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Türkei-Wahlen – Experte: "Von Fairness kann keine Rede sein"


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Türkei-Wahl
"Von Fairness kann keine Rede sein"

InterviewVon Patrick Diekmann, Istanbul

Aktualisiert am 24.06.2018Lesedauer: 9 Min.
Recep Tayyip Erdogan bei einer Wahlkampfveranstaltung in Kahramanmaras: Der türkische Präsident nutze unerlaubter Weise auch staatliche Mittel für den Wahlkampf, sagt Experte Kristian Brakel.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdogan bei einer Wahlkampfveranstaltung in Kahramanmaras: Der türkische Präsident nutze unerlaubter Weise auch staatliche Mittel für den Wahlkampf, sagt Experte Kristian Brakel. (Quelle: POOL Presidency Press Service/ap)
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Die Türkei wählt – und Erdogan muss um die Macht bangen. In Istanbul sprach t-online.de-Redakteur Patrick Diekmann mit dem Experten Kristian Brakel über die Stimmung, mögliche Manipulationen und die Rolle der Kurden.

Es wird ernst in der Türkei. Heute werben die Kandidaten noch einmal bis 17 Uhr auf großen Veranstaltungen um die Unterstützung der Bürger. Am Sonntag wird abgestimmt. t-online.de-Redakteur Patrick Diekmann beobachtet die Wahl in Istanbul. Dort sprach er mit Kristian Brakel, dem Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, die den Grünen nahesteht. Bei einer Niederlage von Erdogan und der AKP werde die Lage "sehr gefährlich und hat das Potenzial zu explodieren", prognostiziert er.

Herr Brakel, wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in der Türkei vor der Wahl?

Kristian Brakel: Der Wahlkampf ist voll im Gange. Die Situation ist angespannt, weil man nicht genau weiß, wie die Wahl am Sonntag ausgehen wird. Die Opposition ist hoffnungsvoll, weil man das erste Mal seit Jahren das Gefühl hat, dass sich doch noch etwas ändern könnte.

Ist der Wahlkampf Ihrer Meinung nach fair? In den Straßen von Istanbul fallen vor allem eine sehr große Anzahl an Erdogan-Plakaten und riesige Banner auf.

Es gibt auch Banner der Opposition, aber von Fairness kann keine Rede sein. Die AKP von Präsident Erdogan ist mit dem Staat verwachsen und nutzt im Wahlkampf unerlaubter Weise auch staatliche Mittel. Da wird schon mal Werbung für Erdogan von einer Stadtverwaltung gemacht.

Wie sieht es mit Auftritten im Fernsehen aus?

Der Oppositionskandidat Muharrem İnce kommt zwar gelegentlich im Fernsehen vor, aber Erdogan hält in der Regel zwei Reden am Tag, die dann live vom türkischen Staatsfernsehen und auch anderen privaten Sendern übertragen werden. Also hat es Erdogan definitiv einfacher als die Oppositionskandidaten, die wenig und gar nicht vorkommen.

Wie nimmt die Bevölkerung dieses Ungleichgewicht auf?

Es kommt immer drauf an, wo man politisch steht. Die Türkei ist politisch sehr polarisiert. Erdogans Stammwähler machen circa 35 bis 40 Prozent der Wahlberechtigten aus. Die nehmen das Ungleichgewicht nicht wahr und sind der Ansicht, dass das System einigermaßen gut läuft. Die Opposition sieht natürlich, dass es sich nicht um freie und faire Wahlen handelt.

Befürchten Sie auch Manipulationen bei der Wahl?

Das ist relativ wahrscheinlich. Bei dem Verfassungsreferendum im letzten Jahr ist es mit hoher Sicherheit zu Manipulationen gekommen. Auch bei dieser Wahl ist es wahrscheinlich, dass es wieder zu Manipulationen kommt.

Sie sprechen von einem Stammwählerpotenzial von 35 Prozent für Erdogan. Warum genießt er diese Rückendeckung in der Gesellschaft?

