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Ukraine-Konflikt – Sigmar Gabriel: Russland beginnt keinen Krieg während Olympia


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Sigmar Gabriel
"Wenn wir das machen, würden wir Europa sprengen"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 16.02.2022Lesedauer: 9 Min.
Sigmar Gabriel (SPD): Der ehemalige Außenminister hofft, dass es noch einen friedlichen Ausweg aus der Ukraine-Krise gibt.Vergrößern des Bildes
Sigmar Gabriel (SPD): Der ehemalige Außenminister hofft, dass es noch einen friedlichen Ausweg aus der Ukraine-Krise gibt. (Quelle: Xander Heinl/imago-images-bilder)

Die USA rechnen noch diese Woche mit einem russischen Angriff in der Ukraine. Ex-Außenminister Sigmar Gabriel hofft dennoch auf einen friedlichen Ausgang und macht Lösungsvorschläge.

Die Lage an der ukrainischen Grenze bleibt angespannt. Zwar verkündete Russland, einen Teil der Soldaten abzuziehen. Doch Beobachter sehen davon bislang wenig. Ganz im Gegenteil: Nach Einschätzung der USA könnte Russland bereits am Mittwoch in die Ukraine einmarschieren. Bundeskanzler Olaf Scholz reiste deshalb nach Moskau, um dort mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine friedliche Lösung zu sprechen.

Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel verhandelte bereits selbst mit Putin. Auch heute ist er als Vorsitzender der Atlantikbrücke noch außenpolitisch aktiv. Mit t-online hat er über die Lage an der ukrainischen Grenze, die Folgen eines russischen Einmarsches, Putins Motive und mögliche Lösungen gesprochen.

t-online: Herr Gabriel, die USA haben ihre Nato-Verbündeten am Freitag gewarnt, dass sie von einem russischen Angriff auf die Ukraine in dieser Woche ausgehen. Wie realistisch ist dieses Szenario?

Sigmar Gabriel: Das kann niemand wirklich beurteilen. Ich persönlich glaube nicht, dass Russland während der Olympischen Winterspiele in China einen Krieg beginnt. Warum sollte Russland seinen einzigen verbliebenen Partner China derart brüskieren? Die Amerikaner werden aber sicherlich Gründe für ihre Einschätzung haben.

Was steckt hinter der US-Strategie, diese Informationen durchsickern zu lassen?

Das kann ich nur vermuten. Einerseits wird es nachrichtendienstliche Informationen geben, die zu dieser Einschätzung führen. Und die immer stärker werdende Truppenkonzentration auf russischer Seite bis hin zu Landungsbooten lässt ja auch kaum andere Schlüsse zu. Andererseits ist diese Reaktion der USA vielleicht auch Teil ihrer Verhandlungsstrategie, um den Westen zu einigen und Russland gegenüber zu zeigen, dass man vorbereitet sei.

Allerdings bin ich nicht so sicher, ob die Ukraine sehr glücklich mit dieser Strategie ist. Denn wenn jetzt Panik in der Ukraine ausbricht und Chaos, liefert das im Zweifel noch die Legitimation für Russland, um militärisch einzugreifen. Ich fand es deshalb richtig, dass die deutsche Bundesregierung nicht sofort mit einer Reduzierung ihres Botschaftspersonals begonnen hat.

Dagegen betont der Kreml immer wieder, dass Russland die Ukraine nicht angreifen wird. Würde der russische Präsident Wladimir Putin mit einer Invasion nicht zu viel internationales Vertrauen verspielen?

Natürlich. Nicht nur der Reputationsverlust wäre enorm, sondern vor allem die wirtschaftlichen Schäden für Russland wären ungeheuer groß. Was aber, wenn Ereignisse provoziert werden, bei denen der russischstämmige Bevölkerungsanteil der Ukraine vor allem im Osten des Landes aus russischer Sicht "geschützt" werden müsse? Russland hat immer wieder betont, dass es sich als Schutzpatron dieses Teils der Ukraine empfindet. Es könnte versucht sein, dann zu sagen, es müsse den Regimewechsel zu einer russlandfreundlichen Regierung durchzusetzen.

Dann wären die wirtschaftlichen Schäden trotzdem groß. Warum sollte Russland diese in Kauf nehmen?

