Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Talk bei "Anne Will" Grünenpolitikerin stellt sich bei Gas-Embargo gegen SPD-Chef
Sofortiges Energie-Embargo gegen Russland? Zu dieser Frage bildeten sich bei "Anne Will" bemerkenswerte Allianzen: Eine Grüne und eine Wirtschaftsweise votierten dafür, SPD-Chef Lars Klingbeil und CSU-Chef Markus Söder vereint dagegen.
Anne Will wollte ohnehin über die Frage diskutieren, ob Deutschland sofort den Import von russischem Öl und Gas stoppen sollte – durch die gestern bekannt gewordenen Gräueltaten der russischen Armee in Butscha gewann das Thema noch zusätzliche Brisanz.
Am engagiertesten sprach sich die Grünen-Politikerin Marieluise Beck, gerade von einer viertägigen Kiew-Reise zurückgekehrt, für diese radikale Maßnahme aus. "Wir müssen aufhören, die Kriegskasse von Putin zu füllen", forderte sie und machte sich zugleich dafür stark, "endlich den Himmel über der Ukraine zu schließen". Wenn die Nato das nicht tun wolle, müsse eben die Ukraine selbst durch Lieferung von Flugzeugen und modernen Luftabwehrsystemen dazu in die Lage versetzt werden.
Die Gäste
- Lars Klingbeil, SPD-Vorsitzender
- Markus Söder, CSU-Vorsitzender und bayerischer Ministerpräsident
- Veronika Grimm, Wirtschaftswissenschaftlerin
- Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen), Parlamentarische Staatssekretärin a.D.
- Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der "Welt"
Zwar konzedierte die Parlamentarische Staatssekretärin a.D., "dass das keine leichte Entscheidung für meine politischen Freunde" in der Regierung sei, aber was sich in der Ukraine abspiele, sei "so unvorstellbar", dass "wir vielleicht noch mal neu denken müssen, was wir aushalten können".
Ihr widersprach der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil: "Ich verstehe die Emotionalität, aber ich halte ein sofortiges Gas-Embargo aus vielen Gründen für einen falschen Weg." Er verteidigte die Regierungspolitik aus Sanktionen und Waffenlieferungen, nahm für die Ampelkoalition in Anspruch, bereits erfolgreich zu handeln ("wir drehen jeden Tag den Gashahn ein Stück weiter zu"), und stellte infrage, ob ein Embargo überhaupt dazu führen würde, dass Putin den Krieg stoppe. "Die Ukraine hat nicht mehr viel Zeit", schleuderte ihm da Marieluise Beck entgegen und fällte ein vernichtendes Urteil über die deutschen Maßnahmen: "Es bleibt zu spät und zu wenig."
Robin Alexander: "Die Verbündeten tun mehr"
Die weiteren Diskussionsteilnehmer gruppierten sich in bemerkenswerten Allianzen um diese Positionen. Während "Welt"-Journalist Robin Alexander der Grünen-Politikerin beipflichtete ("die Verbündeten tun mehr") und insbesondere die Sanktionen als "falsch rum konstruiert" kritisierte ("wir haben den Bereich rausgehalten, der genau in den Machtapparat geht"), erklärte der aus München zugeschaltete CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder gleich zweimal, er sei da "bei Herrn Klingbeil" und "da bin ich ein Stück weit bei der Bundesregierung".
Söder will Ausstieg aus Atomausstieg
Zwar streute er Spitzen gegen die Verteidigungsministerin ein ("überfordert") und sprach sich anders als Klingbeil für einen Ausstieg aus dem Atomausstieg aus. Er schloss sich aber der Einschätzung des SPD-Vorsitzenden an, dass ein umfassendes Energie-Embargo "große Teile der deutschen Wirtschaft aus der Bahn werfen würde" und unmöglich "für morgen" zu organisieren sei. Es gelte, "auch die Folgen für Millionen von Arbeitsplätzen und Existenzen in Deutschland" zu sehen.
Wissenschaftlerin Grimm: Deutschland kann Embargo verkraften
Speziell zu dieser Frage war die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm eingeladen, die den Standpunkt vertrat, Deutschland könne ein solches sofortiges Embargo "verkraften" – wobei sie "verkraften in den Kontext setzen" wollte: Ein unmittelbarer Energie-Importstopp aus Russland "würde einen tiefen Wirtschaftseinbruch nach sich ziehen", räumte sie ein, Schätzungen beliefen sich auf minus 2,5 bis minus 6 Prozent.
Es würden dann staatliche Hilfen wie in der Corona-Pandemie und auch Kurzarbeit nötig werden. Dennoch mache die russische Aggression ihrer Meinung nach "eine sehr konsequente Reaktion" erforderlich. Russland und China würden sich genau angucken "wie wir reagieren", und wenn die Reaktion nicht hart sei, könne das auch "eine Einladung" sein.
Im Gegensatz zu Klingbeil – und zu Bundeskanzler Olaf Scholz, der vor einer Woche in der Sendung zu Gast war – zeigte sich die Wirtschaftsweise auch sehr wohl überzeugt davon, dass "unsere Zahlungen dem Regime Putin erlauben, doch vieles weiter zu finanzieren, was sonst nicht finanzierbar wäre". Schließlich habe Deutschland seit Kriegsbeginn rund 20 Milliarden Euro an Russland überwiesen.
Grimm wies darauf hin, dass es "ja auch Zwischenschritte" gebe, etwa, nur ein Öl-Embargo zu verhängen, das leichter umsetzbar sei und fast die Hälfte der russischen Einnahmen beträfe. Da hatte sie wieder Marieluise Beck auf ihrer Seite, die noch einmal "einen kurzen, harten Schnitt" forderte, der zusammen mit "guter Bewaffnung" der Ukraine auch ein "psychologischer Schock" für Putin wäre: "Hoppla, der Westen ist nicht der dekadente, softe Westen, von dem ich immer rede." Stellten wir uns ihm nicht entgegen, werde er stattdessen die Ukraine zerstören und dann mit Moldawien, Georgien und dem Baltikum weitermachen.
Auf der einen Seite eine Grüne und eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die im Verbund mit einem "Welt"-Journalisten beherztere Sanktionen und mehr Waffenlieferungen fordern, auf der anderen ein CSU-Ministerpräsident und ein SPD-Vorsitzender, die unisono zu Vorsicht mahnen und vor den Folgen warnen: Diese "Anne Will"-Ausgabe zeigte nicht nur, wie komplex die politische Lage sich darstellt, sondern auch, dass die vielbeschworene "Zeitenwende" wohl längst auch die althergebrachten Grenzlinien zwischen den politischen Lagern erfasst hat.
- "Anne Will" vom 3. April 2022