-Hersteller in Deutschland beziehen allerdings nur 33 Prozent der Wirkstoffe aus Europa. Das ist ein Sicherheitsproblem, denn China ist ein System-Rivale, von dem Deutschland in hohem Maße wirtschaftlich abhängig ist. Auch die Regierung in Indien nimmt immer stärker autokratische Züge an. Es gibt Repressionen gegen die Presse und einen zunehmenden Hindu-Nationalismus.

In einem Konflikt könnte die Versorgungssicherheit zum Problem werden. "Es bräuchte zehn Jahre, damit wir hier Wirkstoffe selbst herstellen könnten", erklärt ein Sprecher des Unternehmens bei der Führung. Derzeit sei das nicht sinnvoll, denn die Wirkstoffproduktion in Deutschland sei gegenüber der Billigproduktion im Ausland nicht konkurrenzfähig. In der neuen Sicherheitsstrategie wird es auch darum gehen, Abhängigkeiten auf so viele Schultern zu verteilen, dass es in Deutschland keine Knappheit gibt – vor allem nicht bei lebenswichtigen Medikamenten.

Der Krieg gegen die Ukraine in Verbindung mit der großen Gasabhängigkeit von Russland hat Deutschland aufgeschreckt. Natürlich überschatten die täglichen Nachrichten auch Baerbocks Deutschlandreise. Auch die Außenministerin handelt in dem Spannungsfeld zwischen der Unterstützung der Ukraine, der Verteidigung der westlich-demokratischen Grundordnung und dem Schutz des Wohlstandes in Deutschland.

"Habe es bewusst sehr zugespitzt"

In diesem sensiblen Feld bleiben Fehler nicht aus. Am Mittwoch hatte die Außenministerin bei einer Veranstaltung des "Redaktionsnetzwerks Deutschland" erklärt: "Wenn wir diese Gasturbine aus Kanada nicht bekommen, dann bekommen wir kein Gas mehr, dann können wir als Deutschland überhaupt gar keine Unterstützung mehr für die Ukraine leisten, weil wir dann mit Volksaufständen beschäftigt sind." Das relativiert sie nun in einem Pressestatement in Barleben. "Ich habe es bewusst sehr zugespitzt formuliert." Sie habe verdeutlichen wollen, warum Deutschland sich gegen ein Komplettembargo für Gas und Öl aus Russland ausgesprochen habe. Man hätte den Menschen in so einem Fall dann "von einem Tag auf den anderen" sagen müssen, dass es kein Gas mehr gebe und das ohne Alternativen, meint die Grünen-Politikerin.

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Nach dem Statement geht es wieder in den blauen Bus, die Reise geht weiter nach Rehau in Bayern. Mittlerweile ist die Wolkendecke verschwunden, die Sonne scheint – doch es hat sich abgekühlt und es sind nicht mehr 40 Grad wie am Vortag. Zum Glück für die Freiwillige Feuerwehr in Rehau, die die Ministerin in Schutzkleidung und in Reih und Glied stehend empfängt.

Baerbock steigt aus, bedankt sich bei den Feuerwehrleuten für ihr Engagement. In dem 9.000-Einwohner-Städtchen arbeiten Kinder, Jugendliche und Erwachsene ehrenamtlich bei der Feuerwehr mit, die mit zahlreichen Leiterwagen besser ausgerüstet ist als die Feuerwehren in so mancher Großstadt. Die Außenministerin lässt sich Ausrüstung zeigen, darf bei einer Rettungsübung zuschauen und wird einmal von einer Drehleiter mit in die Höhe genommen.