Die wirtschaftlichen Sanktionen, die dann kämen, würden sicher alles übertreffen, was man bisher gekannt hat. Allerdings ist Russlands Staatskasse aufgrund der hohen Energiepreise gut gefüllt und Sanktionen sind in Russland immer nur teilweise wirksam. Das Land erachtet westliche Sanktionen als so eine Art "Großmachtsteuer", die man eben bezahlen muss, wenn man in der Geopolitik etwas zu sagen haben will. Denn irgendeinen Grund muss es ja haben, dass Putin trotz aller Sanktionsankündigungen des Westens über 100.000 Soldaten und unter anderem auch Landungsboote an der Grenze zur Ukraine hat aufmarschieren lassen.

Der Druck des Westens scheint Putin nicht zu beeindrucken. Der französische Präsident Emmanuel Macron reist mit dem Versprechen aus Moskau ab, dass Putin vorerst auf Manöver verzichtet – einen Tag später beginnt das Großmanöver in Belarus. Steckt die Diplomatie in einer Sackgasse?

Wir hoffen alle, dass es noch einen Ausweg gibt und dass wir nicht mitten in Europa einen Krieg erleben. Aber zum Gewaltverzicht, zum Frieden und zum Sieg der Diplomatie gehören immer zwei.

Sie sehen also Putin in der Bringschuld?

Die militärische Drohgebärde geht von Russland aus und wenn ein Land momentan einen Beitrag zur Entspannung leisten kann, dann dürfte es Russland sein. Die Nato bedroht Russland nicht.

Sehen Sie Spielräume für die Nato, Russland weiter entgegenzukommen?

Solange es um praktische Fragen der Sicherheitspolitik geht, gibt es ein breites Feld von möglichen Einigungen zwischen der Nato, den USA, Europa und Russland. Abrüstung, Rückverlagerung und Entzerrung von Truppen und Waffensystemen, beidseitiger Verzicht auf bestimmte Waffensysteme, gegenseitige Berichtspflichten und Besuchsrechte bei militärischen Übungen, Transparenz und vieles andere mehr.

Schwer bis unmöglich ist es in der Politik immer, wenn man über Prinzipien verhandeln will. Denn einem Prinzip kann man zustimmen oder man kann es ablehnen. Aber Kompromisse gibt es dabei nicht. Die Souveränität eines Staates, selbst frei darüber zu entscheiden, welchem Bündnissystem er angehören will, ist wie eine Schwangerschaft: Es gibt sie nicht halb. Was der Westen Russland anbieten kann, ist eine Art "Helsinki II". Der damalige sogenannte Helsinki-Prozess endete 1975 in der "Schlussakte von Helsinki", in der Ost und West die europäische Sicherheitsarchitektur und übrigens auch Menschenrechte vereinbarten. Seitdem hat sich viel verändert und es wäre vermutlich sinnvoll, diesen Prozess erneut mit Russland zu beginnen. Das ergibt aber nur Sinn, solange die Waffen schweigen.

Dem Kreml reicht das aber nicht aus. Warum?

Es könnte sein, dass ein solcher "Helsinki-Prozess II" genau das ist, was Wladimir Putin will. Denn ich glaube nicht, dass es ihm am Ende um die Ukraine geht. Putin will Russland wieder als eine europäische Großmacht etablieren. Denn Russland hat nach 1989 kontinuierlich an Einfluss in Europa verloren. Heute ist das Land nur noch ein Energielieferant. Das will Russland wieder ändern.

Das Schicksal und die Zukunft Europas soll wieder mit Russland verhandelt werden müssen. Und Verhandlungspartner sind aus russischer Sicht natürlich nur die USA und nicht Europa selbst. So war es 1945, 1989 und 1997. Europa ist Objekt der Verhandlungen und nicht Subjekt. Und weil Russland wirtschaftlich und politisch uninteressant ist, nutzt es den einzig verbliebenen Hebel für diesen Großmachtanspruch in Europa: sein Militär. Für Europa hätte ein "Helsinki-II-Prozess" den Vorteil, dass es selbst am Verhandlungstisch säße und in dieser Zeit in jedem Fall Frieden herrscht.

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Allgemein fallen Zugeständnisse unheimlich schwer, wenn Russland sie mit der Rückendeckung von Panzern und Soldaten einfordert.

