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Russland: Google an Propaganda-Verbreitung beteiligt?


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Propaganda in Russland
"Das könnte zu großer Unruhe führen"

InterviewVon Clara Lipkowski

Aktualisiert am 13.11.2023Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident sind die eigenen Verluste egal, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident lässt unabhängige Medien blockieren. (Quelle: Mikhail Metzel/dpa)
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Die Propaganda in Russland wird immer drastischer. Zu deren Verbreitung trage auch Google bei, sagt der russische IT-Experte und Linguist Lev Gershenzon. Doch dagegen könne zügig etwas unternommen werden.

Dass freie Berichterstattung in Russland nahezu unmöglich geworden ist, hat sich während des Krieges in der Ukraine manifestiert. Für die Verbreitung von Propaganda allerdings, sagt Lev Gershenzon, sei auch Google verantwortlich. Gershenzon war früher Chef von "Yandex News", dann wandte er sich von Russlands größtem Techkonzern ab und bekämpft nun im Ausland das Verbreiten von Falschnachrichten.

Im Interview mit t-online sagt er, dass Google dafür lediglich seine Handy-App "Discover" umprogrammieren müsste, der Wille aber fehle. Er erklärt, was die Kindersendung Mascha und der Bär mit YouTube zu tun hat und wie die Propaganda auf die russische Bevölkerung wirkt.

t-online: Herr Gershenzon, die Propaganda in Russland könnte derzeit massiver kaum sein. Sie kritisieren, dass Google dazu beiträgt. Wie das?

Lev Gershenzon: Ich war anfangs der Meinung, dass Google das nicht absichtlich macht. Dass es ein Fehler in der Software ist und Google-Entwickler diesen beheben können, wenn sie nur den Algorithmus ändern. Doch ich habe mich getäuscht, dass sie es sofort angehen würden.

Was genau ist das Problem?

Die Smartphone-App "Discover" von Google zeigt Nachrichten an, eine Überschrift, ein Bild, eine Kurzbeschreibung und Quellenangabe. In Russland zeigt sie dabei aber Inhalte von Propagandamedien an. Google beteiligt sich damit an der Verbreitung von Falschmeldungen. Das ist verheerend. Denn wenn man sein Handy aufmacht und ein bisschen rumscrollt, wird man mit dieser Propaganda konfrontiert. Discover zeigt auch unabhängige, in Russland blockierte Inhalte an. Sogar ukrainische Nachrichtenkanäle. Wir wissen nicht, in welchem Umfang, aber definitiv deutlich weniger als Propaganda oder neutrale Nachrichtenseiten.

Privat - Lev Gershenzon
(Quelle: Privat)

Lev Gershenzon, geboren in Moskau, IT-Experte und Linguist, war Chef von "Yandex News" (2007-2012), der Nachrichtensparte des Medienkonzerns und Google-Konkurrenten Yandex in Russland. Er ist erklärter Gegner des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, veröffentlicht Texte zu russischer Propaganda unter anderen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und arbeitet für "The True Story", einen unabhängigen Nachrichtenaggregator. Die Plattform wurde am 22. August 2023 gestartet und drei Tage später in Russland gesperrt. "Wir sind die Champions was das angeht", sagt Gershenzon, "so schnell wurde noch keine Seite in Russland gesperrt." Er lebt im Ausland.

Wie viele Menschen erreicht denn die Propaganda via Google Discover?

Das ist schwer zu beziffern. Wir wissen aber: Zwischen 85 und 90 Prozent aller Smartphones in Russland sind Android-Geräte. Auf all diesen Geräten sind Discover und der Chrome-Browser, der nach gleichem Prinzip funktioniert, standardmäßig vorinstalliert. Selbst wenn das russische Äquivalent, der Yandex-Browser, mitgeliefert wird. Also sehen 85 bis 90 Prozent der Smartphone-Nutzer in Russland dieses Angebot, das ist enorm.

