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Ukraine-Krieg | Flüchtlinge an der polnischen Grenze: "Damit war zu rechnen"


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Flüchtlinge aus der Ukraine
"Putin bringt sie alle um"

Von F. Holewik und M. Körner (Fotos), Medyka

Aktualisiert am 27.02.2022Lesedauer: 7 Min.
Freiwillige in einem Bunker in Kiew: Viele Menschen flüchteten aus dem Land, andere suchen Zuflucht in Bunkern, Kellern und Tiefgaragen.Vergrößern des Bildes
Freiwillige in einem Bunker in Kiew: Viele Menschen flüchteten aus dem Land, andere suchen Zuflucht in Bunkern, Kellern und Tiefgaragen. (Quelle: Chris McGrat/getty-images-bilder)
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An der polnisch-ukrainischen Grenze kommen minütlich Geflüchtete an. Hinter jedem müden Gesicht verbirgt sich eine Lebensgeschichte, in der Putins Angriffskrieg eine jähe Zäsur ist. Ein Besuch vor Ort.

Ein kleines Mädchen mit schwarzer Bommelmütze lehnt an einem Betonblock und arbeitet konzentriert an ihrem Ausmalbild. Um sie herum stehen Tüten und Koffer, auf einem liegt ein großes, pinkes Plüscheinhorn. Marianna schaut auf ihre Tochter, sie ist erleichtert, dass sie wieder vereint sind. Sie selbst war gerade in Polen, als der Krieg in der Ukraine begann. Seitdem musste sie um ihre Tochter bangen, die sich gemeinsam mit der Großmutter auf den Weg in das Nachbarland gemacht hatte. Die sonst kurze Fahrt aus Lwiw dauerte einen ganzen Tag.

"Putin bringt sie alle um", sagt Marianna. Aus ihrem Blick sprechen Wut und Frustration. Viele Freunde und Verwandte seien in der Ukraine geblieben. Einige hätten sich in ländliche Regionen begeben, hoffen dort sicher zu sein. Marianna traut dem nicht. "Ich fürchte, dass Putin seine Angriffe noch ausweitet", sagt sie.

Nun wollen sie bei Freunden in Tschechien unterkommen und warten darauf, abgeholt zu werden. Als wir nach mehreren Stunden wieder an der Essenausgabe vorbeikommen, warten die drei noch immer auf die Freunde. Der Verkehr an der Grenze ist zäh, sich zwischen den Menschenmengen zu finden, ist schwierig.

"Ich suche unsere Mitarbeiter"

Ein junger Mann mit blauer Regenjacke eilt durch die Menschenmenge. Er schaut sich nach allen Seiten um, wirkt gestresst. In der Hand hält er zwei ausgedruckte DIN-A4-Blätter. Darauf steht der Name einer Softwarefirma und "Fahrt nach Warschau". "Ich suche nach unseren Mitarbeitern. Wir haben 250 Leute in unseren ukrainischen Büros. Viele von ihnen sollen heute hier über die Grenze kommen. Wir haben für sie einen Flug von Warschau nach Bulgarien reserviert, aber bisher konnte ich noch keinen von ihnen finden", erzählt er. Es ist bereits früher Nachmittag und Warschau mehrere Autostunden entfernt.

Die Grenzkontrollen ziehen sich in die Länge. Vor dem Übergang stauen sich die Autos kilometerweit. Viele Geflüchtete berichten, dass sie ihre Autos in der Nacht haben stehen lassen und sich zu Fuß durchgekämpft haben. Ein Fußmarsch von mehreren Stunden, oft mit Gepäck und kleinen Kindern. Erschöpft schleifen sie ihre Koffer hinter sich her. Botschaftsmitarbeiter vor Ort berichten, dass die Situation an den anderen Grenzübergängen ähnlich sei.

Doch auch wer es geschafft hat, stößt auf Probleme. Das Handynetz ist im Grenzgebiet überlastet, WLAN gibt es hier keines, die Kommunikation mit wartenden Freunden und Verwandten fällt schwer. Damit die Kommunikation zumindest ab der nächsten Stadt funktioniert, passen zwei junge Männer in Warnwesten die Geflüchteten mit einem vollen Einkaufswagen ab und deuten auf ein großes Schild: "Kostenlose Simkarten".

