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Wahl in Istanbul: Erdogan und die Wut des Volkes


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Erdogan und die Istanbul-Wahl
Viel Wut liegt in der Luft

Von Patrick Diekmann, Istanbul

Aktualisiert am 23.06.2019Lesedauer: 4 Min.
Der türkische Präsident Erdogan während einer Pressekonferenz: Istanbul könnte zu seiner Schicksalswahl werden.Vergrößern des Bildes
Turkish President Erdogan speaks during a meeting with members of the international media in Istanbul (Quelle: reuters)
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Jetzt zählt es. Oder doch wieder nicht? Nach der Annullierung der Wahl vor sieben Wochen stimmt Istanbul erneut über einen Bürgermeister ab. Erdogans AKP droht eine peinliche Niederlage, auch weil die Lira-Krise anhält.

Es herrscht Hektik und Chaos. Die Hallen des Istanbuler Flughafens sind überfüllt. An einer Ecke steht eine Menschentraube am falschen Gepäckband, an einer anderen springt ein Koffer auf, eine ältere Frau sucht verzweifelt den Ausgang. Mitarbeiter drängeln sich durch die Massen, um das Chaos zu entwirren, oft ohne Erfolg. Eigentlich sollte der neue Flughafen, der größte der Welt, ein Symbol für den wirtschaftlichen Erfolg der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan sein. Doch am Samstagabend steht er für etwas anderes: Viele Istanbuler kommen aus dem Sommerurlaub zurück, um am heutigen Sonntag erneut ihren Bürgermeister zu wählen.

Die Wahl könnte nicht nur das Machtgefälle in der Türkei verändern, es könnte auch der Anfang vom Ende Erdogans sein. Der Präsident scheint sich mit der von ihm vorangetriebenen Wahlannullierung verrechnet zu haben. Bei der Wahl am 31. März hatte der Kandidat der Mitte-Links-Partei CHP, Ekrem Imamoglu, knapp gewonnen. Die Hohe Wahlkommission (YSK) annullierte das Ergebnis allerdings Anfang Mai wegen angeblicher Regelwidrigkeiten – auf Druck der AKP und von Erdogan.

"Die Wiederholung dieser Wahl ist ein Angriff auf unsere Demokratie und wir müssen uns wehren", erklärt Nesrin (37), die mit ihrer Familie nach einem Flug aus Zypern auf ihr Gepäck wartet. Sie hat ihren Familienurlaub extra so gelegt, dass sie wählen gehen kann.

Insgesamt sind mehr als zehn Millionen Menschen in der Metropole zur Stimmabgabe aufgerufen. Dabei geht es um viel. Istanbul gilt als Tor für die Macht in der Türkei. Erdogan selbst war hier Bürgermeister und möchte aufgrund seiner eigenen Biografie die Stadt nicht verlieren.

In Istanbul leben mit rund 15 Millionen Menschen fast 20 Prozent aller Türken. Die Stadt generiert Experten zufolge ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts und rund 40 Prozent aller Steuereinnahmen. Wer Istanbul regiert, hat Zugang zu wichtigen kommunalen Geldtöpfen und kann beispielsweise Bauaufträge vergeben. Das Budget ist milliardenschwer. Es geht also um den wichtigsten Bürgermeisterposten im Land.

Vor dem Flughafen bilden sich lange Schlangen vor den Bussen und Taxen, die die Menschen in die Stadt bringen sollen. Auf den Straßen gibt es mehr Staus als sonst. "Es geht am Sonntag nicht nur um Istanbul", sagt Taxifahrer Fathir (57). "Die wirtschaftliche Lage in der Türkei ist schlecht. Wir können von unserem Gehalt kaum noch leben und die Lira stürzt immer weiter ab." Deshalb bitte er Fahrgäste aus dem Ausland um mehr Trinkgeld und das sei ihm peinlich.