Es gibt Erhebungen, die zeigen, dass fünfmal mehr Überschriften gelesen als Artikel tatsächlich angeklickt wurden. Google kennt genaue Zahlen, ich nicht. Aber wenn wir davon ausgehen, dass nur 20 Prozent der Leute tatsächlich auf die Überschriften klicken, ist schon das enorm. Aber wie Sie als Journalistin wissen, ist die Schlagzeile das Mächtigste an der News-Verbreitung. Sie erregt die Aufmerksamkeit und verankert sich in den Gehirnen und Köpfen der Menschen. Das ist wichtig für die Propaganda.

Wie hat da der Kreml seine Hände im Spiel?

Es ist kein Geheimnis, dass der Kreml unabhängige Medien vollständig blockiert. Zugleich kann die Regierung sehr viel Geld in gefügige Medien stecken. Unter anderem Yandex. Und: Die staatliche Zensurbehörde kann die Algorithmen austricksen. So erkläre ich mir das. Die Regierung greift auf diesem Weg direkt in den Datenverkehr ein: Die Algorithmen von Discover werden mit Inhalten von Propagandamedien gefüttert, die sehr populär wirken, sehr klickträchtig.

So erscheint Propaganda-Content auch für Google interessanter, weil er viel Traffic, also Reichweite verspricht. So machen Propagandamedien Millionen, manchmal zehn Millionen zusätzliche Klicks im Monat, das haben wir mithilfe der Datenrechercheseite liveinternet.ru festgestellt.

Sie arbeiten schon lange an diesem Thema. Beliebt sind Sie bei Google wahrscheinlich eher weniger.

Der Kontakt ist schwierig. Google kommuniziert kaum mit uns. Ein früherer Kollege, der heute offenbar bei Google arbeitet, meinte, man arbeite daran. Davon gesehen habe ich bisher aber noch nichts. Aber es zeigt: Wenn sie etwas ändern wollten, könnte es ganz schnell gehen.

Sie dringen mit Ihrer Kritik nicht durch?

Ich dachte, nach Ausbruch der Vollinvasion 2022 hat sich gezeigt: Das Produkt, also Discover, war einfach nicht gut. Aber man kann das Problem leicht beheben und sich entscheiden, das Richtige zu tun, damit Geld verdienen und Geschäfte machen. Eine echte Win-win-Situation. Sie verbessern das Produkt, und das womöglich nicht nur für diesen Teil des Marktes, sondern vielleicht auch in anderen Bereichen, anderen Regionen und so weiter. Die Nutzer sind zufriedener und das Unternehmen verliert kein Geld. Aber ich war am Anfang zu naiv. Ich dachte, ich als IT-Mensch weise einfach darauf hin, dass das Problem besteht, und ein paar andere IT-Mitarbeiter von Google bemerken das und sagen dann: Oh ja, danke, wir werden den Fehler beheben und ändern den Algorithmus. Aber das passiert einfach nicht. Und alles ist sehr intransparent.

Warum?

Google ändert weder die Algorithmen, noch gibt das Unternehmen uns Auskunft. Mich fragen immer alle: warum? Und ich sage: Weil Google es nicht nötig hat. Dieses Unternehmen ist riesig. Ich bin sicher, sie wollen der Ukraine keinen Schaden zufügen. Aber sie kümmern sich eben auch nicht darum. Sie fokussieren sich auf globale Entwicklungen. Gerade stecken sie in einem erbitterten Konkurrenzkampf um Open AI, der Entwicklung von frei zugänglicher Künstlicher Intelligenz. ChatGPT hat Google aufgeschreckt. Aber die Ignoranz gegenüber dem russischen Markt ist hochproblematisch. Denn die Propaganda wirkt, ganz konkret auch auf junge Männer, die im Glauben für die richtige Sache zu kämpfen, in den Krieg ziehen.

LENDLEASE-DEAL/GOOGLE
(Quelle: Reuters Staff/reuters)