35 Prozent ist ja nicht so viel, wenn man bedenkt, dass er und die AKP bei den letzten Wahlen rund 50 Prozent bekommen haben. In der Türkei gibt es nur eine geringe Anzahl von Wechselwählern. Viele Leute wählen eine Partei, weil sie für eine bestimmte Identität steht. Viele der Wähler von Erdogan und der AKP kommen vom Land, stammen aus ärmlichen Verhältnissen und sind dann zu Geld gekommen – die neue fromme Mittelschicht. Viele AKP-Wähler sind religiös und fühlten sich vor der Machtübernahme durch Ergodan deshalb durch diskriminierende Politik der Vorgängerregierungen ausgeschlossen. Diese Gruppierungen formen das Stammwählerpotenzial. Viele Menschen sagen, dass sie wirklich sehen können, was die AKP und Erdogan für sie gemacht haben.

Schadet es Erdogan, dass aktuell die Lira schwächelt oder dass es eine hohe Inflationsrate gibt?

Die Inflationsrate mehr als der Lira-Kurs. Für den durchschnittlichen Bürger ist der Währungskurs nicht ganz so wichtig, weil er ja keine Euros oder Dollar hat. Nur die Preise von importierten Gütern werden höher. Die Inflation spielt eine große Rolle und ist mittlerweile auch in der Mittelschicht angekommen. Die große Frage ist: Wie viele verknüpfen das schlechte wirtschaftliche Abschneiden mit der Regierung? Umfragen zeigen, dass viele Menschen Erdogan glauben und denken, dass es nicht unbedingt die Schuld der Regierung ist.

Wessen sonst?

Sie glauben der AKP, die sagt, dass es ausländische Mächte gebe, die Währungsmanipulation betreibe.

Obwohl viele Menschen der AKP vertrauen, sind diese Wahlen so spannend, wie lange nicht mehr. Glauben immer mehr Türken solch simplen Antworten nicht mehr?

Es gibt drei Faktoren, warum diese Wahl besonders spannend ist: Erstens ist es die letzte Wahl bevor das Präsidialsystem in der Türkei völlig in Kraft tritt. Zweitens ist es das erste Mal seit 2014, dass die Opposition einig auftritt. Letztlich hat vor allem Muharrem İnce ein spezielles Charisma entwickelt, das bei Auftritten und in den sozialen Medien in der Bevölkerung sehr gut ankommt. Das hätte man nur Erdogan selbst zugetraut, der auch als charismatischer Redner gilt.

Sie haben betont, dass die Opposition nicht mehr so gespalten ist wie bei früheren Wahlen. Bleibt diese Einigkeit, wenn es zu einer Stichwahl zwischen Erdogan und İnce kommt?

Das bleibt abzuwarten. Von der linkskurdischen HDP hat man bereits erklärt, dass man bei einer möglichen Stichwahl den aussichtsreichsten Oppositionskandidaten unterstützen möchte. Muharrem İnce hat dies auch erklärt. Es geht aber nicht nur um diese Abstimmung, sondern auch um das Danach. Wenn die AKP ihre absolute Mehrheit im Parlament verliert, hat Erdogan Neuwahlen und eine mögliche Koalition ins Spiel gebracht. Die CHP und die iYi-Partei haben ein Bündnis mit der AKP ausgeschlossen, aber ob sie das durchhalten, weiß man nicht. Die Opposition verfolgt auch abseits davon sehr unterschiedliche politische Ziele. Die HDP ist eine sozialistische Partei, während beispielsweise die iYi-Partei rechtsnational und staatstragend ist. Die Zusammenarbeit wird angesichts unterschiedlicher politischer Ziele sicherlich nicht einfach.

Lassen sich die Türken bei diesem Wahlkampf mitziehen? Ist die Mobilisierung größer als bei Wahlkämpfen zuvor?

Der Wahlkampf hat sich sehr langsam entwickelt. In den ersten Wochen war sehr wenig auf den Straßen zu sehen. Es ist die vierte Abstimmung innerhalb von drei Jahren und es gibt eine gewisse Müdigkeit, auch bei der AKP. Erdogan wirkt angeschlagen und macht Fehler. So zum Beispiel sagt er manchmal Dinge, die inhaltlich nicht zusammenpassen. Der AKP scheint die gute Botschaft ausgegangen zu sein.

