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Erdoğan: Präsident der Türkei auf Konfrontationskurs mit Russland


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Erdoğan auf Konfrontationskurs mit Russland
Hat er sich verzockt?


19.07.2023Lesedauer: 5 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident ließ zuletzt mit prowestlichen Tönen aufhorchen. (Quelle: Dominika Zarzycka/imago-images-bilder)

Lange gefiel sich der türkische Präsident in seiner Vermittlerrolle zwischen Moskau, Kiew und dem Westen. Doch zuletzt stieß Erdoğan Russland mehrfach vor den Kopf. Warum?

Nein, für Recep Tayyip Erdoğan war es nicht nur ein erfolgreicher Tag. Der türkische Präsident sprach von einem "historischen Tag", als in Istanbul im Juli 2022 eine Vereinbarung zur Lieferung von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer mit Vertretern aus Russland und der Ukraine unterzeichnet wurde.

"Mit dem in den kommenden Tagen startenden Schiffsverkehr öffnen wir einen neuen Atemweg vom Schwarzen Meer in viele Länder der Welt", verkündete der Präsident nach der Einigung. Erdoğan hatte den Deal federführend mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres verhandelt. Das sogenannte Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland war geboren.

Prestigeprojekt gescheitert

Fast auf den Tag genau ein Jahr später ist der Deal jetzt geplatzt: In der Nacht von Montag auf Dienstag war das Getreideabkommen ausgelaufen. Der Kreml hatte schon zuvor einseitig verkündet, man strebe keine Verlängerung mehr an. International wird durch das Ausbleiben der Lieferungen über das Schwarze Meer eine Hungerkatastrophe befürchtet, die vor allem die ärmsten Regionen der Erde betreffen könnte.

Lange Zeit hatte sich der türkische Präsident in der Vermittlerrolle zwischen dem Westen und Russland präsentiert: Die Verhandlung des Getreidedeals galt auch für Erdoğan als Prestigeprojekt. Doch diesen diplomatischen Erfolg kassiert Kremlchef Wladimir Putin nun und scheint sich von Erdoğan abzuwenden – oder ist es andersherum? Hat der türkische Präsident sich verzockt oder steckt dahinter tatsächlich eine neue Strategie, die sich eher am Westen orientiert?

Erst Schweden, dann die Ukraine?

Tatsächlich stieß der türkische Präsident den Kreml zuletzt mehrfach vor den Kopf: Im Vorfeld des Nato-Gipfels in der vergangenen Woche ließ die Türkei mehrere hochrangige Kommandeure des ukrainischen Asow-Regiments ausreisen. Sie hatten zuvor gegen Russland um die Stadt Mariupol gekämpft und waren in russische Gefangenschaft gekommen, ehe sie an die Türkei überführt wurden. Ursprünglich sollten sie bis zum Ende des Krieges nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.

Eine zweite Nachricht verursachte noch mehr Aufregung: Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ließ Erdoğan die Weltöffentlichkeit wissen, es gebe "keinen Zweifel daran, dass die Ukraine die Mitgliedschaft in der Nato verdient." Ebenso gab er vor dem Gipfel sein Einverständnis für den Beitritt Schwedens, um im Gegenzug wieder Bewegung in den Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft seiner Heimat zu fordern.

Der Schritt kam auch deswegen überraschend, da es zwischen der Türkei und Brüssel seit Jahren keine Annäherung, ja nicht einmal echtes gegenseitiges Interesse gegeben hatte.

"Hat Erdoğan im Regen stehen lassen"

Dass Erdoğan Putin derzeit die kalte Schulter zeigt, hat wohl mehrere Gründe. Für Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations ist der Kurs des türkischen Präsidenten keine Überraschung: Putin habe schon länger durchblicken lassen, dass er das Getreideabkommen nicht mehr fortführen will.

"Damit hat er Erdoğan im Regen stehen lassen", sagte Gressel im Gespräch mit t-online. Das ganze Interview lesen Sie hier. Deshalb seien die jüngsten prowestlichen Äußerungen der Türkei bereits als Reaktion auf das Ende des Getreideabkommens zu verstehen. "Putin musste mit Erdoğans Vergeltung rechnen, weil beide Herren sehr ähnlich gestrickt sind."

EU-Beitritt derzeit unrealistisch

Auf der anderen Seite könnte Erdoğan auch tatsächlich einen neuen prowestlichen Kurs einschlagen: Schließlich war der EU-Beitritt lange ein Projekt, das er intensiv verfolgte, auch wenn das schon einige Jahre zurückliegt.

