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Zum journalistischen Leitbild von t-online.G20-Gipfel in Indien Der große Putin-Schock
Russland sieht sich durch das G20-Treffen in Indien ein Stück weit rehabilitiert. Trotzdem feiert Bundeskanzler Olaf Scholz das Gipfelergebnis als Erfolg. Wie passt das zusammen?
Die Gedenkstätte Raj Ghat ist Indien ein Ort mit großer symbolischer Schlagkraft. Hier wurde der indische Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi eingeäschert, nachdem er 1948 von dem radikalen Hindunationalisten Nathuram Godse ermordet worden war. Über 75 Jahre nach Gandhis Tod kommen die Staats- und Regierungschefs der G20 nun nach Raj Ghat und gedenken des Freiheitskämpfers.
Es ist das letzte Kapitel eines G20-Gipfels in Neu-Delhi, das der indische Premierminister Narendra Modi für eine große Propagandashow nutze. So legten die Staats- und Regierungschefs der einflussreichsten Industrie- und Schwellenländer am Sonntag mit beigefarbenen Schals um den Hals Kränze an der Gedenkstätte nieder.
Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow war vor Ort, ist nicht wie noch beim G20-Gipfel in Bali überhastet nach den Beratungen abgereist. Zumindest der Kreml wertet diesen Gipfel als Signal, dass Russland auf der weltpolitischen Bühne zurück ist und seine internationale Isolation langsam überwindet. Für den indischen Premier Narendra Modi war der Weg zu einer Einigung teilweise ein ziemlicher Spagat.
Aus Sicht vieler Beobachter aber geht von dem G20-Gipfel eine gefährliche Botschaft aus: Die Welt erlebte in Neu-Delhi inmitten des russischen Angriffskrieges in der Ukraine einen Putin-Schock.
Putin kehrt zurück
Denn in Indien wurde deutlich, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zunehmend als europäisches Problem wahrgenommen wird. Der Westen muss aufpassen, dass ihm im Ringen um die internationale Isolation Putins am Ende nicht die Front gegen den Kreml bröckelt. Denn in ihrer Abschlusserklärung blieben die G20 deutlich hinter dem zurück, auf das sie sich bei ihrem Gipfel 2022 auf Bali verständigt hatten.
Noch vor zehn Monaten wurde der Krieg in der Ukraine von den G20 "aufs Schärfste" verurteilt. Nun sprechen sie sich in Neu-Delhi allgemein für territoriale Integrität und gegen gewaltsame Landnahme aus. Das Ergebnis des G20-Treffens ist somit ein Warnsignal und ein schwerer Schlag für die Ukraine.
Diese Formulierung lebt von ihrer Zweideutigkeit. Der Westen mag damit Russland und die völkerrechtswidrige Invasion meinen, aber der Kreml wiederum kann darauf verweisen, dass laut russischem Recht die ukrainischen Gebiete russisches Staatsgebiet seien. Und obendrein kann China damit seinen Anspruch auf Taiwan begründen, das es als Teil der Volksrepublik ansieht.
Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Bali noch per Videoschalte zu den G20 sprach, ließ Indien dies bei diesem Gipfel nicht zu. Über die Gründe wurde in Neu-Delhi viel spekuliert. Experten sehen darin auch die Angst der indischen Organisation, dass sich auch Putin hätte zuschalten lassen. Das hätte eine Einigung erschwert.
Somit endete der Gipfel mit einem Minimalkompromiss der G20, der vor allem eine fatale Botschaft in die Welt sendet: Im Vergleich zum G20-Gipfel auf Bali ist die Verurteilung des russischen Angriffskrieges schwächer und das suggeriert, dass der internationale Zusammenhalt gegen Russland bröckelt. Oder kürzer: Putin kehrt zurück auf die Weltbühne, seinen Kriegsverbrechen zum Trotz.
"Die G20 hat nichts, worauf sie stolz sein kann"
Doch warum macht der Westen da mit? Das Urteil aus der Ukraine an der Abschlusserklärung ist auf jeden Fall vernichtend, die Wut ist groß. "Die G20 haben nichts, worauf sie stolz sein können", schrieb der Sprecher des Außenministeriums in Kiew, Oleh Nikolenko. Im sozialen Netzwerk X veröffentlicht er in roter Farbe markierte Korrekturen von Passagen der Abschlusserklärung, wie sie aus Sicht der Ukraine aussehen sollten. So sollte laut Nikolenko etwa in dem Text nicht von einem "Krieg in der Ukraine" die Rede sein, sondern klar von "Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine".
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Der Grund, warum die öffentliche Empörung von ukrainischer Seite nicht noch größer ausfällt, liegt vor allem daran, dass Kiew mit den westlichen Vertretern während der langatmigen G20-Verhandlungen eng kommuniziert hat. Wie westliche Diplomaten in Neu-Delhi gegenüber t-online erklären, sei sich Selenskyj bewusst darüber gewesen, dass nicht mehr herauszuholen sei. Denn bereits zuvor war in diesem Jahr eine Blockade des Gipfelbeschlusses durch Putin zu erwarten.