Kilometerlanger Stau an der Grenze

Die Hilfe der Polen sei wunderbar, sagt Irina, die die Szene beobachtet. Die Ukrainerin lebt seit langer Zeit in Deutschland und war auf Heimatbesuch bei ihrer Mutter in Kiew, als der russische Angriff losging. "Damit war doch irgendwann zu rechnen", hat ihre Mutter gesagt. Das Land verlassen wollte die Mutter trotzdem nicht und ging zu Freunden aufs Land. Irina kämpft mit der Fassung, während sie das erzählt.

Sie selbst nahm mit einer anderen Familie zusammen ein Taxi quer durch die Ukraine, von Kiew zum Grenzübergang in Medyka sind es knapp 650 Kilometer. Der Fahrer versprach: "Ich bringe Sie bis zur Grenze." Doch dann kam das Stauende vor den Kontrollen.

Vier Stunden lang habe sich kaum etwas bewegt, dann entschied Irina, zu Fuß weiterzugehen. Die letzten 24 Kilometer sei sie gelaufen, ihren kleinen Rollwagen zog sie dabei hinter sich her. Ein Foto möchte Irina lieber nicht machen. "Nach den Strapazen sehe ich ganz fürchterlich aus", sagt sie und trotz allem, was sie gerade erlebt hat, muss sie dabei ein bisschen grinsen.

Noch ist in Polen wenig zu spüren

Neben den Bussen der Hilfsorganisationen warten auch Shuttlebusse. Damit werden Geflüchtete von der Grenze zur Weiterfahrt an den Bahnhof in der nächsten Stadt gebracht. In der Bahnhofshalle in Przemyśl herrscht dichtes Gedränge.

In der Stadt selbst merkt man ansonsten wenig von den dramatischen Szenen, die sich wenige Kilometer entfernt abspielen. Am Marktplatz hängen zwar Plakate und Blumen mit Solidaritätsbekundungen, doch in den Geschäften und Cafés wirkt alles wie ein ruhiger Wochenendtag. Auch in der polnischen Hauptstadt Warschau gehen die Menschen ihrem Alltag nach. An den Linienbussen hängen kleine ukrainische Flaggen. Noch bevor wir zur Grenze aufbrechen, kommen wir mit Maciej von der Autovermietung ins Gespräch.

Ob uns der Krieg überrascht hätte, will er wissen. "Ich habe viele Freunde und Bekannte in der Ukraine, wir haben damit gerechnet", sagt er. In den vergangenen Tagen habe er viele Autos an Journalisten und Helfer verliehen, die zur Grenze wollten. Dass die Strecke deutlich stärker befahren wird als sonst, zeigt sich auch an den Tankstellen. Viele Tankwarte in Grenznähe müssen abwinken: "Benzin ist alle."

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"Wir alle spüren unsere Beine nicht mehr"

"Dieser Krieg ist schlimmer als damals im Irak", sagt Dave. Putin schere sich überhaupt nicht um Zivilisten, die Menschen seien ihm komplett egal. Den traurigen Vergleich zieht der 31-jährige Student aus eigener Erfahrung. 2009 floh er aus dem Irak nach Kiew. Seitdem hat er dort angefangen, Zahnmedizin zu studieren. Nun musste er sein neues Zuhause abermals verlassen.

Gemeinsam mit vier Freunden hat er sich vor mehreren Tagen auf den Weg gemacht. Beim Nachrechnen kommen die jungen Männer ins Straucheln. Sind sie nun bereits drei oder vier Tage unentwegt auf den Beinen? "Ich spüre meine Beine nicht mehr", sagt Pharmazie-Student Foodie bei dem Stichwort und schaut seine erschöpften Freunde neben sich an. "Wir alle spüren unsere Beine nicht mehr."

Sie haben sich auf den Bordstein vor der Essenausgabe gesetzt. Seine Freundin Rim lehnt sich an ihn an, die erste richtige Pause, seit sie in Kiew aufgebrochen sind. Die Reißverschlüsse ihrer hellbraunen Stiefel sind auf der langen Strecke kaputtgegangen. Wo es von hier aus hingehen soll, wissen die fünf nicht.

Sie warten noch auf weitere Freunde, die es noch nicht durch die Kontrollen geschafft haben. Am liebsten wollen sie erst mal ein Hotel finden und sich ausschlafen. "Wenn morgen der Krieg in der Ukraine enden würde, würde ich sofort zurückgehen", sagt Amar. "Ich liebe dieses Land." Die anderen nicken begeistert: "Wir lieben die Ukraine."

