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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland nach Prigoschins Ende Angst und Schrecken
Der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ist womöglich ermordet worden. Wladimir Putin wird hinter der Tat vermutet. Wie sehr erschüttert dieser Flugzeugabsturz Russland – und insbesondere die Eliten?
Sollte es stimmen, dass Jewgeni Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz durch die Hand des Kremlchefs Wladimir Putin ums Leben gekommen ist, wäre es wohl einer der spektakulärsten Tode, die ein Kremlkritiker in der jüngsten Zeit gestorben ist.
Zwar kennt die russische Geschichte Vergiftungen von Staatsfeinden, Fensterstürze und spurloses Verschwinden – Kritiker, die mit dem Flugzeug abstürzen, sind aber eher die Ausnahme. Zwei Monate nach dem "Marsch auf Moskau" der Wagner-Gruppe ist der Absturz des Privatjets vom Typ Embraer Legacy, mutmaßlich mit Wagner-Chef und Unternehmer Jewgeni Prigoschin an Bord, verunglückt. Steckt Putin dahinter? Wie wirkt dessen vermutliches Ende in Russland nach? Droht das Land nun noch autoritärer zu werden, die Eliten und Bevölkerung noch verunsicherter? Zwei Experten geben Antworten.
Nico Lange, Sicherheits- und Russlandexperte, zweifelt nicht daran, dass Wladimir Putin hinter dem Flugzeugabsturz steckt. Er erkennt in Putins Verhalten das Vorgehen eines Mafiabosses. Und "nach den Regeln der Mafia ist dieser Absturz eine Machtdemonstration und Stärkung Putins." Der russische Präsident verbreite "Angst und Schrecken". International hingegen werde es nun schwieriger für ihn, sagte der Politikberater t-online, denn: "Wer will mit Putin noch irgendetwas vereinbaren?"
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Innenpolitisch wird es nun laut Lange "deutlich unübersichtlicher. Die Eliten werden sich jetzt fragen: Können wir uns auf irgendetwas verlassen, wenn Kritiker derart aus dem Weg geräumt werden?" Es scheint, als sei niemand mehr sicher in Russland. "Würden Sie an deren Stelle jetzt noch in Russland in ein Flugzeug steigen?"
Diejenigen, die in der Vergangenheit mit Prigoschin sympathisierten, etwa hochrangige Militärs, könnten sich jetzt einem Risiko ausgesetzt sehen, sagt Lange. Zugleich sei es schwierig, "von außen die Strukturen in diesem Machtsystem zu durchschauen." Rätselhaft war etwa der Besuch einer der stellvertretenden Verteidigungsminister kürzlich in Afrika, wo Wagner-Truppen aktiv sind. Sollte er für den Kreml die lokalen Strukturen regeln?
"Hinter den Kulissen hat Putin sicher schon das Wagner-Geschäft aufgeteilt und seine Leute für bestimmte Posten ausgewählt", sagt Lange. Wer hingegen dabei leer ausgeht, könnte gefährdet sein.
Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Er war 2019 bis 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Lange lebte und arbeite zuvor in der Ukraine und in Russland. Er spricht Ukrainisch und Russisch.
Kurzfristige Stabilisierung
In Russland selbst sieht der Osteuropaforscher Fabian Burkhardt hingegen zumindest kurzfristig eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse. "Prigoschin hat sich nach dem Aufstand relativ frei bewegt. Es gab ein großes Fragezeichen, warum Putin ihn gewähren ließ, warum die Bestrafung ausblieb", sagt der Politikwissenschaftler vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung t-online. Diese Spannung habe sich nun gelöst.
Einige Eliten sind jetzt wohl erleichtert über Prigoschins mutmaßliches Ende. Der Wagner-Chef hatte es in den vergangenen Monaten in Russland zu großer Bekanntheit gebracht, fernab der Staatspropaganda-Shows im Fernsehen seine eigenen Social-Media-Kanäle bespielt und dabei immer wieder gegen den russischen Staat, vor allem aber die Armeeführung gefeuert. Für seine Söldnertruppen in der Ukraine war er wie im Wahlkampf durchs Land gezogen und hatte Kämpfer rekrutiert, auch in Gefängnissen.
