Bürgermeisterwahl in Istanbul "Der Absturz der Lira war nur der Anfang"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Bürgermeisterwahl in Istanbul wird wiederholt. Die Opposition spricht von Verrat und Diktatur – und hat dabei nicht ganz unrecht. Warum, sagt Türkei-Experte Kristian Brakel im Interview.
Der türkische Präsident Erdogan wollte Neuwahlen in Istanbul – nun wird er sie bekommen. Die Wahlkommission hat Regelwidrigkeiten beim Urnengang Ende März festgestellt. Die Opposition tobt und spricht von einem "System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert."
Doch noch gibt sich die Opposition um die CHP, dem knappen Wahlgewinner von Istanbul, nicht geschlagen. Am Nachmittag will Ekrem Imamoglu, Spitzenkandidat der größten Oppositionspartei, mit den Führungsgremien der CHP zusammenkommen, um über das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Doch welche Möglichkeiten haben die ehemaligen Wahlgewinner überhaupt, um das Urteil der Wahlkommission anzufechten?
Kristian Brakel ist Nahost-Experte und leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Im Interview erklärt er, wie die Opposition jetzt reagieren wird, ob der Türkei nun gewaltsame Straßenkrawalle drohen und warum EU und Deutschland ihre Beziehungen zur Türkei überdenken müssen.
t-online.de: Herr Brakel, die Wahlkommission hat die Kommunalwahl in Istanbul annulliert. Wie unabhängig hat sie entschieden?
Kristian Brakel: "Erdogan, die AKP und die MHP haben im Vorfeld mindestens impliziten Druck auf die Wahlkommission ausgeübt. Wenn sich der Präsident hinstellt und sagt, es muss Neuwahlen geben, darf zu Recht bezweifelt werden, dass die Kommission ihre Entscheidung völlig unabhängig getätigt hat. Das Ergebnis war am Ende 4 zu 7 Stimmen. Es gab also auch Kommissionsmitglieder, die gegen eine Neuwahl waren und sich dem Druck verweigert haben."
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Gab es denn den von der AKP skandalierten Wahlbetrug wirklich?
"Noch ist die vollständige Begründung der Wahlkommission nicht veröffentlicht. Was aber bislang durchgesickert ist, macht stutzig. Denn nicht etwa Wahlfälschung soll von der Kommission moniert worden sein, sondern das Wahlprozedere. Nämlich, dass nicht alle Wahlbüros von städtischen Mitarbeitern geleitet wurden. Bei den Wahlen im März wurden aber gleichzeitig die Stadtparlamente, die Bürgermeister der Bezirke und der Oberbürgermeister gewählt. Annulliert wurde aber nur die Wahl des Oberbürgermeisters."
Wie kann die Opposition jetzt reagieren? Kann sie die Entscheidung anfechten?
"Es bleiben jetzt mehrere Möglichkeiten. Die Opposition könnte einfach erneut bei der Wahl antreten und hoffen, dass sie noch mal gewinnt. Allerdings werden sich Erdogan und die AKP genau darüber Gedanken gemacht haben. Sie werden sich ziemlich sicher sein, dass sie die nächste Wahl gewinnen können. Die Alternative ist, dass die Opposition nicht an der Wahl teilnimmt und dem neuen Bürgermeister von Istanbul damit keine demokratische Legitimation geben will. Dem hat die größte Oppositionspartei CHP aber bereits eine Absage erteilt."
Wird die Wahl auch dann durchgeführt?
"Das wird sie auf jeden Fall, denn für das System von Erdogan sind Wahlen der demokratische Anstrich. Die Annullierung der Bürgermeisterwahl war allerdings für den türkischen Präsidenten ein Schritt hin in die Richtung einer offenen Autokratie."
Es gibt bereits erste Proteste seitens der Anhänger der Opposition. Wie hoch ist die Gefahr, dass die Situation in Istanbul eskalieren könnte?
"Die Spannung in der Stadt ist groß, es gibt Wut und ein immenses Frustpotenzial bei der Opposition. Allerdings beschränkt sich das auf die Stadtteile, in denen viele ihrer Anhänger leben. Allerdings glaube ich nicht, dass es aktuell zu Krawallen zwischen Erdogan-Anhängern und der Opposition kommen wird."
Warum nicht?
"Wenn überhaupt werden die Anhänger der Opposition eher mit den Sicherheitskräften aneinandergeraten. Diese könnten mit hoher Gewalt gegen Demonstranten vorgehen."
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Wie müssen sich die EU und Deutschland zu der Wahlwiederholung in der Türkei positionieren?
"Die Annullierung der Wahl ist ein verheerendes Signal. Der Absturz der Lira war nur der Anfang, die Türkei hat bei ausländischen Investoren und Anlegern durch die Entscheidung Vertrauen verloren. Es muss der türkischen Regierung jetzt klar gemacht werden, dass so ein Schritt auch politische Konsequenzen hat. Die EU sollte sich überlegen, ob eine Stadt wie Istanbul, die dann wahrscheinlich von einer nicht wirklich legitimierten Führung regiert wird, weiterhin Geld aus EU-Programmen erhalten sollte."