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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chemiewaffenangriff in Mariupol? "Das ist kein großer Gamechanger"
Die Vorwürfe sind schwer: Russland soll Chemiewaffen in Mariupol eingesetzt haben. Doch was lässt sich über den angeblichen Angriff überhaupt sagen – und welche politischen Konsequenzen hätte er?
Inhaltsverzeichnis
- Wie lauten die Vorwürfe?
- Welche Substanz soll eingesetzt worden sein?
- Wie wahrscheinlich ist ein solcher Angriff?
- Hat Russland in der jüngeren Vergangenheit schon Chemiewaffen eingesetzt?
- Kann man Chemiewaffen einer Kriegspartei zuordnen?
- Wie geht es jetzt weiter?
- Könnte es jetzt zu größeren Chemiewaffenangriffen kommen?
Sollten die Vorwürfe stimmen, wäre es ein weiteres eklatantes Kriegsverbrechen: Nach ukrainischen Angaben sollen russische Streitkräfte in der umkämpften Hafenstadt Mariupol mit hoher Wahrscheinlichkeit Chemiewaffen eingesetzt haben. Ein Überblick über den Stand der Erkenntnisse:
Wie lauten die Vorwürfe?
Am Montagabend berichtete das ukrainische Asow-Regiment auf Telegram, eine unbekannte Substanz sei mit einer Drohne über dem Stahlwerk Asow-Stahl in Mariupol abgeworfen worden. Dort hatten sich ukrainische Streitkräfte verschanzt. Den Asow-Angaben zufolge könnte es sich um Giftgas handeln. Demnach litten drei getroffene Personen unter Atembeschwerden und neurologischen Problemen.
Batallionsgründer Andrij Biletsky sagte in einer Videobotschaft: "Drei Menschen haben deutliche Anzeichen einer Vergiftung durch Kriegschemikalien, aber ohne katastrophale Folgen."
Auch die ukrainische Abgeordnete Iwanna Klympusch-Zynzadse hatte auf Twitter erklärt, Russland habe in Mariupol eine "unbekannte Substanz" eingesetzt und die Menschen litten an Atemnot. "Wahrscheinlich Chemiewaffen!", schrieb sie.
Welche Substanz soll eingesetzt worden sein?
Auf Twitter und Telegram ging am Dienstag das Gerücht um, es handle sich um einen Angriff mit dem Nervenkampfstoff Sarin. Beweise gibt es dafür keine. Der Chemiewaffenexperte Marc-Michael Blum schließt das gegenüber t-online jedoch aus: "Nervenkampfstoffe wie Sarin sind dazu da, um zu töten. Die beschriebenen Symptome passen auch nicht. Dann hätten die getroffenen Menschen Dinge wie Speichelfluss, Tränenfluss, Krämpfe, starkes Schwitzen oder spontanes Urinieren."
Auch die Schilderungen von Betroffenen in der Asow-Videobotschaft legen eine andere Vermutung nahe: dass die Menschen dem Zinkchlorid-Nebel einer Nebelgranate ausgesetzt waren. Die Betroffenen berichten unter anderem von weißem Rauch, Fieber und einem süßlichen Geschmack. Dies passe zusammen, so Blum auf Anfrage. Solche Nebelgranaten seien per se nicht verboten, solange sie tatsächlich nur als Signal- oder Tarnmittel verwendet werden. Der gezielte Einsatz der giftigen Eigenschaften des Nebels hingegen ist verboten – auch wenn es sich dabei nicht um eine Chemiewaffe handele.
Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar äußerte am Dienstag im Fernsehen noch eine andere Theorie: "Es könnte sich um Phosphormunition handeln." Offizielle Angaben würden zu einem späteren Zeitpunkt folgen.
Chemiewaffen gehören zu den Massenvernichtungswaffen. Sie können gezielt dazu eingesetzt werden, Verletzungen, Krankheiten oder den Tod von Menschen herbeizuführen. Beispiele sind unter anderem Blausäure, Chlorgas oder Senfgas. Chemiewaffen sind durch eine Konvention der Vereinten Nationen und damit völkerrechtlich verboten. Diese Verbote beziehen sich auf den Einsatz, die Herstellung und den Besitz derartiger Kampfstoffe. Die Einhaltung des Verbots wird von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) überwacht.
Wie wahrscheinlich ist ein solcher Angriff?
