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Zum journalistischen Leitbild von t-online.US-Präsident Biden eint den Westen Der 79-Jährige in der Form seines Lebens
Joe Biden war bislang kein besonders erfolgreicher US-Präsident. Doch bei seiner jüngsten Europareise zeigt sich einmal mehr: Er nutzt die Chance, die der Ukraine-Krieg dem Westen bietet.
Es gibt Zahlen, die werden dem Teufel zugeschrieben. Aber die "Number of the Beast" ist an diesem bedeutsamen Tag in Brüssel nicht etwa die 666, sondern die 800-002. Zu lesen ist sie auf dem Nummernschild von Joe Bidens Präsidenten-Limousine, die in den USA auch "The Beast" genannt wird. Die Ziffern aber bringen kein Unglück und Joe Biden tritt auch nicht als Anti-Christ auf, sondern vielmehr wie ein Heilsbringer.
Nach Jahren der Uneinigkeit bringt der 79-jährige US-Präsident die lange Zeit so geschundene Nato zusammen, wie wohl noch nie in deren 73-jähriger Geschichte. Als das multilaterale Militärbündnis 1949 gegründet wurde, war Joe Biden gerade sechs Jahre alt. "Niemals war die Nato geeinter als heute", sagt er im Brüsseler Hauptquartier.
Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, als der US-Präsident vor dem weiträumig abgesperrten Gebäude aus dem schwarz gepanzerten "Beast" steigt, von dem oft gleich mehrere Versionen durch die Stadt fahren, um etwaige Anschläge zu erschweren. Auch Joe Biden strahlt. Anders als im US-Kongress ist er hier in Europa ausschließlich von Freunden umgeben.
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Er schüttelt die Hände des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, der wegen des Ukraine-Kriegs seine eigentlich schon endende Amtszeit gerade für weitere anderthalb Jahre verlängert bekommt. Biden lässt sich herzen vom britischen Premierminister Boris Johnson. Dem französischen Präsidenten gibt er sogar einen freundschaftlichen Knuff mit der Faust auf die Brust. Emmanuel Macron gehörte noch 2019 angesichts der Zerwürfnisse mit Donald Trump und der desolaten Syrien-Strategie zu den härtesten Kritikern der Nato. "Hirntot" sei das Bündnis, strategisch und politisch.
Mit Hirn und Herzblut
Es ist nicht Joe Biden alleine, der dem Militärbündnis, dem G7-Format und auch der Europäischen Union das Hirn zurückgibt. Es ist eine organische Gemeinschaftsleistung mit vielen Windungen. Hinzu kommt buchstäblich jede Menge Herzblut, vorgetragen vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Per Video wird er wie schon in so vielen Parlamenten in den vergangenen Wochen auch im Nato-Treffen zugeschaltet. Selenskyj erzählt von "einem Monat des heldenhaften Widerstands", von "einem Monat des dunkelsten Leidens". Und vom strahlenden Volk der Ukrainer, das, kämpfend in der "Grauzone zwischen dem Westen und Russland", die globale Sicherheitsarchitektur verteidige. Kurz darauf heulen in Kiew wieder die Sirenen.
Die Einigkeit der westlich geprägten Bündnisse, Formate und Institutionen, sie ist teuer erkauft. Nicht nur mit steigenden Erdgas- und Benzinpreisen, nicht nur mit Rekordinflationen und milliardenschweren Waffenlieferungen. Bezahlt wird sie unfreiwillig auch mit dem Leben von Tausenden Ukrainern – von stolzen Vätern, liebenden Müttern, trauernden Söhnen und singenden Töchtern.
Im von Joe Biden schon seit Monaten beschworenen Kampf zwischen Demokratien und Autokratien hat sich der russische Autokrat Wladimir Putin freiwillig und endgültig auf die falsche Seite der Geschichte geschlagen. Der einst demokratisch gewählte Präsident verrät dafür selbst das eigene Volk.
Das Ende angeblicher Gewissheiten
In seinem brutalen Krieg fällt es jeden weiteren Tag leichter, selbst als unumstößlich geltende Gewissheiten zu überwinden. Deutschland diskutiert sogar wieder über den Atomausstieg. Sollte es gar nicht anders gehen, wäre wohl selbst der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck bereit, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern. Hauptsache, Putin bekommt keinen weiteren Rubel mehr, um seine Mordmaschinerie zu finanzieren. So könnte er aussehen, der Anfang einer wertegeleiteten Außen- und Wirtschaftspolitik.
Die nächste Lücke für den Kreml, die geschlossen werden soll, ist vorerst aber das Gold. Russland versucht seit Beginn der harten Sanktionen seine abstürzende Währung zu stabilisieren, indem es seine Goldreserven auf den Märkten dieser Welt verkauft. In einem Hintergrundgespräch des Weißen Hauses wird in Brüssel an diesem Tag betont, wie wichtig darum die Einigung der G7-Staaten sei, diese Verkäufe gemeinsam zu verbieten. "Wir müssen das als G7 tun, damit es effektiv ist", so eine hohe US-Regierungsbeamtin.
