Gezi und Erdogans größte Angst Der Sturm wird kommen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Vor sechs Jahren ließ Erdogan die Gezi-Proteste blutig niederschlagen. Unser Autor Patrick Diekmann erlebte die Gewalt auf den Straßen mit. Heute besucht er eine veränderte Türkei.
Die Furcht ist noch immer greifbar. Sechs Jahre nach den Massenprotesten stehen schwer bewaffnete Polizisten am Rande des Taksim-Platzes in Istanbul. Zwei Wasserwerfer parken vor der kleinen Polizeiwache am Eingang der İstiklal, der größten Einkaufsstraße der Millionenmetropole. Ein Jeep der Armee bahnt sich mit lautem Hupen den Weg durch die Menschenmenge, auf dem Dach ein Maschinengewehr. Die Menschen drumherum stört das nicht: Sie eilen in die zahlreichen Geschäfte, lachen, reden, telefonieren.
Die Istanbuler haben sich in ihrer Innenstadt an die Polizei gewöhnt. Sie ist Alltag. Nach den Gezi-Protesten von 2013 erhöhten die Sicherheitskräfte ihre Präsenz um den Taksim-Platz massiv. Der türkische Präsident und damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan möchte ein neues Gezi um jeden Preis verhindern.
Für ihn, der immer stolz auf seine Beliebtheit in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung war, ist der Aufstand ein Trauma. Nach dem Protest wurde sein Führungsstil noch autoritärer, politische Gegner und Journalisten wurden zu Terroristen erklärt und eingesperrt. Lediglich ihre Gerichtsprozesse erinnern noch an die gescheiterte Revolution, in Istanbul ist Normalität eingekehrt. Und doch steckt die Stadt für viele Menschen voller Erinnerungen.
Es ist ein Weg voller Emotionen
So auch für mich. Im Jahr 2013 war ich mit den Aktivisten zwei Wochen im Gezi-Park. Ich erlebte, wie sich die Türkei veränderte und wie Menschen ihre Vision für das Land auf die Straße trugen. Ich sah mit an, wie ihre Begeisterung erstickt wurde, mit Schlagstöcken, Handschellen und Tränengas.
Es hat sechs Jahre gedauert, bis ich meine Wege aus dem Juni 2013 noch einmal gehen kann – auch heute als Journalist, der über die Wahlen in Istanbul berichten soll. Es ist ein Weg voller Emotionen: Freude, weil ich Menschen sah, die bereit waren, für ihre Überzeugungen alles zu riskieren. Trauer, weil ihr Aufstand vergeblich war. Und doch dürfen die Bilder des Protestes nicht vergessen werden. Nicht von mir, nicht von der Türkei, nicht von Europa. Deshalb erzähle ich von meinem letzten Tag am Gezi-Park, von der Nacht, als die Gewalt über Istanbul hereinbrach. Es war der 11. Juni 2013.
Tränenreicher Abschied
Vorbereitung ist alles. Seit Beginn der Gezi-Proteste habe ich mir gewisse morgendliche Routinen angewöhnt. Nach dem Aufstehen überprüfe ich zunächst die Nachrichten, Twitter, dann meine Ausrüstung. Ich hatte mir nach dem ersten Tag ein paar Hilfsmittel zugelegt: eine Gasmaske, die eigentlich eine Feinstaubmaske ist, aber das Tränengas wenigstens etwas abhält, eine hässliche grüne Taucherbrille, mehrere Wasserflaschen sowie Rosenwasser zum Auswaschen der Augen. Dieser Tage wähle ich meistens leichte Kleidung, damit ich schneller weglaufen kann. Und weglaufen muss ich oft.
Die Proteste begannen mit ein paar Bäumen. Auf dem Gelände des Gezi-Parks – einem symbolträchtigen Ort für Linke und Gewerkschaften unweit des Taksim-Platzes – sollte ein Einkaufszentrum gebaut werden, mit der Fassade einer osmanischen Kaserne, die bis 1940 an dieser Stelle stand. Erdogan selbst trieb das Bauvorhaben voran. Als am 27. Mai 2013 die ersten Bagger anrückten, um Bäume zu entwurzeln, wurden sie von Aktivisten blockiert. Der Aufruf "Occupy Gezi" verbreitete sich rasend schnell über die sozialen Netzwerke, Tausende Menschen in Istanbul machten sich auf den Weg ins Zentrum.
"Überall ist Widerstand"
Von meiner Wohnung im Stadtteil Kadiköy sind es nur fünf Minuten Fußweg bis ans Meer. Von dort legen die Fähren in Richtung europäischer Seite und Taksim-Platz ab. Am Hafen bilden sich Menschentrauben. Viele Demonstranten haben Türkei-Flaggen in den Händen, Familien verabschieden sich voneinander, teilweise unter Tränen. Vorbeifahrende Autos hupen, aus den Fenstern einiger Häuser schlagen Anwohner mit Löffeln auf Töpfe. Zeichen der Zustimmung für den Aufstand.