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Wie meinen Sie das?

2002 wurde sie das erste Mal gewählt, weil es die einzige Partei war, die eine positive Vision für das Land hatte. Im jetzigen Wahlkampf werden von der AKP aber oft nur alte Projekte aufgewärmt und neue Projekte ergeben teilweise nicht sonderlich viel Sinn. Dagegen arbeitet man ganz stark mit einem nationalistischen Abwehrreflex, indem man behauptet, dass die Türkei von Feinden bedroht werde und man die AKP wählen müsse, damit das Land gegen diese Feinde gestärkt sei. Dem Wähler wird oft nicht mehr als eine negative Vision vermittelt.

Arbeitet die Opposition mit positiven Visionen?

Auch die Opposition hat manchmal diese Angstbotschaft, aber die Parteien sagen deutlich, was sie gerne anders als die AKP machen wollen. Dies ist ein großer Unterschied zu den Wahlen davor.

Diese Wahl ist der letzte Schritt zur Umsetzung des Präsidialsystems. Sind sich die Menschen der großen Bedeutung bewusst?

Es kommt darauf an, wie politisiert sie sind. Die Menschen haben natürlich ein Bewusstsein dafür, aber ob sie in letzter Konsequenz wissen, was die Verfassungsänderung bedeutet, darf man bezweifeln. Umfragen haben ergeben, dass letztes Jahr beim Verfassungsreferendum nur ein Drittel der Bevölkerung wusste, worüber abgestimmt wurde und dies war seitens der AKP auch beabsichtigt. Es war eine Abstimmung für oder gegen Erdogan.

Anderes Thema: Seit dem Putschversuch 2016 herrscht der Ausnahmezustand im Land und die Türkei kämpft im Irak gegen die PKK und in Syrien gegen die YPG. Wie sieht die Bevölkerung diese Konflikte?

Für den Kampf gegen die PKK hat man in der Bevölkerung ein sehr großes Verständnis, mit dem Ausnahmezustand sieht das schon anders aus. Zum einen ist die Türkei auf einem nationalistischen Narrativ gegründet worden, und der Kampf gegen die PKK und andere kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen hat lange Tradition. Im Jahr 2016 haben wir Terroranschläge erlebt, wobei auch die PKK für zivile Opfer mitverantwortlich ist. Auch wenn die AKP dies für die eigenen Zwecke ausschlachtet und den Konflikt ihrerseits eskaliert, ist auch die PKK keine unproblematische Gruppierung. So schlimm man die türkische Regierung finden mag, die PKK sind auch keine Engel.

Wenn Erdogan die Wahl gewinnen sollte, hätte er die letzte Hürde zu seinem Präsidialsystem genommen. Würde sich die Lage dadurch entspannen?

Ich glaube nicht, dass sich die Lage entspannen wird. Er hat zwar angekündigt, den Ausnahmezustand zu beenden, aber dies war vielmehr ein wahltaktisches Manöver. Im Präsidialsystem hat der Präsident viele der Vollmachten, die Erdogan aktuell aufgrund des Ausnahmezustands hat, ohnehin. Die Lage wird sich darüber hinaus auch nicht ändern. Die Justiz ist nicht mehr unabhängig und es gibt keine anderen Faktoren im System, die Erdogans Macht begrenzen könnten.

Wie gelingt es Erdogan, dies gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen?

Macht nutzt sich immer ab und Politiker verlieren mit der Zeit an Legitimität. Diese Legitimität bricht in der Türkei an allen Ecken und Enden ein, und deswegen gibt es auch so viele Menschen, die aktuell zu den Oppositionskandidaten wechseln. Erdogan muss immer wieder mit neuen Ideen kommen, um diese Legitimität neu gestalten zu können, und das schafft viele Verwerfungen im Land.

Zum Beispiel?

