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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Talk Anne Will muss bei Baerbock immer wieder nachhaken
Die Außenministerin ließ sich für Anne Wills Talkshow aus Berlin nach Berlin zuschalten. Im Studio ging es um Reisen nach Kiew, Panzer-Erfahrungen und Angst vor einem Atomkrieg.
Das geschieht selten in Talkshows: dass Gäste den Folgen-Titel der jeweiligen Sendung kritisch ansprechen. "Panzer ins Kriegsgebiet – wohin führt Deutschlands Ukraine-Politik?", hatte Anne Wills Redaktion die Ausgabe am Sonntag genannt. Dieser Titel träfe es nicht ganz, weil die jüngsten Regierungsbeschlüsse zu Panzerlieferungen "nicht eine deutsche Entscheidung", sondern eine mit vielen internationalen Partnern gemeinsam getroffene waren, sagte die Außenministerin.
Annalena Baerbock saß nicht im Berliner Studio, sondern war – offenbar ebenfalls aus Berlin – zugeschaltet. Moderatorin Anne Will hielt dagegen: Deutschland habe deutlich länger als viele Partner darüber diskutiert, ob es Panzer liefern soll. Der kleine Disput brachte eine gewisse Schärfe in Wills zwanzigminütiges Solo-Interview mit Baerbock. Die Moderatorin beharrte sogar darauf, dass ihre Fragen bitte beantwortet werden (was sie sonst eher selten tut).
Die Gäste:
- Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin (Grüne)
- Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Verteidigungsausschuss-Vorsitzende (FDP)
- Saskia Esken, SPD-Co-Parteivorsitzende
- Johann David Wadephul, CDU-Bundestagsabgeordneter
- Markus Feldenkirchen, Journalist
Baerbock zeigte sich mit deutlichen Aussagen gewohnt souverän. Putin habe "mit jeglichen Regeln der Menschlichkeit gebrochen", sagte sie etwa. Lassen Putin-Drohungen "schneller Schläge" gegen Staaten, die in Russlands Krieg gegen die Ukraine eingreifen, sie kalt? "Kalt lässt mich in diesen Tagen nichts", antwortete die Grüne. Doch die Gefahren durch Nichthandeln oder "Wegducken" seien ähnlich groß. Die vergangene Woche angekündigten Lieferungen deutscher Panzer an die Ukraine seien auch als "eine Botschaft an die Welt", also an potenzielle andere Aggressoren zu verstehen. Für die schwierige Situation der Regierung hatte Baerbock einen Satz parat, über den sich länger nachdenken ließe: "Wir handeln, obwohl wir hadern, gleichzeitig hadern wir jeden Tag, ob wir genug handeln". Zu den wenigen, widersprüchlich wirkenden Äußerungen von Kanzler Scholz wollte sie nichts sagen: "Streitigkeiten in der Regierung sind jetzt nicht das Hauptthema".
Die westlichen Sanktionen haben nach Angaben von Außenministerin Annalena Baerbock auch den Sinn, Russlands Wirtschaft so zu schwächen, dass es keinen weiteren Krieg beginnen kann. "Natürlich will ich, dass Russland nie wieder einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt", sagte die Grünen-Politikerin. "Durch die Sanktionen sorgen wir dafür, dass ein weiteres militärisches Vorgehen in anderen Regionen aus russischer Kraft allein in den nächsten Jahren nicht möglich ist", fügte sie hinzu. Denn Russland werde durch seinen Angriffskrieg und die westlichen Sanktionen so geschädigt, dass das Land "auf Jahre" nicht wieder auf die Beine kommen werde. Präsident Wladimir Putin schwäche also sein eigenes Land entscheidend.
Baerbock hatte Reise nach Kiew schon geplant
Ein Detail konnte Will Baerbock noch entlocken: Eigentlich habe die Außenministerin nach Bekanntwerden des Massakers in Butscha eine Ukraine-Reise geplant, dann aber beschlossen, erst nach dem Besuch des Bundespräsidenten zu reisen. Durch Steinmeiers Ausladung wurde Baerbocks im Prinzip weiter geplante Reise also auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wenn nun CDU-Oppositionsführer Merz eine Reise nach Kiew ankündigte, sollte dann der Bundeskanzler nicht erst recht dorthin fliegen? So leitete Will die Diskussion der Viererrunde im Studio ein. "Das ist ja keine Kaffeefahrt", bei der es drauf ankomme, wer zuerst hinfährt, antwortete FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die bereits ins ukrainische Lwiw gereist ist (und kürzlich bei "Markus Lanz" darüber berichtet hatte). Ohnehin sollten Vorbereitungen solcher Reisen aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich stattfinden.
Auch Scholz habe eine geplante Ukraine-Reise derjenigen Steinmeiers untergeordnet, sagte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. "Scholz hat die Chance, ein Symbol zu setzen, schon jetzt verpasst", hielt Markus Feldenkirchen dagegen. Der Journalist von "Spiegel" schien verärgert, dass Scholz im Interview des Magazins vor anderthalb Wochen Positionen zu Waffenlieferungen vertreten hatte, die er wenige Tage später revidierte. Des Kanzlers "Unfähigkeit, seine Schritte zu erklären", sei ein "Riesenproblem".
Lob für Scholz von Strack-Zimmermann
Was SPD-Chefin Esken mit einer militärischen Metapher zurechtrücken wollte: Deutschland handele "immer im Geleitzug mit den internationalen Partnern". CDU-Parlamentarier Johann David Wadephul wollte Gelegenheiten, die SPD zu kritisieren, natürlich nutzen. Die Düsseldorferin Strack-Zimmermann (die sich wieder die meisten Wortanteile sicherte), lobte Scholz' kämpferisch gegen Protestrufe gehaltene Rede am Sonntag in Düsseldorf – und bemerkte zu der Diskussion um Panzerlieferungen treffend: "Inzwischen ist ja ganz Deutschland im Waffenfieber."
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Tatsächlich konnte Wadephul dann noch von seinen eigenen Bundeswehr-Erfahrungen mit Gepard-Panzern berichten, die nun an die Ukraine geliefert werden sollen. Da handele es sich um ein gutes, allerdings nicht leicht bedienbares Waffensystem, das der Ukraine "erst im Herbst, im frühen Winter" helfen würde. Schneller würden andere Panzertypen helfen, "vielleicht ein Marder". Solche Planungsfehler geschähen "nicht immer böswillig", sagte Wadephul, vielleicht seien sie ja der "Unerfahrenheit der Verteidigungsministerin" geschuldet – was doch ein wenig böswillig klang.
Wadephul: "Putin hört mit"
Kurzum: Ohne Baerbock bot die Talkshow einen Austausch bekannter parteitaktischer Positionen, der angesichts der Weltlage kleinlich anmutete, zumal alle Studiogäste in Waffenlieferungsfragen ähnlicher Meinung waren. Dabei zeigten die "ARD Deutschlandtrend"-Meinungsumfragen, die Anne Wills wiederholt zitierte, kein so eindeutiges Bild.
Noch mal Fahrt nahm die Sendung erst am Ende auf, als Feldenkirchen behauptete, in der SPD-Bundestagsfraktion sei eigentlich eine Mehrheit gegen die Lieferung schwerer Waffen, und Wadephul Kanzler Scholz' Warnungen vor einem Atomkrieg als "schweren politischen Fehler" bezeichnete: "Putin hört mit", setzte der CDU-Mann zu einer Argumentation an. "Hamburg hört auch mit", würgte Will ab und schaltete zu den "Tagesthemen", deren Moderator in Hamburg wartete.
- "Anne Will" vom 1. Mai 2022