Google hat t-online auf eine schriftliche Anfrage geantwortet: "Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine haben wir das Auftauchen russischer staatlich finanzierter Medien auf unseren Plattformen, einschließlich Discover, weltweit erheblich eingeschränkt. Wir arbeiten weiter daran, die Reichweite von unzuverlässigen Informationen zu verringern und vertrauenswürdige Informationen leichter zugänglich zu machen. Dazu gehört auch der Kampf gegen neue und ausgefeiltere Taktiken, mit denen die Richtlinien der Plattformen umgangen werden. Dies ist eine ständige Herausforderung, und unsere Teams sind fest entschlossen, unsere Arbeit in diesem Bereich fortzusetzen. Durch diese Bemühungen haben wir die Messlatte für die Qualität der auf Discover verfügbaren Informationen weiter angehoben." Ein Sprecher betont, dass Artikel der Zeitung "Komsomolskaja Prawda" bei Discover nicht ausgespielt werden. "Wir haben strenge Richtlinien, die Verlage befolgen müssen, um auf Discover zu erscheinen, und Inhalte, die dagegen verstoßen, werden entfernt. Wir erlauben keine schädlichen oder hasserfüllten Inhalte oder Inhalte, die trügerisch, manipuliert oder irreführend sind. Wir überwachen ständig die Quellen von Inhalten, um sicherzustellen, dass sie unseren Discover-Richtlinien entsprechen." Außerdem verweist das Unternehmen darauf, dass Nutzerinnen und Nutzer "jederzeit selbstständig kontrollieren und einstellen" könnten, was sie bei Discover angezeigt bekommen. "Sie können ebenso auswählen, Discover komplett auszuschalten." Angaben darüber, wie viele Menschen Discover in Russland erreicht, machte das Unternehmen gegenüber t-online nicht.

Profitiert denn Google selbst davon?

Liveinternet.ru hat zwar ermittelt, dass Discover mehr als 20 Millionen Klicks täglich generiert. Die Headline-Views – so viele Leute haben also die Überschriften gesehen – liegen demnach bei rund 100 Millionen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Google überhaupt Geld mit russischen Nutzern verdient. Google wurde vom russischen Staat mit riesigen Geldstrafen belegt. Und jetzt ist die russische Niederlassung von Google Konkurs gegangen. Und ich bin überzeugt davon: YouTube selbst kostet Google einen erheblichen Betrag.

Google blockiert Seiten wie die einigermaßen neutrale "Kommersant", lässt aber tsargrad.tv zu – pure Propaganda. Das wirkt willkürlich.

Ich habe auch keinen Schimmer, warum. Kurz nach Beginn des Krieges im Februar 2022 haben sie bei Discover einige Propagandaseiten gesperrt. Das war gut. Aber "Kommersant" haben sie am 18. Mai 2023 blockiert. Ohne irgendeine Begründung, ein wirklicher Schlag für die Versorgung der Russen mit echten Informationen. Die Zeitung hat vorher etwa eine Million Klicks am Tag über Discover bekommen, auf Anfragen der Zeitung nach dem Warum hat Google nicht reagiert. Klar, man kann "Kommersant" kritisieren, sie verwenden das Wort "Krieg" nicht, weil es der Kreml verbietet. Aber es gibt noch einen großen Unterschied zu den harten Propagandaquellen wie "Iswestija", oder "Komsomolskaja Prawda", Putins Lieblingszeitung. Für dieses Vorgehen von Google habe ich kein Verständnis.

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Wie viel bekommen die Menschen in Russland tatsächlich von den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine mit?

Das ist eine Frage, die ich definitiv nicht beantworten kann. Ehrlich gesagt denke ich, dass Ihnen diese Frage niemand beantworten kann. Was ich sehe: Viele einfache Russen wollen gar nicht unbedingt Details wissen oder tiefer graben. Ich bezweifle, dass viele Leute von den Kriegsverbrechen wissen. Vielleicht haben sie etwas gehört, vermuten etwas. Sie können es sich denken, aber die Fakten fehlen ihnen. Wenn sie dann sehen, dass Russland in diese vom Kreml verbreitet "globale Konfrontation" verwickelt ist und dann aufschnappen, dass der Westen eine Menge Waffen schickt, ist doch klar, dass es die Ukrainer und US-Amerikaner und Europäer sind, die diese Verbrechen begehen. Da ist es viel bequemer, sich gar nicht weiter damit auseinanderzusetzen und in dieser eigenen kleinen Welt zu bleiben.

Es heißt immer, per VPN, einem Tool, das den Standort eines Computernutzers zur Umgehung der Zensur verschleiert, kann man auch in Russland alles erfahren, wenn man nur will. Aber nutzen die Menschen in ländlichen Regionen, sagen wir in Nordsibirien, VPN? Das Fernsehen ist in Russland nach wie vor Informationsquelle Nummer eins. Und da läuft die Putin-Show von früh bis spät.