Die bisherigen Informationen reichten nicht aus, um Schlüsse auf einen tatsächlichen Angriff zu ziehen, sagt Chemiewaffenexperte Blum. "Wir haben fast gar keine Beweise." Er hält einen solchen Angriff allerdings für plausibel: "In Mariupol könnte ein Chemiewaffenangriff für die Russen Sinn ergeben, weil es aufgrund der geplanten Offensive in der Ostukraine extrem gut für die russische Seite wäre, wenn sie dort die ukrainischen Widerstandnetze so schnell wie möglich ausschalten könnte."
Allerdings sei der aktuelle angebliche Angriff dafür eigentlich zu klein – er sorge zunächst einmal nur für noch mehr Angst. "Aber Angst haben die ukrainischen Soldaten sowieso, sie stehen ja jeden Tag an der Front und müssen damit rechnen, dass sie sterben. Das ist kein großer Gamechanger", so Blum.
Zudem weist der Experte darauf hin, dass die Stadt ohnehin seit Wochen unter massiven anderweitigen Angriffen stehe: "Da brennt es an jeder Ecke." Gesundheitliche Probleme könnten auch aufgrund der Verbrennungsgase auftreten. "Da ist auch so genug Gift in der Luft." Daher bestehe die Möglichkeit, dass die ukrainischen Kräfte dies auf einen Chemiewaffenangriff zurückführen würden, ohne dafür Beweise zu haben.
Dr. Marc-Michael Blum ist Chemiker und promovierter Biochemiker. Er ist auf die Erkennung von und den Schutz vor Chemie- und Biowaffen spezialisiert. Von 2012 bis 2019 arbeitete er im Labor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), das er ab 2017 leitete. Im Jahr 2018 führte Blum die OPCW-Ermittlungen zum Fall Skripal in Großbritannien an. Derzeit leitet er eine wissenschaftliche Beratungsfirma in Hamburg.
Die Vorwürfe der Ukrainer folgen auf Äußerungen zu einer möglichen chemischen Bewaffnung der prorussischen Kräfte in der Region. Die Lage in Mariupol hat sich in den vergangenen Tagen zugespitzt. Der Militärsprecher der prorussischen Separatisten von Donezk, Eduard Bassurin, sagte am Montag, eine Einnahme der unterirdischen Befestigungen auf dem Fabrikgelände von Asow-Stahl wäre zu verlustreich. Deshalb solle man auf chemisch bewaffnete Truppen setzen.
Die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti zitiert Bassurin mit der Aussage, die Separatisten könnten sich "an chemische Truppen wenden, die einen Weg finden werden, die Maulwürfe in ihren Löchern auszuräuchern". Am Dienstag bestritt Bassurin, dass die prorussischen Kräfte Chemiewaffen eingesetzt hätten, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax meldet.
Hat Russland in der jüngeren Vergangenheit schon Chemiewaffen eingesetzt?
Russland wird immer wieder in Verbindung mit dem Einsatz von Chemiewaffen im Syrienkrieg gebracht. Allerdings wurden die Angriffe mit Giftgas damals nicht von Russland, sondern nachweislich von der syrischen Regierung verübt. Russland duldete und deckte diese brutalen Angriffe jedoch und beschuldigte, wie auch das syrische Regime von Baschar al-Assad, die Rebellen.
Zudem wird international davon ausgegangen, dass der britisch-russische Doppelagent Sergej Skripal im Jahr 2018 ebenso wie Kreml-Kritiker Alexej Nawalny 2020 in russischem Auftrag mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet wurden. Moskau dementiert dies.
Experte Blum weist noch auf einen weiteren Vorfall hin: 2002 stürmten 40 tschetschenische Kämpfer die Musicalvorstellung "Nord-Ost" im Moskauer Dubrowka-Theater. Sie nahmen mehr als 800 Menschen als Geiseln. Bei der Befreiungsaktion drei Tage später leiteten russische Sicherheitskräfte ein Betäubungsgas über die Lüftungsschächte in das Theater, um so die Geiselnehmer auszuschalten. Tatsächlich wurden alle Angreifer bei der Erstürmung des Saals getötet. An den Folgen des Betäubungsgases starben aber auch etliche der als Geiseln genommenen Theaterbesucher.
Moskau habe ein Interesse an solchen Mitteln, mit denen man viele Menschen schnell außer Gefecht setzen könnte, sagt Blum. Der Einsatz einer ähnlichen Substanz hält er im Ukraine-Krieg für wahrscheinlicher als den eines Nervenkampfstoffes wie Sarin oder Nowitschok.
