Türkei nach Wahl-Annullierung Erdogan erhält die Kontrolle über Istanbul zurück
Nach der Wahl ist vor der Wahl: Die Opposition ringt nach der Annullierung der Abstimmung in Istanbul um eine gemeinsame Position. Die Wut auf Präsident Erdogan wächst.
Nach der Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul ringt die Opposition um ein gemeinsames Vorgehen im anstehenden Wahlkampf. Die kleine islamistische Oppositionspartei Saadet will am Mittwoch beraten und Medienberichten zufolge darüber entscheiden, ob sie bei einer Wahlwiederholung im Juni zugunsten des Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Ekrem Imamoglu, auf einen eigenen Kandidaten verzichtet.
Imamoglu hatte die Bürgermeisterwahl am 31. März knapp vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen. Die Hohe Wahlkommission hatte die Abstimmung am Montag jedoch annulliert und eine Wiederholung am 23. Juni angeordnet. Sie beschloss außerdem, das Mandat Imamoglus zu annullieren. Sie gab damit einem Antrag der islamisch-konservativen Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdogan statt.
Proteste in Istanbul
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, das Innenministerium habe den Provinzgouverneur Ali Yerlikaya als Interimsbürgermeister eingesetzt. Die Gouverneure in der Türkei werden von Erdogan ernannt, der damit die Kontrolle über Istanbul zurückerhält.
Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP und die nationalkonservative Partei Iyi kritisierten die Entscheidung der Wahlbehörde scharf. Sie hatten Imamoglu schon bei der Abstimmung im März unterstützt und keine eigenen Kandidaten aufgestellt.
Am Dienstagabend versammelten sich in mehreren Bezirken der Innenstadt von Istanbul Menschen zu Protestkundgebungen. Sie verliefen weitgehend friedlich – beobachtet von Polizei und Beamten in Zivil. Demonstranten in Besiktas riefen zum Beispiel: "Das ist erst der Anfang, der Kampf geht weiter" oder "Schulter an Schulter gegen den Faschismus", wie eine dpa-Reporterin vor Ort berichtete. Die Slogans gehen auf die regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 zurück.
"Nicht nachvollziehbar"
In anderen Vierteln war wieder zu hören, wie Menschen an geöffneten Fenstern auf Töpfe und Pfannen schlugen – eine Form des Protests, die ebenfalls aus der Zeit der Gezi-Proteste stammt.
Die Entscheidung der Wahlbehörde stieß auch international auf Kritik. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sagte, der Beschluss der Hohen Wahlkommission sei "für uns nicht transparent und nicht nachvollziehbar". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte: "Bisher hat der Oberste Wahlrat keine überzeugenden Gründe genannt, die zu einer Ungültigkeit der Wahlen in Istanbul führen müssen."
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Die Wahlkommission hatte ihre Entscheidung in einem Schreiben an die Parteien am Montag mit einem Kritikpunkt der AKP begründet, wonach die Wahlräte teils rechtswidrig zusammengestellt worden seien. Auf eine öffentliche Stellungnahme verzichtete der Kommissionschef Sadi Güven jedoch.
Harter Schlag für die Demokratie
Präsident und AKP-Chef Erdogan hatte die Entscheidung der Wahlkommission am Dienstag begrüßt und sprach von einem "wichtigen Schritt für unsere Demokratie". Er sagte: "Wir glauben aufrichtig daran, dass es bei den Wahlen in Istanbul eine organisierte Korruption, eine totale Gesetzlosigkeit und Rechtswidrigkeit gegeben hat." Imamoglu dagegen sagte: "Man hat unserer Demokratie einen harten Schlag versetzt. Diesen Prozess müssen wir alle gemeinsam reparieren und behandeln." Er und seine Partei zeigten sich zuversichtlich, auch die Neuwahl für sich zu entscheiden.
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Istanbul wurde bis zum Wahlsieg Imamoglus 25 Jahre von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP war ein Gesichtsverlust für Erdogan, der einst selbst Bürgermeister der Millionenmetropole war.
- Nachrichtenagentur dpa