Auch ohne fallen Zugeständnisse schwer, wenn die Forderung letztlich lautet, dass Russlands Nachbarn in Fragen ihrer Außenpolitik zuerst mal in Moskau nachfragen müssen.

Deshalb akzeptiert Russland die EU im Ukraine-Konflikt auch nicht mehr als Verhandlungspartner.

Aus Sicht Russlands gibt es keine politische Europäische Union – und das ist leider auch die Realität. Die Europäer haben keine gemeinsame Außenpolitik, keine Verteidigungspolitik und natürlich auch keine gemeinsame Haltung gegenüber Russland. Ich glaube sogar, dass die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs froh sind, dass die Vereinigten Staaten für uns mit Russland verhandeln.

Ist das nicht auch gefährlich für europäische Interessen?

Die Frage ist, ob man sich auf Dauer darauf verlassen kann, dass immer ein US-Präsident zur Hand ist, der über das Schicksal Europas verhandeln möchte. Es sind Situationen denkbar, in denen die USA das nicht mehr tun werden. Wenn wir bis dahin nicht bereit sind, das selbst in die Hände zu nehmen, wird es schwierig.

Die Bundesregierung zögerte lange damit, die Ostseepipeline Nord Stream 2 öffentlich zur Disposition zu stellen. Warum tut sich gerade Ihre SPD damit so schwer im Angesicht der russischen Aggression?

Das müssen Sie die SPD fragen. Jedem dürfte doch klar sein, dass Nord Stream 2 auf keinen Fall kommen wird, wenn Russland die Ukraine weiter destabilisiert oder militärische Gewalt ausübt. Jeder militärische Gewaltakt Russlands gegen die Ukraine ist der Tod von Nord Stream 2. Das weiß auch der russische Präsident.

Hätte man sich diese deutliche Ansage international von Scholz nicht viel früher gewünscht?

Auch wenn er es erst nicht ausgesprochen hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass Olaf Scholz eine andere Meinung darüber gehabt hat. Egal, wer Kanzler ist: Es ist für Deutschland undenkbar, dass in der Ukraine ein Einmarsch stattfindet und wir dann den Gashahn aufdrehen. Wenn wir das machen würden, dann würden wir gleichzeitig ganz Europa sprengen.

Doch es löste vor allem in Osteuropa extreme Vorbehalte aus, Nord Stream 2 als "privatwirtschaftliches Projekt" zu bezeichnen.

Das müssen Sie Angela Merkel fragen, denn von ihr stammt der Satz. Ich habe das zu meiner Zeit nie gesagt, weil ich unter anderem mit Wladimir Putin darüber verhandelt habe, dass die Weiternutzung der transukrainischen Pipeline die politische Voraussetzung für Nord Stream 2 ist. Russland hat das uns gegenüber immer akzeptiert und bestätigt.

Zeigt diese Drohung, Nord Stream 2 aufzugeben, Wirkung auf Putin?

Man darf sich keine Illusionen über Russlands Sorgen vor Sanktionen machen. Sanktionen sind für Russland eine Art Großmachtsteuer, die man eben zahlen muss, wenn man eine Großmacht sein will. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Putin die gegenwärtige Lage überhaupt verändern möchte. Sein eigentliches Ziel könnte sein, die Ukraine auch weiter als Faktor der Instabilität in Europa zu nutzen – ohne militärisch zu intervenieren. Denn je größer die Unsicherheit in Europa ist, desto mehr muss man mit Putin verhandeln.

Russland möchte also politischen Einfluss in Europa. Sind wir in Anbetracht dessen nicht zu abhängig von russischen Rohstoffen?

Deutschland muss in jedem Fall etwas an seiner Energieabhängigkeit von Russland verändern. Auch wenn die Lage friedlich bleibt, werden wir sehen, dass es eine Diversifizierung unserer Energiepolitik geben wird. Das ist eine Folge, die nach den dramatischen Ereignissen im Ukraine-Konflikt schon feststeht.

Wie bewerten Sie die Rolle von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der durch seine Kremlnähe momentan wieder massiv in der Kritik steht?