Kann man Chemiewaffen einer Kriegspartei zuordnen?
"Wir haben das Problem, dass aufgrund der aktuellen Situation in Mariupol niemand in der Lage ist, vor Ort nachzuprüfen, was passiert ist", so Blum. Für die Ukrainer sei nahezu unmöglich, in der aktuellen Situation Beweismittel aus Mariupol herauszubringen. Sollte Mariupol in den nächsten Tagen tatsächlich an die russische Armee fallen, werde diese zudem alles daran setzen, einen eigenen Chemiewaffenangriff zu vertuschen. Für Teams der internationalen OPCW sei es derzeit zu gefährlich, vor Ort Proben zu sammeln.
Und selbst wenn dies im Nachgang noch möglich sein sollte, wäre das nur begrenzt aussagekräftig, erklärt er. "Die chemisch-analytische Seite ist für die Zuordnung eines Angriffs immer nur ein Teil. Wenn man das mit einem Kriminalfall vergleich, liefert die Chemie vielleicht das Ergebnis, aus welcher Waffe die Patrone kam, aber Sie wissen immer noch nicht, wer die Waffe abgefeuert hat." Nur in Zusammenspiel mit anderen Beweisen, wie Zeugenaussagen oder Bildmaterial, könne eine eindeutige Zuordnung erfolgen. "Es bleibt definitiv die Möglichkeit, dass es nicht aufgeklärt werden kann."
Wie geht es jetzt weiter?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte noch am Montag auf die Drohung der prorussischen Separatisten. "Wir nehmen das höchst ernst", sagte er in seiner nächtlichen Videoansprache. Ein möglicher Chemiewaffenangriff sollte für ausländische Staaten Anlass sein, noch härter auf die russische Aggression zu reagieren, sagte Selenskyj.
Die westlichen Staaten warnten Moskau vor den Konsequenzen, sollte Russland in der Ukraine Chemie- oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen. Großbritannien arbeite an der Verifizierung der Berichte, schrieb die Außenministerin Liz Truss auf Twitter. Auch ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sprach von "sehr besorgniserregenden" Informationen, sollten diese wahr sein.
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Chemiewaffenexperte Blum glaubt jedoch nicht, dass ein Angriff, wie er jetzt den Russen vorgeworfen wird, weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen würde. Es handle sich zwar um ein Kriegsverbrechen, aber doch um einen "sehr begrenzten und auch sehr kleinen Angriff, wenn er denn stattgefunden hat", sagt er. "Die Konsequenzen, die der Westen angedroht hat, müssten proportional sein zu der Größe des tatsächlichen Angriffs."
Innerhalb des Chemiewaffenübereinkommens der Vereinten Nationen seien die Möglichkeiten ohnehin sehr begrenzt – dieses verlässt sich auf den UN-Sicherheitsrat, wo Russland ein Vetorecht hat. "Was man versuchen würde, ist, Russland auf der internationalen Bühnen gegenüber den Ländern zu delegitimieren, die sich entweder neutral verhalten oder sogar noch zu Russland stehen." Dass die Nato militärisch in den Krieg eingreifen würde, sollten sich die Vorwürfe bestätigen, glaubt er nicht.
Könnte es jetzt zu größeren Chemiewaffenangriffen kommen?
Offiziell verfügt Russland nicht über größere Bestände an Chemiewaffen. Doch die Behauptungen der prorussischen Separatisten zu chemisch bewaffneten Truppen lassen Experte Blum stutzig werden. "Es ist nicht selbstverständlich, dass es solche Truppen überhaupt gibt", gibt er zu bedenken. Rhetorische Aufrüstung gehöre zwar zum Krieg dazu. Allerdings wäre schon der Besitz von Chemiewaffen ein Kriegsverbrechen, das von russischer Seite derzeit nicht dementiert werde.
Sollten die russischen Streitkräfte tatsächlich über illegale Chemiewaffen verfügen, hält Blum kleinere Angriffe, die sich gut verschleiern ließen, am ehesten für möglich. Ein groß angelegter Angriff mit chemisch bewaffneten Raketen sei dagegen unwahrscheinlich.
Von ukrainischer Seite seien die Herstellung und der Einsatz von potenten Chemiewaffen fast auszuschließen, sagt Blum: Dafür mangele es dem Land schlicht an Fähigkeiten.
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Dr. Marc-Michael Blum
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP, Reuters