Helferinnen aus Belarus: "Vor Kurzem waren wir in dieser Lage"

Barbara teilt die Fluchterfahrung von Dave und seinen Freunden. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gibt die junge Frau mit Undercut Wasserflaschen und Süßigkeiten aus. Erst vor vier Monaten ist sie selbst aus Belarus geflohen, lebt nun in Warschau. Als sie von dem Angriff auf die Ukraine hörte, hat sie sich mit ihren Freundinnen verabredet und einen Großeinkauf organisiert. "Es war für mich gar keine Frage, dass ich helfen will. Vor Kurzem war ich in einer ähnlichen Situation", erzählt sie.

Neben ihnen stehen noch viele weitere freiwillige Helfer, sie haben selbst gekochtes Essen in Töpfen dabei. Auf einer Wiese liegen Kleidungsstücke, Schuhe und Decken zur Mitnahme bereit. Frauen drücken allen Vorbeigehenden gezuckerten Kaffee zum Aufwärmen in die Hand. Dazwischen immer wieder Mitarbeiter verschiedener Botschaften, Hilfsorganisationen und Glaubensgemeinschaften.

Auch einige Deutsche sind vor Ort. Enno und Niklas sind aus Görlitz angereist, dort engagieren sie sich im Verein Ca-Tee-Drale, der ukrainisch-deutschen Jugendaustausch betreibt. An der Grenze holen sie mehrere frühere Teilnehmer des Programms ab. Die Eltern haben die Jugendlichen gebracht, um sie in Sicherheit zu bringen, selbst gehen sie zurück, erzählt Niklas.

Mit einem Pappschild warten die beiden nun am Ausgang der Passkontrolle. Darauf bieten sie die restlichen Plätze in ihrem Transporter an. Einen Platz bekommt die erschöpfte Irina.

Dutzende Ukrainer gehen zurück

Während im Minutentakt Busse und Autos auf die polnische Seite kommen, stehen mehrere Dutzend Menschen an der Passkontrolle, um den umgekehrten Weg anzutreten: Sie wollen zurück in die Ukraine. Die Gründe dafür sind unterschiedlich.

Viele der Männer und Frauen, die dicht gedrängt am Grenzübergang warten, arbeiten in Polen. Andere waren im Urlaub. Einige der Männer wollen nun zurück, um zu kämpfen. Einer sagt: "Was sollen wir auch sonst machen. Lang lebe die Ukraine!" Andere – darunter viele Frauen – haben Familie jenseits der Grenze und wollen nicht ohne sie in Polen bleiben.

Die Männer werden oft von polnischen Freunden oder Kollegen gebracht. Am Ende der Schlange ein Handschlag, ein Nicken. Wie verabschieden, wenn man nicht weiß, wann und ob man sich wiedersehen wird? Auch Familien werden so zerrissen.

Frauen und Kinder verabschieden sich von Vätern und Brüdern, die zurück in die Ukraine gehen. Eine Einbahnstraße für den Moment: Aus der Ukraine können die Männer derzeit ohnehin nicht fliehen, denn seit Freitagvormittag dürfen Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren nicht mehr aus dem Land ausreisen.

Das hat auch Marta aus Lwiw erleben müssen. Aus Angst um ihre Kinder hat sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter für die Flucht entschieden. Ihren Ehemann musste sie in der Heimat zurücklassen. Bisher konnte das Ehepaar Kontakt halten.

Und so berichtet Marta, was sie von ihrem Ehemann hört. In Lwiw sei es schwer, an Lebensmittel zu kommen, Geld abheben, sei gar nicht mehr möglich. Immer wieder habe es in den vergangenen Tagen Sirenen und Bombenalarme gegeben, bei denen er sich gemeinsam mit den Nachbarn in einem Bunker versteckt habe.

"Ich möchte wieder nach Hause!"

Die fünfjährige Maria drückt sich an das Bein ihrer Mutter. Mit den beiden sind auch der neunjährige Severyn und Oma Dana nach Polen gekommen. Sie haben eine strapaziöse Reise hinter sich, allein am Grenzübergang mussten sie zwölf Stunden warten. Auf der anderen Seite wurden sie dann von Martas Bruder in Empfang genommen. Gemeinsam wollen sie nun über Krakau nach Prag fahren. Dorthin ist der Bruder vor elf Jahren ausgewandert.

Von der internationalen Gemeinschaft fordert Marta "alles, was möglich ist, um den Krieg zu beenden". Vor allem die zögerliche Verhängung der Sanktionen ärgert sie. Denn sie hat aktuell nur einen Wunsch: "Ich möchte wieder nach Hause!" Zum russischen Präsidenten fällt ihr nur eines ein: „Putin ist das reine Böse."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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