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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Das wird Putins Armee zum Verhängnis"
Die ukrainische Gegenoffensive kommt nicht voran. Es gibt keine Durchbrüche, aber in Russland wächst die Unruhe – ein bekannter General wird zurückgepfiffen. Russlandexperte Gustav Gressel über die Lage im Ukraine-Krieg.
Bisher gibt es keinen Durchbruch. Die Frontlinien im Ukraine-Krieg verschieben sich aktuell kaum, trotzdem wird erbittert gekämpft, es gibt hohe Verluste auf beiden Seiten. Bislang konnte die ukrainische Armee bei ihrer Gegenoffensive noch keine großen Gebietsgewinne verzeichnen. Doch zumindest ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit etwas Hoffnung im Gepäck vom Nato-Gipfel in Litauen zurückgekehrt.
Die Ukraine bekommt Scalp-Raketen aus Frankreich und hat damit ein weiteres Waffensystem, mit dem sie russische Stellungen weit hinter den Frontlinien angreifen kann. Militär- und Russlandexperte Gustav Gressel erklärt im Interview, warum diese Angriffe schmerzhaft für Russland werden können und warum Kremlchef Wladimir Putin noch immer an seinen Kriegszielen festhält.
t-online: Herr Gressel, beim Nato-Gipfel in Vilnius hat die Ukraine weitere Waffenpakete zugesagt bekommen. Ein Erfolg für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj?
Gustav Gressel: Es ist zumindest nicht schlimmer geworden.
Das klingt nicht nach Zufriedenheit.
Die Ukraine hat zwar weitere militärische Unterstützung zugesagt bekommen, aber der Nato-Gipfel war für die Ukraine eher wie ein Ramstein-Treffen auf Ebene der Regierungschefs. (Anm. d. Red.: Bei Treffen auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein beraten der Westen und die Ukraine seit Kriegsbeginn regelmäßig über Militärhilfen.) Darüber hinaus sind wir nach dem Gipfel so schlau wie vorher.
Aber sind weitere Waffenlieferungen nicht genau das, was die Ukraine aktuell im Zuge ihrer Gegenoffensive braucht?
Ja, aber die angekündigte Unterstützung bestand aus Zusagen, die an und für sich schon lange in der Pipeline waren und die ohnehin gekommen wären. Aber natürlich: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die militärische Lage in der Ukraine und die weitere Unterstützung das Entscheidende. Und Selenskyj hatte zumindest auch die Chance in Litauen, persönlich mit US-Präsident Joe Biden zu reden.
Gustav Gressel
ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.
Immerhin haben die USA und auch die G7 Sicherheitsgarantien für die Ukraine skizziert – unabhängig von einem Nato-Beitritt. Ist das nicht viel wert?
Das wird abzuwarten sein. Die G7-Staaten wollen bilateral mit der Ukraine aushandeln, welche militärische Unterstützung die ukrainische Armee in nächster Zeit und nach dem Krieg braucht. Das ist jedoch alles sehr schwammig formuliert. Im Grunde wurde die Frage, wie es nach dem Krieg weitergehen soll, vertagt. Aber zugegeben: Da der Krieg noch länger dauern wird, ist das nicht das drängendste Thema.
Doch immerhin liefert Frankreich nun Scalp-Marschflugkörper. Das war ein gewichtiger Schritt für die Ukraine.
Das ist für die Ukraine sehr wichtig, weil es die einzigen Waffensysteme sind, mit denen die Ukraine die volle Tiefe des Besatzungsgebietes erreichen kann. Mit diesen Marschflugkörpern kann sie russische Nachschublinien, Kommandoposten oder Logistikzentren beschießen, und Russland kann sie nur schwer abfangen. Das wird aktuell Putins Armee zunehmend zum Verhängnis.
Die ukrainische Gegenoffensive kommt kaum voran, was auch an den tief gestaffelten Verteidigungslinien der russischen Armee liegt. Sind diese Marschflugkörper aktuell deshalb das wichtigste Waffensystem der Ukraine?
Natürlich können die Ukrainer damit das Leben der Russen extrem erschweren. Aber man darf auch nicht unterschätzen, dass so ein Mittel auch stark davon abhängt, dass die ukrainische Armee den Standort von Zielen genau ausmachen kann. Natürlich sind es wichtige und gute Waffen, aber ihr effektiver Einsatz hängt von einer guten Aufklärung ab.
Trotzdem schlagen russische Militärblogger Alarm aufgrund der effektiven ukrainischen Raketenangriffe. Auch der russische General Iwan Popow hat die Militärführung kritisiert und wurde direkt vom Kreml abgesetzt. Was war der Hintergrund?
Popow hat der russischen Armeeführung Versäumnisse bei der Kriegslogistik, bei der Vorbereitung und der Ausbildung der Soldaten vorgeworfen. Er wirft der Armeeführung vor, den Krieg nicht ausreichend ernst zu nehmen und nicht flexibel genug zu sein. Das erinnert an die Kritik von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin.