Allerdings lässt die Realpolitik daran derzeit große Zweifel aufkommen. In den vergangenen Jahren hatte das Land einen zunehmend autoritären Kurs eingeschlagen. Vorläufiger Höhepunkt war die Reaktion auf den Putschversuch des Militärs im Jahr 2016, als Erdoğan unter anderem zahlreiche Beamte und weitere unliebsame Personen aus dem Staatsapparat entfernte oder ins Gefängnis steckte.

Die EU-Kommission ließ daraufhin die Beitrittsverhandlungen ab 2018 ruhen. In einem Bericht im vergangenen Herbst gab die Kommission an, dass die Türkei sich seitdem in puncto Rechtsstaat und Demokratie weiter zurückentwickelt habe.

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In der Öffentlichkeit steht Putin gerade als Buhmann da, der den Getreidedeal platzen ließ und damit weltweit Millionen Hungernde gefährdet. Doch das Ende des Abkommens könnte auch für die Türkei politisch riskant werden: Die Ukraine hat bereits bekräftigt, auch ohne russische Zustimmung weiter Getreide über das Schwarze Meer zu exportieren. Wie wird sich Ankara dazu verhalten?

"Die Schwarzmeer-Getreideinitiative kann und sollte weitergehen – wenn ohne Russland, dann ohne Russland", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montagabend. Doch wie das konkret umgesetzt werden soll, ist noch unklar. "Das hängt davon ab, ob Versicherer und Reedereien dazu bereit sind, sich dem Risiko auszusetzen, dass die Schiffe von der russischen Marine abgeschossen werden", sagte Außen- und Sicherheitsexperte Gerhard Mangott t-online. Mehr dazu lesen Sie hier. Nach Angaben Kiews soll es Schiffseigner geben, die sich weiterhin Lieferungen vorstellen könnten.

Sollten tatsächlich weitere Schiffe mit Getreide auslaufen, könnten sich für die Türkei möglicherweise neue Fragen ergeben. Der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) brachte zuletzt ins Gespräch, dass solche Exporte möglicherweise auf dem Seeweg durch die Türkei geschützt werden könnten:

"Die Türkei garantiert ab einem Punkt X, dass es eine sichere Passage gibt", sagte Mölling in einem Podcast des Magazins "Stern" am Dienstag. Wie das allerdings konkret funktionieren soll, könne er aktuell noch nicht sagen.

Knackpunkt F-16-Jets?

Klar ist, dass ein möglicher Schutzkorridor durch den Nato-Staat Türkei auch die restlichen Bündnisstaaten auf den Plan rufen dürfte. Denn eine mögliche Konfrontation mit dem russischen Militär will das Bündnis bisher unter allen Umständen vermeiden.

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Eine weitere mögliche Erklärung für Erdoğans Wende hat weder mit dem Hoffen auf EU-Erleichterungen noch mit dem türkischen Ärger über Russland zu tun – sondern eher mit den USA: Nachdem die Türkei verkündet hatte, den Nato-Beitritt Schwedens nicht mehr zu blockieren, wurde dem Land ebenfalls die langersehnte Lieferung von F-16-Kampfjets vom Weißen Haus in Aussicht gestellt.

Offiziell heißt es zwar, dass eine solche Lieferung bei der Entscheidung der Türkei keine Rolle gespielt habe. Hinter vorgehaltener Hand wird jedoch darüber spekuliert, dass sich US-Präsident Joe Biden von Erdoğan einen stärker prowestlichen Kurs wünscht – und ihn womöglich jetzt auch bekommt.

Erdoğan will mit Putin telefonieren

Der türkische Präsident selbst hat das Getreideabkommen offenbar noch nicht aufgegeben: An diesem Donnerstag will er mit Kremlchef Putin telefonieren. Im kommenden Monat treffen beide Präsidenten auch persönlich aufeinander. Bislang wird über das Abkommen schon auf Ebene der Außenminister gesprochen, allerdings ohne erkennbaren Erfolg.

Abseits von Prestigefragen und möglichen Jetlieferungen gibt es für den türkischen Präsidenten allerdings noch einen weiteren Grund, warum er das Abkommen noch nicht abschreiben will: Laut UN-Angaben ist die Türkei selbst nach China und Spanien aktuell das Land, das den drittgrößten Anteil des Getreides bezieht.

Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
  • un.org: "Black Sea Grain Initiative Joint Coordination Centre" (englisch)
  • neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu: "Turkey 2018 Report" (englisch)
  • neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu: "Turkey 2022 Report" (englisch)
  • stern.de: "Sicherheitsexperte Mölling für Getreidelieferungen gegen Russlands Willen"
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