Das Wiederentdecken der Verantwortung
Es sind Beispiele der Einigkeit wie diese, die an diesem Tag in Brüssel zeigen, dass es nur mit konsequenter Zusammenarbeit zu schaffen ist, Russland daran zu hindern, die schon beschlossenen Sanktionen immer wieder zu umgehen. "Sanktionen schrecken niemals ab", schleudert Joe Biden am Abend einer US-Journalistin entgegen, die ihn fragt, ob er wirklich glaube, dass er Putins Verhalten damit positiv beeinflussen könne. Es gehe bei Sanktionen darum, einem Gegner so lange Schmerzen zuzufügen, bis der gar nicht mehr anders kann, als aufzugeben, sagt Biden.
Vielleicht ist diese Sicht das wichtigste Verdienst des US-Präsidenten im Ukraine-Krieg und die entscheidende Lehre: Viele demokratische Staaten dieser Welt saßen der falschen Annahme auf, mit Handel auch Wandel herbeizuführen. Es war zugleich die willkommene Ausrede dafür, mit korrupten, mörderischen und menschenverachtenden Regimen günstige Geschäfte zu machen. Im Konfliktfall folgte fast immer die nächste Ausrede: Das können wir nicht machen, das schadet unserer Wirtschaft und vernichtet Arbeitsplätze.
Joe Biden zeigt, dass man die wirtschaftliche Macht brutaler Herrscher nicht ohnmächtig hinnehmen muss. Im Spiel der wechselseitigen Abhängigkeiten dreht der US-Präsident quasi im Alleingang den Spieß herum. Er zeigt auf einen Ausweg des Westens aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit. Selbst Chinas Präsidenten Xi Jinping erinnerte er neulich in einem fast zweistündigen Telefonat eindringlich an die möglichen Konsequenzen. "Ich habe nicht gedroht", betont Biden in Brüssel. Richtiger wäre zu sagen, dass er es nicht so nennen möchte.
Die Partner der USA folgen. Einer nach dem anderen. Selbst das irgendwie störrisch wirkende Deutschland, das es sich vielleicht viel zu lange bequem einrichten konnte in einer profitablen Grauzone aus lukrativen Produktexporten und preiswerten Rohstoffimporten – garniert mit den militärischen Sicherheitsgarantien der Amerikaner. Ein selbstbewusstes außenpolitisches Konzept sieht nur eben anders aus.
Anpacken und Vertrauen
Aber es bewegt sich was. Ausgerechnet der deutsche Kanzler kam in Brüssel zu spät zum symbolträchtigen Familienfoto der Nato. Olaf Scholz hing noch in Berlin fest. Der Koalitionsausschuss dauerte länger als geplant. Es ging darum, wie die sozialen Folgen der Sanktionen gegen Russland abgefedert werden könnten. Scholz war das wichtig. Herausgekommen ist ein Paket, das sich nach Meinung vieler zumindest sehen lassen kann. Wenn nur die Schulden nicht wären.
Im historischen Gruppenbild der Nato-Staats- und -Regierungschefs ist dafür jetzt kein deutscher Bundeskanzler rechts neben Emmanuel Macron zu sehen. Dafür ein König mit Vornamen Rüdiger. Beim Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Nordatlantikrat hängt das Jackett etwas schief, so eilig erklärte er sich bereit, den Kanzler zu vertreten. Die Bündnispartner hatten nichts dagegen.
Auch das gehört vielleicht zur neuen Einigkeit des Westens: Alle scheinen anzupacken. Und die Partner vertrauen einander. Symbolik ist wichtig, aber echtes Handeln ist wichtiger. Wenn Olaf Scholz trotz anfänglichen Fehlens stattdessen einen gesellschaftlichen Grundstein gelegt hat, um vielleicht schon bald die Erdgasimporte aus Russland einzustellen, war es das diplomatische Malheur womöglich wert.
Ein Biest, das isoliert ist
Noch an diesem Freitag will Joe Biden jedenfalls seine gemeinsam mit der EU erarbeitete Flüssiggas-Strategie vorstellen. Mit direkten LNG-Lieferungen aus den USA sollen die Europäer zumindest schneller als bisher gedacht von den Pipelines aus dem Osten unabhängiger werden und die Ukraine womöglich irgendwann wieder friedlicher und freier.
Bevor der US-Präsident am Sonntag zurück nach Washington fliegt, verbringt er das Wochenende in Polen. Auch dieser Besuch ist mehr als reine Symbolik. Joe Biden besucht die soeben noch mal aufgestockten US-Truppen an der Ostflanke der Nato. In einem Camp von ukrainischen Flüchtlingen kann er den Amerikanern zu Hause zeigen, wie notwendig seine Entscheidung ist, dass die USA nun ebenfalls bereit sind, bis zu 100.000 Ukrainer aufzunehmen.
Auch 100.000 ist eine Zahl, mit der Joe Biden eben kein Unheil verspricht, sondern zumindest ein wenig Hoffnung in einer für viele Menschen ausweglos scheinenden und furchtbaren Situation.
"The Beast" taugt darum derzeit statt für eine Präsidenten-Limousine besser für einen Mann, der offenkundig kein Erbarmen kennt. Er sitzt nicht mehr zwischen Freunden, sondern zunehmend isoliert und blockiert im Moskauer Kreml. Sein Name ist Wladimir Putin.
- Eigene Recherchen vor Ort