Es ist den Zensurbehörden im vergangenen Jahr gelungen, das freie Internet extrem zu beschränken. Sie haben Hunderttausende Internetseiten blockiert, mehr als 800.000 allein in der ersten Hälfte des Jahres 2023. Einige meiner Verwandten sind immer noch in Moskau. Sie bemühen sich, angemessene und vollständige Informationen zu erhalten. Aber es wird ihnen schwer gemacht, selbst mit VPN.

Interessanterweise gab es nach der Sperrung von Instagram in Russland einen sprunghaften Anstieg von VPN-Downloads. Instagram war bei jungen Leuten beliebt, klar. Aber auch bei vielen kleinen Unternehmen, die darauf Werbung für ihre Dienstleistungen schalten. Aber das Surfen mit VPN ist mühsam. Man muss ständig warten – dass Seiten laden, dass Bilder und Videos laden. Und das in einer Zeit, in der wir es gewohnt sind, über das Internet alles zu bekommen, und zwar sofort. Produkte, Informationen, Sprachübersetzungen, alles mit einem Klick. Das Internet hat die Leute faul gemacht, das ist ganz normal. Einen VPN zu installieren, der dann auch noch mühsam ist, schreckt ab.

Der Kreml greift durch, aber YouTube tastet er nicht an. Warum? Dort veröffentlichen kritische Journalisten und Politiker – Jurij Dud, Maxim Katz, das Team von Alexej Nawalny – Beiträge, die Millionen Menschen in Russland erreichen. Propagandisten wie Margarita Simonjan und Wladimir Solowjow sind dort gesperrt.

An dieser Frage arbeiten wir uns schon das ganze Jahr ab. Meine Einschätzung ist: Der Schaden, den die Regierung erleiden würde, wäre größer als der Vorteil.

Die 30 Millionen Nutzerinnen und Nutzer, die russische oppositionelle YouTuber monatlich etwa erreichen, sind eine große Zahl, aber es ist immer noch weniger als ein Viertel der Bevölkerung Russlands. Und wenn die Person ein YouTube-Video von Maxim Katz gesehen hat, bedeutet das nicht, dass diese Person ein ständiger Zuschauer und Unterstützer dieser Person ist.

Was ist der Vorteil für den Kreml?

Ein wichtiger, wohl der wichtigste Grund, auch wenn es erst mal verrückt klingen mag: YouTube ist in Russland ein kostenloser und definitiv der beliebteste Babysitter. Eltern zeigen ihren Kindern millionenfach die Sendungen, die dort angeboten werden, zum Beispiel Mascha und der Bär. Und für Frauen, die in Russland jetzt mit ihren Kindern alleine sind, weil ihre Männer in der Ukraine kämpfen oder gefallen sind, für Hunderttausende Familien ist das Leben zuletzt deutlich härter geworden. Und es wird schlimmer, wenn es wieder eine Mobilisierung gibt.

Oder der Kreml lässt ein russisches YouTube, ähnlich wie das schon bestehende RuTube, entstehen?

Man liest immer mal wieder von Experimenten, dass ein Klon von YouTube mit allen YouTube-Inhalten aufgebaut werden soll, dann aber ohne Oppositionskanäle. Aber ich glaube, dafür steht zu viel auf dem Spiel, und die Kosten eines Scheiterns wären zu hoch. Das könnte zu großer Unruhe in der Gesellschaft führen.

Herr Gershenzon, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Videogespräch mit Lev Gershenzon am 9. November 2023
  • Schriftliche Antwort von Google
  • bloomberg.com: "Pro-Putin Propaganda Flows Onto Android via Google Loophole" (englisch)
  • istories.media: "How Google Helps Russian Propaganda" (englisch)
  • euvsdisinfo.eu: "Lev Gershenzon: ‘The majority of Russians see the world very different from what it is in reality’" (englisch)
  • thetruestory.news (englisch)
  • liveinternet.ru (russisch)
  • kommersant.ru: "Стена не сразу строилась" (russisch)
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