Die Auffassungen zu den deutsch-russischen Beziehungen hat Gerhard Schröder schon länger vertreten. Ich respektiere seine Meinung, auch wenn ich eine vollständig andere habe. Mir macht viel mehr Sorgen, dass es in den USA durchaus gewichtige Stimmen in der Außenpolitik gibt, die genauso argumentieren wie Gerhard Schröder.

Die Ultra-Rationalisten in der US-Außenpolitik finden es einfach richtig, dass Großmächte ihren unmittelbaren Nachbarn keine volle außenpolitische Souveränität zubilligen. So hätten die USA in der Vergangenheit gehandelt und das sei auch das Recht Russlands. Diese Auffassung stammt aus den Zeiten des Kalten Krieges und ist mit der Haltung der Europäischen Union unvereinbar. Dass künftige US-Regierungen so denken könnten, macht mir wesentlich mehr Sorgen als die bekannte Haltung Gerhard Schröders.

Aber ist das nicht schädlich für das Außenbild Deutschlands und auch für Ihre SPD?

Für das Außenbild Deutschlands ist wichtig, wie die deutsche Bundesregierung handelt und redet. Und da zeigt sich doch inzwischen ein sehr klares und eindeutiges Bild.

Sie haben gerade über deutsche Energiesouveränität gesprochen. Inwieweit würde ein russischer Angriff auf die Ukraine die sicherheitspolitische Lage in Deutschland verändern?

Deutschland hat kein Grenzgebiet zu Russland. Ein Angriff würde die Folge haben, dass die osteuropäischen Nato-Staaten darauf drängen würden, Nato-Truppen bei ihnen zu stationieren. Momentan gibt es zwar Nato-Mitgliedsstaaten an der Grenze Russlands, aber in der Nato-Russland-Grundakte hat man Moskau zugestanden, dass dorthin keine großen Nato-Truppenverbände mit bestimmten Waffensystemen verlegt werden. Im Gegenzug hat Russland akzeptiert, dass diese Länder der Nato angehören.

Der Einmarsch in der Ukraine würde also das bewirken, was Putin verhindern will: Die Nato rückt an seine Grenzen vor. Und dann hätten wir tatsächlich wieder eine lange Grenze, wo sich Russland und die Nato bis an die Zähne bewaffnet direkt gegenüberstehen. Mit allen Risiken, die das beinhalten würde.

Man hat momentan das Gefühl, dass die Partner im transatlantischen Bündnis unterschiedliche strategische Ansätze verfolgen. Während US-Präsident Biden auch von Deutschland deutliche Ansagen in puncto Sanktionen erwartet, möchten Deutschland und Frankreich Putin eher im Unklaren lassen. Müsste sich die Nato nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen?

Das nehme ich nicht so wahr. Im Gegenteil: Es gibt ja eine sehr enge Abstimmung der USA mit ihren europäischen Nato-Partnern und sicher auch mit Schweden und Finnland.

Demnach ist es richtig, Putin klar zu vermitteln, mit welchen Sanktionen er rechnen muss?

Es ist kein besonderes Geheimnis, was dort im Falle eines russischen Angriffs passieren würde: Massive energiepolitische Sanktionen, Strafmaßnahmen gegen Oligarchen und gegen russische Banken. Das alles weiß auch die russische Seite.

Aber in Moskau gibt es auch immer die Paranoia, dass die USA vielleicht doch zum Schutz der Ukraine angreifen würden und das wirkt eventuell abschreckend. Deshalb wird in deutschen Sicherheitskreisen teilweise Biden kritisiert, der diese Option mehrfach öffentlich ausschloss.

Das ist Spökenkiekerei und ziemlicher Unsinn. Es ist doch völlig klar, dass die USA für ein Nicht-Mitglied der Nato keine direkte militärische Konfrontation mit Russland eingehen würden. Das kann auch ernsthaft niemand wollen, denn dann stünden sich die beiden größten Atommächte in direkter Konfrontation gegenüber. Scheinbar ist das historische Gedächtnis einiger dieser "Bonsai-Strategen" nicht besonders ausgeprägt.

Aber was steckt hinter Bidens Strategie?

Er will keinen unmittelbaren militärischen Konflikt mit Russland und trotzdem den Preis für einen militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine möglichst hoch machen. Genau das Gleiche wollen die Europäer. Und das ist auch vernünftig.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gabriel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Sigmar Gabriel
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