Der Kremlchef wollte sich nicht mehr die Blöße geben, wie in Bali eine Erklärung unterzeichnen zu lassen, die den eigenen Krieg geißelt. In Indien stand China zudem noch vehementer an der Seite Russlands. Moskau war so nicht völlig isoliert und nicht so stark unter Druck, wie noch in Indonesien.
Das Ergebnis ist also ein Formelkompromiss. Es ist eine Einigung, bei der der eigentliche Konflikt ungelöst bleibt, doch jeder behaupten kann, sich durchgesetzt zu haben. Der Westen fährt damit eine riskante Strategie, die Putins Krieg legitimieren könnte.
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18 G20-Staaten gegen Russland und China
Für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) könnte der Schock beim nächsten G20-Gipfel nun vorprogrammiert sein. So droht Putin trotz eines auf ihn ausgestellten internationalen Haftbefehls keine Festnahme, sollte er beim kommenden G20-Gipfel in Brasilien persönlich erscheinen. "Wenn ich der Präsident Brasiliens bin und wenn er nach Brasilien kommt, wird er auf keinen Fall verhaftet", sagte Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dem indischen Nachrichtenportal Firstpost am Samstag in Neu-Delhi.
Der Bundeskanzler könnte 2024 dann also wieder mit Putin an einem Tisch sitzen. Es ist eine schleichende Rückkehr Russlands auf die Weltbühne. Dabei lässt das Land nicht von seinen Kriegszielen ab: Putin lässt noch immer zivile Infrastruktur in der Ukraine bombardieren und sein Außenminister Lawrow fiel in Indien nur damit auf, dass er die bekannten antiwestlichen Kriegsnarrative befeuerte.
Von Einsicht bei Putin also keine Spur, ein Kompromiss und eine Verhandlungsbereitschaft Russlands sind nicht in Sicht. Deswegen ist es die westliche Verhandlungsstrategie, China und Russland auf lange Sicht zu isolieren, indem westliche Vertreter die G20-Mitglieder in Südamerika, Afrika und Asien massiv umworben werden. So betonte auch Scholz in Pressestatements in Neu-Delhi immer wieder, mit welcher Geschlossenheit der russische Angriffskrieg verurteilt wird.
In der Tat standen 18 G20-Mitglieder gegen China und Russland in der Frage. Es war aber vor allem Gastgeber Indien, der auf jeden Fall eine Einigung haben wollte, die alle Staats- und Regierungschefs tragen können. Eine Formulierung wie "Die meisten Staaten verurteilen den russischen Angriffskrieg" sollte vermieden werden. Das hätte die russische Isolation noch einmal manifestiert.
Schlechte Nachrichten für die Ukraine
Deswegen bleibt bei Scholz und seinen Verbündeten lediglich der Eindruck, dass man in Indien erfolgreich darin war, die Bündnisse mit Indien und dem globalen Süden zu festigen. Letztlich wollte der Westen auch nicht gegen eine Erklärung stimmen, die den Ländern des globalen Südens viel bringt. Indiens Premierminister Narendra Modi hatte sein Land mit dem G20-Vorsitz als Fahnenträger des globalen Südens profiliert. Greifbarstes Ergebnis des Gipfels ist die Aufnahme der Afrikanischen Union (AU) als neues Mitglied. Mehr dazu lesen Sie hier.
Indien geht so als Sieger aus diesem Gipfel, Modi hat mit der Unterstützung des Westens eine Abschlusserklärung bekommen und konnte sich innenpolitisch stark inszenieren.
Für den Westen zeigt die G20-Einigung dagegen eines: Für viele G20-Staaten ist die Verurteilung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine keine moralische Selbstverpflichtung. Für den Westen wird es auch in den kommenden Jahren ein erbitterter Kampf werden, um gegen China und Russland politische Mehrheiten zu verteidigen. Das haben Scholz und Biden im Blick, wenn sie nach dem Gipfel in Neu-Delhi von einem Erfolg sprechen. Aber dieser Erfolg ist fraglich.
Eine Abschlusserklärung, ein Papier, wird am Ende nicht darüber entscheiden, wer den Krieg in der Ukraine gewinnt oder verliert – das hat schon die Verurteilung des Angriffskrieges beim Gipfel in Indonesien 2022 gezeigt. Die hatte auf dem Schlachtfeld keine Auswirkung. Trotzdem war sie für die Ukraine ein wichtiges Signal. Das aber sendeten die G20 diesmal nicht. Putin fühlt sich nun gestärkt. Dass er seinen Krieg länger durchhält als in internationaler Isolation, ist so wahrscheinlicher. Der G20-Gipfel in Indien war am Ende darum vor allem eines: eine schlechte Nachricht für die Ukraine.
- Gespräche beim G20-Gipfel in Neu-Dehli
- Nachrichtenagenturen dpa und afp