Streit um Neuwahl in Istanbul "Das türkische Volk ist seines Willens beraubt worden"
Die Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul stößt in der Türkei auf Wut und Unverständnis. Während Präsident Erdogan sich erfreut zeigt, schließt die Opposition die Reihen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die umstrittene Anordnung zur Annullierung und Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul begrüßt. Es handele sich dabei um den "besten Schritt" für das Land, sagte Erdogan bei einem Treffen von Abgeordneten seiner Partei AKP. Damit werde "unser Wille, Probleme im Rahmen von Demokratie und Gesetz zu lösen, gestärkt".
Die Opposition zeigte sich dagegen nach der Annulierung geschlossen. Die Chefin der nationalkonservativen Iyi-Partei, Meral Aksener, stellte sich hinter Noch-Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten Oppositionspartei CHP. Sie kritisierte die Entscheidung der Wahlbehörde und sagte vor ihrer Partei in Ankara, das türkische Volk sei seines Willens beraubt worden. "Ich schäme mich", sagte sie. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP kritisierte auf Twitter, die Behörde habe sich dem Druck der türkischen Führung gebeugt und eine Entscheidung gefällt, die "keinen Funken demokratische Legitimität" habe.
Der Kandidat der islamistischen Oppositionspartei Saadet, Necdet Gökcinar, erklärte nach Medienberichten seine Bereitschaft, bei der Neuwahl am 23. Juni auf eine Kandidatur zu verzichten. Er warte auf die Entscheidung der Parteiführung. Die Kommunistische Partei (TKP) erklärte bereits, ihre Kandidatin werde zugunsten Imamoglus nicht mehr antreten. Die Oppositionspartei HDP und Iyi hatten bereits am 31. März zugunsten Imamoglus darauf verzichtet, einen Bürgermeisterkandidaten in Istanbul aufzustellen.
Mehr als einen Monat nach der Wahl hatte die türkische Wahlkommission am Montag die Abstimmung in Istanbul wegen angeblicher Regelwidrigkeiten annulliert und eine Wiederholung angeordnet. Die Neuwahl sei nach einem Treffen des obersten Wahlvorstands verkündet worden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Damit gab die Kommission einem Antrag der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan statt. Noch im April hatte die Kommission den Wahlsieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu von der CHP anerkannt, allerdings wird ihm das Mandat nun wieder aberkannt.
Imamoglu hatte die Kommunalwahl in Istanbul am 31. März mit einem Vorsprung von nur rund 24.000 Stimmen vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen. Nach dem Einspruch der AKP und einer Neuauszählung in mehreren Bezirken schrumpfte der Unterschied zwar auf 15.000 Stimmen oder 0,2 Prozentpunkte, konnte von der AKP aber nicht mehr aufgeholt werden. Die AKP beantragte daraufhin eine Wiederholung der Abstimmung in Istanbul und forderte unter anderem eine Überprüfung der Wahlhelfer.
"Das ist schlicht und einfach eine Diktatur"
Imamoglu reagierte zunächst gelassen und teilte ein Video auf Twitter, das ihn beim Fastenbrechen mit einer Familie in Istanbul zeigt und sagte: "Alles wird sehr gut meine Bürger, meine lieben Leute. Alles wird gut." CHP-Vizechef Onursal Adigüzel zeigte sich dagegen empört: "Gegen die AKP bei der Wahl anzutreten ist erlaubt, aber gewinnen ist verboten", schrieb er auf Twitter. "Dieses System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert, ist weder demokratisch noch legitim. Das ist schlicht und einfach eine Diktatur."
Kurz vor Mitternacht verurteilte Imamoglu dann die Wahlkommission YSK bei einer Ansprache vor vielen Anhängern im Viertel Beylikdüzü: "Ich verurteile die Hohe Wahlbehörde", rief er. Es sei eine hinterhältige Entscheidung gewesen. Imamoglu machte darauf aufmerksam, dass auch die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr mit denselben, nun von der AKP beanstandeten Wahlhelfern stattgefunden habe. Dann sei die Wahl, die Präsident Recep Tayyip Erdogan im Amt bestätigt hatte, ja wohl auch fehlerhaft, meinte Imamoglu.
"Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen"
Imamoglu sprach seinen Wählern Trost zu. Manche seien hoffnungslos. Sie sollten nicht weinen, sagte Imamoglu, der sich im Lauf seiner etwa 20-minütigen Rede das Jacket auszog, die Hemdsärmel hochkrempelte und umgehend wieder mit dem Wahlkampf begann. "Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen", rief er. Die Menge im Hintergrund forderte in Sprechchören den Rücktritt der Wahlbehörde und skandierte "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" sowie "Dieb Tayyip" in Anspielung auf Präsident Recep Tayyip Erdogan, der auch AKP-Chef ist.
In mehreren Bezirken Istanbuls standen die Menschen an den Fenstern und schlugen auf Töpfe und Pfannen – eine Protestform, die sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 etablierte hatte. Das wochenlange Gezerre um das Ergebnis in der größten Stadt der Türkei wurde auch international aufmerksam verfolgt. Die Entscheidung der Wahlkommission stieß nun auf scharfe Kritik, auch aus Deutschland.
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Auch der Europarat kritisierte die Entscheidung. Die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen müssten vor dem Wahltag überprüft werden und nicht danach, betonte Generalsekretär Thorbjorn Jagland. "Die Entscheidung des Hohen Wahlrates hat das Potenzial, das Vertrauen der türkischen Wähler in die Wahlbehörden schwer zu beschädigen." Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth bewertete die Entscheidung der Wahlkommission als "Ergebnis massivsten Drucks von ganz oben".
Gefahr für angeschlagene Wirtschaft
Das türkische Außenministerium wies die "politisch motivierte Kritik" aus dem Ausland zurück. Auch AKP-Chef Ömer Celik forderte dazu auf, die Entscheidung der Wahlbehörde zu akzeptieren. Laut dem AKP-Politiker Recep Özel, der selbst in dem Gremium sitzt, hatten sieben Kommissionsmitglieder für eine Wiederholung der Wahl gestimmt, vier dagegen. Die Behörde habe unter anderem festgestellt, dass zahlreiche Vorsitzende der Wahlräte und deren Mitglieder keine Beamten waren. Das verstoße nach einer Änderung des Wahlgesetzes vom vergangenen Jahr gegen die Vorschriften. Die AKP hatte damals trotz Einspruchs der Opposition durchgesetzt, dass nur noch Staatsbedienstete den Vorsitz in Wahlräten innehaben dürfen.
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Die Entscheidung der Wahlkommission könnte sich auch auf die ohnehin angeschlagene türkische Wirtschaft auswirken und zu einem weiteren Verfall der Lira führen. Die Türkei befindet sich seit Ende des Jahres in der Rezession. Die Inflation liegt konstant hoch bei rund 20 Prozent. Vor allem Lebensmittel werden immer teurer. Analysten sagen, die wirtschaftliche Lage habe zum schlechten Abschneiden der Regierungspartei in den Großstädten beigetragen.
Erdogan: "Diebstahl an den Urnen"
Präsident und AKP-Chef Erdogan hatte hingegen schon kurz nach der Wahl von Regelwidrigkeiten und "Diebstahl an den Urnen" gesprochen. Am Samstag hatte er erneut deutlich gemacht, dass er die Abstimmung in Istanbul für unrechtmäßig hält. Er sprach von "Makel" und Korruption. Damit erhöhte er auch den Druck auf die Hohe Wahlkommission, dem Antrag auf Annullierung stattzugeben.
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Landesweit wurde Erdogans AKP bei der Kommunalwahl stärkste Partei. Allerdings verlor sie in Metropolen Zuspruch. Vier der fünf größten Städte des Landes gingen an die Opposition. Rund 57 Millionen Türken waren am 31. März dazu aufgerufen, in 81 Provinzen Bürgermeister, Gemeinderäte und andere Kommunalpolitiker zu wählen. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 84 Prozent.
Die Hauptstadt Ankara, die ebenfalls an die Opposition ging, und die Wirtschaftsmetropole Istanbul wurden 25 Jahre lang von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP in diesen Städten war ein Gesichtsverlust für Erdogan, der selbst einst Bürgermeister von Istanbul war.
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP