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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Überfremdung? Die letzte Stadt, die noch an den Brexit glaubt
Die Kleinstadt Boston ist der letzte Ort in Großbritannien, wo die Menschen den EU-Austritt mehrheitlich für eine gute Idee halten. Woran liegt das?
Schöne Fachwerkhäuser, eine große gotische Kirche im Stadtzentrum, ein Krankenhaus mit guten Jobchancen, das alles bei strahlendem Sonnenschein: Wer den Bildern im Imagefilm der Universität von Lincoln glaubt, gewinnt den Eindruck von einem idyllischen Sommerparadies – der Ort Boston, eine gewöhnliche englische Kleinstadt an der Ostküste der Insel.
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Wer sich aber länger mit dem 35.000-Einwohner-Städtchen befasst, findet fast ebenso schnell heraus, wofür Boston sonst noch steht: Mitte der Nullerjahre galt der Ort etwa als die Stadt, in der die meisten Briten übergewichtig waren. 2016 kam Boston noch vor London auf die höchste Mordrate in ganz England und Wales – und im selben Jahr stimmten dort 76 Prozent der Wähler für den Brexit, so viele wie sonst nirgends auf der Insel.
Kornkammer der Briten
Seit rund drei Jahren sind die Briten nun offiziell nicht mehr Mitglied der EU. Inzwischen aber zweifeln offenbar immer mehr Menschen, ob sie bei der Volksabstimmung die richtige Entscheidung getroffen haben: Laut der kürzlich veröffentlichten Umfrage "UnHerdBritain 2023" hält die Mehrheit der Menschen in Schottland, England und Wales den EU-Austritt mittlerweile für falsch.
Einzige und letzte Ausnahme: Boston. Hier glauben 41 Prozent der Befragten weiter, dass der EU-Austritt die richtige Entscheidung war, während 37 Prozent sich heute gegen den Brexit aussprechen. Warum ist die Stimmung gegen die Europäische Union gerade hier besonders stark?
Wer die brexitfreundliche Stimmung verstehen will, muss sich die wirtschaftliche Lage der Grafschaft Lincolnshire und von Boston genauer ansehen. Fast ein Drittel der Jobs kommen in der Stadt aus der Landwirtschaft. Die Region um Boston gilt als Kornkammer Großbritanniens: 30 Prozent des gesamten britischen Gemüses kommt von dort, genauso wie 18 Prozent der Geflügelproduktion.
Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte von Boston war das Jahr 2004, als zehn neue Staaten der EU beitraten. In der Folgezeit kamen viele Menschen aus Portugal, Polen oder dem Baltikum in die Gegend, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. 2011 war Boston der Ort in Großbritannien, der prozentual den höchsten Anteil an Migranten aus Osteuropa hatte. In gerade einmal sieben Jahren hatte sich der Anteil damit fast versechsfacht.
"Haben die Stadt gerettet"
Das Problem dabei: Wirklich angekommen sind die zahlreichen EU-Ausländer in Boston offenbar nie. In einem Integrationsranking des konservativen Thinktanks Policy Exchange aus dem Jahr des Brexit-Votums landete Boston landesweit auf dem letzten Platz.
Entsprechend feindselig ist seitdem die Stimmung in der Stadt. Ein Lokalpolitiker der Brexit-Partei Ukip sagte 2016 dem Magazin "Spiegel": "Die kommen hierher und als Erstes beantragen sie eine Sozialwohnung. Und dann andere Sozialleistungen."
Doch es gibt noch eine zweite Version der Geschichte, die anders klingt als nach einem Ort, der angeblich unter Überfremdung leidet. "Die Zuwanderer haben die Stadt gerettet", sagte der Wirtschaftsprofessor Ian Barnes von der Universität Lincoln 2015 der "Frankfurt Allgemeinen Zeitung." Man sei gerade in der Landwirtschaft abhängig geworden von den billigen Arbeitskräften aus dem Ausland, da viele Einheimische die Jobs nicht mehr wollten. Zwischen 2012 und 2019 steigerte sich das Pro-Kopf-Einkommen in Lincolnshire von 19.630 Pfund auf fast 23.900 Pfund. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Region damit zur unteren Hälfte Großbritanniens gehört.
Tatsächlich lag die Arbeitslosenquote in der Stadt häufiger unter als über dem landesweiten Schnitt. "Wir sind hierhergekommen für ein besseres Leben. Wir arbeiten hart, wir zahlen Steuern, wir kaufen ein", sagte ein polnischer Boston-Bewohner 2016 dem "Spiegel" – und kritisierte stattdessen die englische Bevölkerung der Stadt: "Die wollen doch gar nicht arbeiten. Die beantragen doch nur Sozialleistungen."
- sz.de: "Boston, die europafeindlichste Stadt Großbritanniens"
- bbc.com: "Brexit: Views from Boston, Britain's most Eurosceptic town" (englisch)
- spiegel.de: "Und plötzlich doch Verlustangst"
- spiegel.de: "Die gespaltene Stadt"
- Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Albträume in Lincolnshire" (Ausgabe 20.7.2015, kostenpflichtig)
- faz.net: "Endlich ausatmen" (kostenpflichtig)
- britain.unherd.com: ""Britain was wrong to leave the EU"" (englisch)
- lincolshireworld.com: "Boston named '˜most murderous' town in England and Wales" (englisch)
- theguardian.com: "Lincolnshire: Home of the porker?" (englisch)
- lincolshirelive.co.uk: "Life in Boston where EU immigration has changed the face of the town" (englisch)
- lincolshirelive.co.uk: "Prime Minister Boris Johnson visits Boston's Pilgrim Hospital" (englisch)
- policyexchange.org.uk: "Index of Integration" (englisch)
- nomisweb.co.uk: "All people - Economically active - Unemployed (Model Based)Boston" (englisch)
- ons.gov.uk: "Regional economic activity by gross domestic product, UK: 1998 to 2019" (englisch)