Wichtige Säule der Sicherheitsarchitektur

Die Stimmung ist ausgelassen, für die Bürger und Bürgerinnen in Rehau ist der Besuch der Grünen-Politikerin nichts Alltägliches – viele Fotos werden geschossen, Videos gedreht. Auch der Besuch einer Freiwilligen Feuerwehr auf der Deutschlandreise ist kein Zufall. Denn an vielen Orten ist die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger auch von freiwilligem Engagement abhängig. Aber weil viele wegziehen und es oft schwierig ist, Beruf und Ehrenamt zu verbinden, gibt es in einigen Orten große Probleme. Hinzu kommen klamme Kassen in vielen Kommunen.

Das mag angesichts der großen geopolitischen Probleme etwas trivial klingen, ist es aber keineswegs. Es sind viele Freiwillige in Deutschland, die derzeit Waldbrände löschen oder die im vergangenen Jahr bei der Flutkatastrophe im Ahrtal Menschen aus den Strömen zogen. Sie sind eine wichtige Säule für das Sicherheitsfundament in Deutschland, aber bekommen oft weder Geld noch Wertschätzung. Es ist auch Aufgabe der Politik, diese Säule nicht bröckeln zu lassen.

Die Außenministerin geht mit Applaus, zum Abschied winken viele der Rehauer dem blauen Bus nach. Letzte Station dieser Reiseetappe ist Hof. Hier findet in der Freiheitshalle ein Bürgerdialog zur Sicherheitsstrategie statt. Das Auswärtige Amt hatte zuvor zahlreiche Bürgerinnen und Bürger angeschrieben und eingeladen, miteinander über Sicherheitsfragen zu diskutieren.

Baerbock ist als Überraschungsgast geplant, aber als der Bus eintrifft, ist eigentlich klar, dass Hof von dem Besuch Wind bekommen hat. Sogar ein Demonstrant – offenbar ein Skeptiker der Corona-Maßnahmen – ist zu dem Hotel der Grünen-Politikerin gekommen. Er hält sich an einer Laterne fest, steht auf einem Bein, bläst in eine Pfeife und schwenkt die Wirmer-Flagge, die oft von Rechtsextremen zweckentfremdet wird.

Baerbock-Experiment

In der Hofer Freiheitshalle – früher mal der Drehort von "Wetten, dass.. ?" – ist es dann allerdings ein Heimspiel für Baerbock. Kritik an der Politik der Ministerin gibt es kaum, es ist vielmehr ein sicherheitspolitischer Dialog auf sehr hohem Niveau. Das Klima ist freundlich und konstruktiv. Die Anwesenden interessieren sich für aktuell drängende aktuelle politische Fragen und geben Anstöße im Bereich der Integration von Geflüchteten, Cybersicherheit, Vielfaltsgesellschaft und zur Bekämpfung der Klimakrise.

Es sind die Schwerpunkte der Außenministerin, die auch viele in Hof bschäftigen. Baerbock geht auf viele der Vorschläge ein, spricht auch nach der Veranstaltung noch mit Bürgerinnen und Bürgern. In dem Format fühlt sie sich sichtlich wohl, präsentiert sich bürgernah. Lediglich eine Frage bleibt offen: Wie lassen sich jene in den wichtigen Diskurs über eine Sicherheitsstrategie einbinden, die sich bereits von der Politik abgewendet haben? Sie sind am Donnerstagabend nicht anwesend – zumindest bei der Veranstaltung in Hof nicht.

Die Deutschlandreise von Baerbock ist ein Experiment – darüber, wie sich Bürgerinnen und Bürger in diesen Prozess einbinden lassen. Alle, die bei den Diskussionsveranstaltungen dabei waren, werden aufmerksam verfolgen, wie viele ihrer Vorschläge von der Bundesregierung am Ende im fertigen Strategiepapier Berücksichtigung gefunden haben werden. Erst dann lässt sich auch ein Fazit der Deutschlandreise ziehen. Am späten Abend absolviert die Grünen-Politikerin dann ihren letzten Termin an diesem Tag: das EM-Viertelfinale der Frauen, Deutschland gegen Österreich.

Verwendete Quellen
  • Begleitung der Sicherheitsreise von Außenministerin Baerbock
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