Der Währungsverfall wurde immer wieder durch Erdogans Aussagen, durch von ihm ausgelöste internationale Konflikte und Streitereien sowie durch die Zinspolitik der türkischen Regierung befeuert. Zuletzt werteten die Ratingagenturen Standard & Poor's (S&P) und Moody's die Kreditwürdigkeit der Türkei ab, was die Krise noch verschärfte.

Die Bevölkerung ist aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Situation unzufrieden, die Lage im Land ist angespannt. Auf den Straßen betteln viel mehr Menschen um Geld. Lebensmittel werden teilweise an öffentlichen Plätzen zu niedrigen Preisen verkauft, weil sich Teile der Bevölkerung die Preise in den Supermärkten nicht mehr leisten können. In Istanbul zeigt sich das an zahlreichen Ecken. Und es trifft nicht nur die untere Einkommensschicht, sondern auch breite Teile der Mittelschicht. Die Wut der Menschen wächst und die AKP hat darauf keine Antworten. "Brücken und Moscheen können Menschen nicht essen", meint Taxifahrer Fathir.

Schicksalswahl für das Land

Trotzdem haben Erdogan und die AKP Istanbul zu einer Schicksalswahl für das Land gemacht – und könnten sich damit verkalkuliert haben. In den Umfragen liegt Imamoglu deutlich vor dem AKP-Kandidaten, dem Ex-Ministerpräsidenten Binali Yildirim. Für gewöhnlich sind Umfragen in der Türkei eher unzuverlässig, weil Meinungsforschungsinstitute nicht wirklich neutral sind, aber auch AKP-nahe Institute sehen den CHP-Kandidaten vorne. Demnach könnte es für Erdogans Partei eine vernichtende Niederlage geben.

CHP-Kandidat Imamoglu trifft den türkischen Zeitgeist. Er ist zwar Mitte-Links-Politiker, gibt sich aber religiös, zeigt sich etwa beim Freitagsgebet, und kann so auch konservative Wähler abgreifen. Wird er Bürgermeister in Istanbul, ist er auch die Hoffnung der progressiven Kräfte in der Türkei. Yildirim dagegen gilt als treuer Parteisoldat, er verkörpert die Türkei unter Erdogan, mit der aktuell viele Menschen unzufrieden sind.

Einige Türken erhoffen sich gar ein vorzeitiges Ende der Präsidentschaft Erdogans. Die Türkei ist politisiert wie selten. Bei der ersten Wahl gab es eine Wahlbeteiligung von mehr als 80 Prozent, Experten erwarten an diesem Sonntag noch einen höheren Wert, trotz Sommerferien. "Wenn Imamoglu morgen gewinnt, wird er unser neuer Präsident", sagt Machmed (27), der sich am Vorabend der Wahl mit Freunden in einem Café trifft. Thema ist auch hier die Wahl und die aktuelle politische Lage in der Türkei. "Erdogan hat zu viele Fehler gemacht, auch wirtschaftliche."


Doch noch sitzt der Präsident fest im Sattel, die Hoffnung auf einen Rücktritt kommt stark verfrüht, auch bei einer Niederlage der AKP in Istanbul. Die nächsten Präsidentschaftswahlen sind erst im Jahr 2023. Dennoch gibt das Ergebnis in Istanbul die politische Richtung vor, in die die Türkei steuert.

Gewinnt die CHP, ist es nicht nur peinlich für Erdogan, es könnte auch seine Partei zerreißen, weil die Kritik an ihm auch innerparteilich wächst. Sollte Erdogan versuchen, Imamoglu als Bürgermeister lahm zu legen, wie er es angekündigt hat, drohen massive Proteste der Opposition.

Und auch wenn die AKP diese Wahl im zweiten Versuch gewinnen würden, sind die Folgen ungewiss. Viele Istanbuler fühlen sich durch die Wahlannullierung um ihr demokratisches Grundrecht betrogen. Und Erdogan braucht zum Machterhalt eine demokratische Legitimation. Auch wenn dies bei ihm manchmal nur Schein ist.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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