Im letzten Jahr konnte man dies gut beobachten. Erdogan hat das Narrativ gesponnen, dass die Türkei von den Europäern angegriffen wird. Die Türken sollten zusammenstehen und alle für ihn stimmen. Dies funktionierte, aber sorgte natürlich auch für massive Irritationen bei den europäischen Partnern und für wirtschaftliche Verwerfungen. Diese Verwerfungen kreieren immer neue Probleme, und auch Erdogan muss sich immer wieder neue Bündnispartner suchen. Doch seine möglichen Bündnispartner sind langsam aufgebraucht.

Hat sich Erdogan nicht viel mehr Konflikte gesucht als neue Bündnisse?

Er hat beides gemacht. Das beste Beispiel ist die Kurdenfrage. Erdogan wollte den Konflikt mit den Kurden lösen und schloss eine inoffizielle Koalition mit kurdischen Bevölkerungsgruppen. Als er sah, dass er trotzdem von diesen Gruppen nicht gewählt wird, hat er diesen Prozess wieder zerschlagen. Er hat sich zwar einen neuen Konflikt gesucht, aber er konnte so auch ein Bündnis mit der ultrarechten MHP eingehen, weil er sich als der Kämpfer gegen die kurdische Unabhängigkeit inszenieren konnte. Solche Allianzen kommen und gehen, aber es wird immer irgendetwas kaputt gemacht. So arbeitet auch die Bundesregierung natürlich weiter mit der Türkei zusammen, aber das Vertrauen ist auf dem Nullpunkt.

Sie haben die Kurden angesprochen. Welche Rolle spielen sie für den Ausgang der Wahl?

Wichtig sind die kurdischen Stimmen auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Frage, ob die HDP ins Parlament kommt. Wenn sie es schafft, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass die AKP ihre absolute Mehrheit verliert.

Die Kurden sind gespalten. Viele wählen auch die AKP und Erdogan. Warum?

Es gibt viele konservative und auch religiöse Kurden. Auf der anderen Seite spielen auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. Die Kurdengebiete im Südosten sind wirtschaftlich viel schwächer entwickelt als beispielsweise der Westen der Türkei. Aber die AKP hat auch sehr viel getan in den letzten Jahren, um im Bereich Infrastruktur viel auszugleichen. Das rechnet man der AKP an.

Wagen wir abschließend einen kleinen Ausblick: Sollte es der Opposition überraschend gelingen, Erdogan zu besiegen – würden die AKP-Anhänger eine Niederlage akzeptieren?

Es ist schwierig zu sagen. AKP-Anhänger rufen in den sozialen Netzwerken immer wieder dazu auf, sich für den Fall vorzubereiten und zu bewaffnen. Ob das eine Massenbewegung ist und ob diese von der Regierung gestützt wird, ist sehr schwierig zu sagen. Da sind viele Gerüchte im Umlauf.

Die türkische Gesellschaft ist zunehmend gespalten. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konflikte auf der Straße gewaltsam ausgetragen werden?

Das Gefahrenpotenzial ist in der Türkei hoch, weil der Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft nicht besonders groß ist. Es gibt sehr geschlossene politische Lager und die Tendenz, dass man sich nur noch mit Leuten aus dem eigenen Lager umgibt. Das ist sehr gefährlich und hat das Potenzial zu explodieren. Wenn wir an einen Punkt kommen, an dem es für die Regierenden nützlich erscheint, dass so etwas passiert, stehen wir vor einem Problem.

Könnten diese Konflikte auch zunehmend in Deutschland ausgetragen werden?

Das überträgt sich auch auf Deutschland. In Deutschland bekommen die AKP und die HDP bei Wahlen am meisten Stimmen. Es gibt dieses Konfliktpotential, aber ob sich ein Konflikt überträgt, hängt auch davon ab, was die Bundesregierung tut. Die AKP versucht seit vielen Jahren die Türken im Ausland für ihre Zwecke einzuspannen. Die PKK versucht dies auch. Im Grunde ist es aber ein Versagen der deutschen Integrationspolitik, wenn für die Leute die Politik in der Türkei wichtiger ist als das, was in Deutschland passiert.

Herr Brakel, vielen Dank für das Gespräch.

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