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Die Fahrt zu den Protesten ist gefährlich. Gummiknüppel, Reizgas, das Risiko der Gefangennahme durch die Polizei – bereits zu Beginn gab es Gerüchte über Tote. Trotzdem sind auf der Fähre fast nur Demonstranten, sie machen sich gegenseitig Mut. "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand", rufen sie immer wieder. Einige stimmen ein linkes Arbeiterlied an. Wer den Text kann, singt mit. Ich nehme Platz auf einer Bank und blicke vom Schiffsdeck aufs Meer hinaus. Die Überfahrt dauert 20 Minuten. Es kommt mir vor, als fahren die Menschen in eine Schlacht.
34-Jährige fällt nach Gasgranate ins Koma
Die Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten wurden Ende Mai zunächst heftiger. Die Polizei ging am Taksim-Platz mit äußerster Härte gegen die Proteste vor, Erdogan verteidigte dies. Über die sozialen Medien teilten immer mehr Menschen Videos über Polizeigewalt. Eine Frau in einem roten Kleid, die von Polizisten mit Pfefferspray angegriffen wurde, war das frühe Symbol des Widerstands.
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Danach erlitt die 34-jährige Türkin Lobna Allamii, die in Deutschland lebt, eine lebensgefährliche Kopfverletzung durch eine Gasgranate. Sie fiel für drei Wochen ins Koma, seither kann sie nicht mehr sprechen. Das Bild der bewusstlosen Frau sorgte für zusätzliche Wut auf der Straße.
Schon lange ging es nicht mehr nur um den Gezi-Park. Nach der Polizeigewalt forderten die Demonstranten den Rücktritt der Regierung. Die Proteste weiteten sich auf andere Städte aus, in Ankara zeigten Zehntausende Solidarität mit Istanbul. Als am 1. Juni 2013 mehr als Hunderttausend Menschen gegen Erdogan und die Regierung demonstrierten, musste sich die Polizei aus dem Zentrum Istanbuls zurückziehen. Es entstand ein tagelanger rechtsfreier Raum, eine Mischung aus Volksfest und politischer Kundgebung. Die Straßenkämpfe gingen jedoch weiter.
Auf den Barrikaden von Istanbul
Vom Hafen in Kabataş, wo alle Demonstranten aussteigen, geht es einen steilen Berg hoch zum Taksim-Platz. Wir gehen zu Fuß, die Straßen sind versperrt. Alle 100 Meter wurden Barrikaden errichtet. Dafür wurden Straßen aufgebrochen und Steine abgetragen. Auch Eisenstangen, Absperrgitter und sogar Fahrzeuge werden als Blockade genutzt, damit die Wasserwerfer der Polizei nicht passieren können. Diese Schutzmauern werden pausenlos ausgebaut, einige türmen sich über zwei Meter hoch.
Hubschrauber kreisen über der Innenstadt. Sie sind die einzigen Zeugen dafür, dass der Staat noch da ist. Oben auf dem Taksim-Platz feiern die Menschen dagegen ein politisches Volksfest. Sie tanzen, singen und sprechen über Politik. Einige machen am Eingang zum Gezi-Park Selfies mit einem umgeworfenen Polizeiauto. Kleine Händler verkaufen Essen, Gasmasken und Taucherbrillen. Die öffentlichen Gebäude wurden besetzt, aus den Fenstern hängen Fahnen und Transparente. Istanbul gleicht einer anarchistischen Utopie.
Erdogan geriet während der Proteste immer weiter unter Druck. Zahlreiche Menschen in der Türkei forderten seinen Rücktritt, der Funke des arabischen Frühlings drohte auf die Türkei überzuspringen. Und der Gezi-Park war nicht nur zum Zentrum des Protestes, sondern auch der künstlerischen Vielfalt geworden. Zwischen den Zelten gab es Infostände, verschiedene Parteien zum Schutz des Parks verteilten Flyer. Auch hier spielten Menschen Instrumente, Kinder und Jugendliche lagen in ihren Schlafsäcken auf der Wiese.
Auf diese Zustände reagierte Erdogan mit Verachtung. Er beleidigte die Demonstranten als Agenten, Terroristen und Plünderer ("Capul"). Aus letzterem machten die Aktivisten den Neologismus "Çapuling", was im Zuge der Proteste "für die eigenen Rechte kämpfen" bedeutete. Doch Erdogan sah nur die Verwüstungen, nicht die Argumente der Demonstranten. Und er sah vor allem seine Machtlosigkeit.
Plötzlich in der Schusslinie
"Alles ruhig, keinen Grund zu Sorge", sage ich zu einem französischen Kollegen. Am späten Abend ist es schon dunkel, nur die Straßenlaternen tauchen die Stadt in helles oranges Licht. Wir setzen uns vor dem Besiktas-Stadion an einem steilen Abhang auf eine Wiese. Vor dem Stadion stehen circa 400 Demonstranten, die die Polizei mit Sprechgesängen provozieren.
Es kommt aus dem Nichts. Während sich die Polizisten in unserem Blickfeld nicht bewegen, rücken andere Einsatzkräfte mit zwei Wasserwerfern verdeckt hinter dem Stadion vor. Sie fallen den Demonstranten in den Rücken. Chaos bricht aus, man sieht in den Reihen der Gezi-Aktivisten immer wieder Männer, die andere festhalten und diese dann in die Reihen der Polizei zerren. Zivilpolizisten. Die nicht gefasst werden, rennen den Hügel hinauf.
Auch wir sind plötzlich in der Schusslinie. Links und rechts von uns landen Gasgranaten, die kleine Wiese liegt schnell in völligem Nebel. Es gibt nur zwei Auswege. Nach vorne durch das Gas in die Arme der Polizei oder zurück über einen hohen Maschendrahtzaun. Wir klettern, andere Demonstranten ziehen uns hinüber.
Gezi stirbt im Rauch der Granaten
Auf der anderen Seite, direkt vor uns liegt eine Bauruine. Das Haus hat keine Türen, keine Fenster. Nur Straßenhunde leben hier für gewöhnlich. Mit einer kleinen Gruppe verstecken wir uns in dem Gebäude. Doch der Wind lässt das orange Tränengas direkt in das Haus ziehen. Alles brennt, ich huste und meine Augen tränen. Dort liegen wir am Boden im Dreck, bewegungsunfähig. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ist nun alles aus? Hätte ich mich einfach verhaften lassen sollen?
Dann werde ich an den Schultern gepackt, ein älteres Paar hilft mir auf und wäscht mir mit einer Flüssigkeit, die ich nicht genauer definieren kann, die Augen aus. Es tut gut. Nach einer Zeit kann ich wieder richtig sehen. "Das ist doch kein normales Tränengas", sagt mein Kollege. Später werden wir erfahren, dass fast alle Verletzungen der Demonstranten auf Tränengasgranaten, Gummigeschosse und Wasserwerfer zurückzuführen sind. Dem Wasser war offenbar eine nicht näher bekannte Chemikalie beigemischt worden.
Am 11. und 12. Juni eroberte die türkische Regierung die Istanbuler Innenstadt mit aller Gewalt zurück. Nach zehn Tagen absoluter Freiheit starb Gezi im dem Dunst des Tränengases der Polizei. Erdogan hatte sich für den Weg der Gewalt entschieden. Allein an diesem Abend gab es in Istanbul 2.500 Verletzte. Insgesamt kamen bei den Protesten im Land fünf Menschen ums Leben, mindestens 8.100 wurden verletzt. Die Polizei verhaftete mehr als 5.000 Menschen.
Die Rache des Autokraten
Und die Rache des heutigen türkischen Präsidenten dauert an. Aktivisten sitzen lange in Haft, müssen teilweise 20 Monate auf ihren Prozess warten. Im Zentrum der Anschuldigungen steht der Intellektuelle und Philanthrop Osman Kavala. Er sitzt mit weiteren Beschuldigten ohne Urteil im Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten unter anderem versuchten Umsturz der Regierung vor. In der kommenden Woche geht der Prozess gegen ihn und 15 weitere Aktivisten weiter.
Mit ihrer Brutalität erreichte die türkische Regierung, dass die Proteste innerhalb von zwei Monaten deutlich weniger wurden. Viele Demonstranten gaben auf, doch die Idee der Proteste fand ihren Platz in politischen Parteien, beispielsweise der prokurdischen HDP. Gezi verkörperte eine junge, moderne Vision für die Türkei. Davor haben Erdogan und seine AKP Angst, denn diese Vision ist das Gegenteil ihrer Politik. Der Gezi-Park ist ein Symbol für diese Vision, auch heute noch. Das Einkaufszentrum wurde nicht gebaut.
Für mich ist der Spaziergang durch Istanbul sechs Jahre danach eine Collage aus den Bildern jener Zeit. Bilder, die einerseits den Weg der Türkei in eine demokratische Zukunft aufzeigen und andererseits daran erinnern, dass sich diese Demokratie erkämpft werden muss. Besonders in einer Zeit, in der viele Journalisten und Aktivisten im Gefängnis sitzen.
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Doch Gezi ist nicht tot. Auf dem Weg zur Fähre kommt mir das Bild eines kleinen Jungen ins Gedächtnis. Er sitzt am Gezi-Park auf den Schultern seines Vaters und hält ein Schild aus Pappe in den Händen. "Ich bin im Gezi-Park aufgewachsen", steht dort. "Gezeichnet: ein kleiner Plünderer."