Diese Kritik kommt in einer Phase des Krieges, in der die russischen Verteidigungslinien bisher zu halten scheinen. Wo sehen Sie aktuell die größten Probleme für Putin?
In dieser Woche waren die Gebietsgewinne der Ukraine im Süden eingeschränkt. Doch beide Seiten haben hohe Verluste, und es ist die Frage, ob die Russen oder die Ukrainer diese Abnutzung besser kompensieren können.
Dabei wäre die Ukraine aktuell im Nachteil, weil sie angreifen muss. Oder?
Das ist unklar. Die ukrainische Armee meldet auch sehr hohe Verluste auf russischer Seite. Das könnte auch auf Entscheidungen von Putin zurückzuführen sein.
Warum das?
Der russische Präsident hatte offenbar seiner Armee befohlen, vor allem im Oblast Donezk wieder Offensivoperationen durchzuführen. Diese Angriffe waren aber erfolglos und haben die russischen Reserven dezimiert. Und das ist auch Teil der Kritik Popows an der russischen Militärführung: Russland verschwendet Reserven, die es eigentlich zur Verteidigung der Linien im Süden benötigt.
Bisher folgenlos?
Wir werden sehen, ob sich das in den nächsten Tagen und Wochen rächt und ob die Ukraine Fortschritte machen kann. Bislang gibt es keinen Durchbruch durch die russischen Linien. Wir müssen abwarten.
Warum trifft Putin derartige Entscheidungen? Er weiß doch wahrscheinlich, dass die russische Armee ihre Reserven für die Verteidigung braucht.
Putin selbst ist relativ optimistisch, was den Zustand seiner Armee angeht. Wahrscheinlich bekommt er geschönte Zahlen der eigenen Verluste vorgelegt und geht deshalb davon aus, dass seine Armee siegreich ist. Er sieht zwar wahrscheinlich auch die Schwierigkeiten, aber er scheint zu glauben, dass die ukrainische Armee kurz vor dem Kollaps ist und keinen Nachschub mehr hat. Diese Lesart können wir aus seinen öffentlichen Aussagen ziehen.
Aber das ist doch ein Irrglaube.
Klar. Natürlich hat auch die ukrainische Armee logistische Probleme mit dem Nachschub. Das ist schwierig, aber aktuell nicht dramatisch und existenzbedrohend. Aber die Ukraine hat im Gegensatz zu Russland qualitativ aufgerüstet. Sie hat es viel besser geschafft, gut ausgebildete und erfahrene Soldaten am Leben zu halten und ihre taktischen Fähigkeiten zu verbessern. Putin sieht dagegen nur das quantitative Kräfteverhältnis und geht davon aus, dass seine Armee am Ende deshalb schon siegen wird. Und wie gesagt: Ich gehe davon aus, dass die Zahlen, die dem Präsidenten vorgelegt werden, geschönt sind.
Also könnte Putins Unwissen zum strategischen Vorteil für die Ukraine werden.
Das kann zum strategischen Vorteil werden, wenn die Ukraine so ausgerüstet ist und so viele Kapazitäten hat, dass sie diesen Vorteil auch nutzen kann.
Auch international wird die Lage für Putin nicht einfacher. Zuletzt hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Selenskyj in Ankara empfangen und ukrainische Asow-Kämpfer freigelassen. Hat das den Kremlchef überrascht?
Das sollte Putin nicht überraschen.
Warum?
Erdoğan hat sehr viel Geld, Zeit und Prestige investiert, um das Getreideabkommen zwischen Russland und der Ukraine auszuhandeln. Für den türkischen Präsidenten war das ein persönlicher diplomatischer Erfolg. Aber Putin hat angekündigt, das Abkommen nicht verlängern zu wollen. Damit hat er Erdoğan im Regen stehen lassen.
Erdoğans Schritt war also erwartbar?
Zumindest war klar, dass der türkische Präsident dies nicht auf die leichte Schulter nimmt. Putin musste mit Erdoğans Vergeltung rechnen, weil beide Herren sehr ähnlich gestrickt sind.
Zuletzt wurde beim Getreideabkommen auf den letzten Drücker immer noch eine Einigung gefunden. Könnte das nicht kommende Woche wieder so passieren?
Klar, aber das allein ist nicht das Problem. Besonders im Süden der Ukraine, wo viel Getreide produziert wird, sind die Bewässerungssysteme zusammengebrochen. Deshalb fällt ein Großteil der Ernte im Sommer aus und man weiß aktuell gar nicht, wie hoch die Getreideproduktion überhaupt ausfallen wird. Das ist eine Katastrophe.
Was für Folgen hat es, wenn die Getreidelieferungen ausfallen?
Das hätte massive Folgen, auch für Deutschland. Auch in Deutschland werden im Herbst die Lebensmittelpreise steigen. Aktuell wird noch die Ernte aus dem vergangenen Jahr verschifft, die in Silos eingelagert wurde. Aber nun besteht natürlich die Frage, wie es weitergehen soll und ob die Silos wieder gefüllt werden können.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.
- Gespräch mit Gustav Gressel