Dass dieser Lautsprecher nun wegfällt, erleichtere insbesondere den Teil der Eliten, der in der Innenpolitik tätig sei, sagt Burkhardt: Mitarbeiter der Präsidialverwaltung, die Regierungskanäle in sozialen Medien bespielen, jene, die Wahlen organisieren wie die im September in mehreren russischen Regionen. "Für sie ist es eine Genugtuung zu sehen: Illoyalität wird bestraft." Große Unruhe unter den Eliten, hochrangigen Militärs, Technokraten, Wirtschaftsbossen erwartet Burkhardt nicht.
Putin nutzt im Militär die Rotation
Denn: Putin habe sich in der Vergangenheit zwar einiger Kritiker entledigt, dies seien aber keine Säuberungen im klassischen Sinn. Oft habe er Kritiker lediglich versetzt: Iwan Popow etwa, ein General, der sich über die Zustände in der Armee in der Ukraine beschwert hatte. Er wurde entlassen und tauchte dann in Syrien wieder auf.
Auch der General Sergej Surowikin war zwar wochenlang verschwunden und wurde seines Postens enthoben – behielt aber seinen Dienstgrad und bleibt wohl Teil des Verteidigungsministeriums. Lesen Sie hier mehr zu Surowikin. "Solange es geht", sagt Burkhardt, "versucht Putin die militärische Elite um sich herum zu halten. Er nutzt die Rotation. Darin ist Putin sehr konservativ."
Fabian Burkhardt forscht am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg unter anderem zu politischen Institutionen in Russland und politischen Systemen in postsowjetischen Staaten. Er ist Redakteur der "Russland-Analysen" und der "Ukraine-Analysen".
Dennoch wirkt die Botschaft des Flugzeugabsturzes: Bestraft wird, wer den Status quo unter Putin anficht – und zwar drastisch. Das könnte Elitenvertreter ruhig halten. Doch hat Putin weitere Opfer im Visier?
Offen ist die Zukunft des Befehlshabers in der Ukraine, Waleri Gerassimow, und des Verteidigungsministers, Sergei Schoigu. Beide hatte Prigoschin immer wieder heftig attackiert. Putin aber hatte sie unangetastet gelassen. Fraglich ist, was mit ihnen passiert, wenn es für die russischen Streitkräfte in der Ukraine wieder schlechter läuft. "Möglicherweise hat sich Putin Schoigu und Gerassimow für diesen Zeitpunkt aufgespart. Feuert er sie später, sieht es nicht so aus, als habe er Prigoschins Druck nachgegeben."
In der Bevölkerung erwartet Burkhardt keine großen Eruptionen. Zwar glaubten viele Menschen, dass Putin für Prigoschins mutmaßlichen Tod verantwortlich sei, gingen aber davon aus, dass die wahren Hintergründe ohnehin niemals ans Licht kommen werden. Also gehe man achselzuckend zur Tagesordnung über. In dieser Logik geht Putin letztlich gestärkt aus der Sache hervor: Durch die Ausschaltung des Widersachers Prigoschin räumt er eine mögliche Alternative zu ihm selbst aus dem Weg – und inszeniert sich damit einmal mehr als "starken Mann". "Auch wenn Putin für viele Menschen eine schlechte Alternative ist, ist er von den schlechten Alternativen immer noch die beste."
Experte Lange wiederum hält es für wahrscheinlich, dass die Folgen der mutmaßlichen Ermordung ins nächste Jahr hineinreichen. Im März stehen Präsidentschaftswahlen an. Es wird erwartet, dass diese weder fair noch frei zugehen werden. Dennoch, sagt Lange, könnte die Wahl deutlich mehr Menschen ins Zweifeln bringen, ob sie einen Präsidenten wollten, der sich wie ein Mafiaboss verhalte.
- Telefonat mit Fabian Burkhardt, 25. August 2023
- Telefonat mit Nico Lange, 24. August 2023
- Eigene Recherche