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Politologe nach Rücktritt von Liz Truss: "Großbritannien ist ein Zirkus geworden"


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Politbeben in London
"Die Briten haben die Nase voll"

  • Sonja Eichert
InterviewVon Sonja Eichert

Aktualisiert am 21.10.2022Lesedauer: 6 Min.
Die zurückgetretene Premierministerin Liz Truss: "Der Schaden ist angerichtet", sagt Anthony Glees.Vergrößern des Bildes
Die zurückgetretene Premierministerin Liz Truss: "Der Schaden ist angerichtet", sagt Anthony Glees. (Quelle: Jessica Taylor)
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Der vierte britische Premierminister in gut drei Jahren: Der britische Politologe Anthony Glees nennt das ein Affentheater – das dringend ein Ende haben müsse.

45 Tage hat sie durchgehalten, am Donnerstagmittag brach sie unter dem Druck zusammen. Liz Truss ist als Chefin der Konservativen Partei und damit auch als Premierministerin zurückgetreten.

Die Nachfolgerin von Boris Johnson sollte Großbritannien aus der Krise führen, die der Skandalpremier hinterlassen hatte. Stattdessen ist das Chaos nun noch größer – sowohl im Land als auch in der Tory-Partei.

Das kann so nicht weitergehen, sagt Anthony Glees, Politologe und Historiker von der Universität Buckingham. Im t-online-Interview erklärt er, was den Briten nun bevorsteht, was König Charles damit zu tun hat und warum er als Tory-Mitglied seine Hoffnungen ausgerechnet in den Chef der gegnerischen Labour-Partei setzt.

t-online: Herr Glees, Liz Truss war nur 45 Tage britische Premierministerin. Aber kommt ihr Rücktritt nicht trotzdem viel zu spät?

Anthony Glees: Ja, der Schaden ist angerichtet. Mit ihrem früheren Schatzkanzler Kwasi Kwarteng hat Truss eine Politik betrieben, die Großbritannien Milliarden gekostet hat. Finanzpolitisch geht es Großbritannien nach der Ernennung von Jeremy Hunt zum neuen Finanzminister und nun ihrem Rücktritt zwar wieder besser. Aber was es braucht, wäre politische Stabilität.

Wie erreicht man die?

Mit Neuwahlen. Aber die Tories sind dagegen. Sie haben noch zwei Jahre die Mehrheit, erst im Dezember 2024 sind regulär wieder Wahlen. Sie müssen nur jemanden finden, der die Partei vereinen kann, dann wäre das die Lösung.

Ich bin da aber sehr skeptisch. Die Tory-Partei ist in viele Teile aufgesplittert. Ich sehe keinen einzigen, der sie wieder zusammenbringen könnte.

Anthony Glees (Archivbild): Der Brite plädiert für Neuwahlen.
Anthony Glees (Archivbild): Der Brite plädiert für Neuwahlen. (Quelle: Jens Krick/imago-images-bilder)

Anthony Glees (74) ist Politologe und Zeithistoriker, emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Europastudien an der Universität von Buckingham. Er gilt als Kenner deutsch-britischer Beziehungen, europäischer Angelegenheiten sowie Sicherheits- und Geheimdienstfragen.

Wer Parteichef wird, wird auch Regierungschef. Der ehemalige Skandalpremier Boris Johnson erwägt eine erneute Kandidatur.

Er sagt, es sei im nationalen Interesse, dass er wiedergewählt wird. Boris Johnson ist noch Abgeordneter, möglich wäre es also. Aber wenn er das macht, bringt er auch seine eigene Geschichte wieder mit. Ich glaube nicht, dass die Partei das akzeptieren würde.

Und die anderen Nachfolgekandidaten? Es wird zum Beispiel Johnsons ehemaliger Schatzkanzler Rishi Sunak gehandelt, der dann in der Stichwahl gegen Truss verlor.

Sunak hat recht gehabt: Die Politik von Liz Truss war ein Kindermärchen. Aber sie hat ihn besiegt, zwei Drittel der Tories haben für sie gestimmt, nur ein Drittel für ihn. Die Tory-Mitglieder würden Sunak nur sehr ungern akzeptieren. Und ich glaube, auch die britischen Wähler wären skeptisch: Er ist Millionär, seine Frau ist Inderin und hat in Großbritannien nicht ordentlich Steuern gezahlt. Ich denke nicht, dass er es schaffen könnte, sich jetzt durchzusetzen.

Welche möglichen Kandidaten gibt es noch?

Der neue Schatzkanzler Hunt sagt, er wird nicht kandidieren. Die zurückgetretene Innenministerin Suella Bravermann möchte, aber gilt als rechts – Partei und Wahlvolk würden sie vermutlich nie akzeptieren.

Dieser Mist lässt sich nur lösen, wenn man das Parlament auflöst und neu wählen lässt. Und das muss der König machen.

Trauen Sie König Charles III. diese Art der politischen Einmischung zu?

Wenn Königin Elizabeth noch leben würde, wäre es etwas anderes, glaube ich. Sie mischte sich eigentlich kaum ein, aber sie war vernünftig, und sie liebte Großbritannien. Ich denke, sie würde sagen: Nein, so geht das nicht weiter.

Die Meinungsumfragen sind klar: Die Briten wollen diese Tory-Regierung nicht, auch nicht unter einem anderen Anführer. Die Mehrheit ist für Neuwahlen. Der König könnte sich also dafür aussprechen, das würde man respektieren. Aber er müsste die Courage haben, das den Tory-Parteiführern zu sagen.

Und die hat Charles nicht?

Dafür ist er noch nicht lange genug König. Man braucht ziemlich viel Courage, um sich als Staatsoberhaupt gegen die Regierung zu stellen. Die Tories würden sagen: Eure Majestät, Sie müssen sich aus Parteipolitik raushalten.

Aber der König sollte dann antworten: Mit Parteipolitik hat das gar nichts zu tun, Großbritannien ist ein Zirkus geworden. Das ist keine Regierung mehr, in diesem Zirkus will jeder Clown den Hauptclown spielen. Das geht nicht, meine Damen und Herren.

Wir müssen jetzt Neuwahlen abhalten, um eine Regierung zu bekommen, die vom Wähler getragen wird. Kein Wähler hat Liz Truss gewählt, und auch ihren Nachfolger wird keiner gewählt haben. Was den Briten zurzeit beschert wird, das ist unmöglich. So kann man nicht regieren.

Wenn König Charles aber zögert, und die interne Nachfolgersuche bei den Tories schwierig wird: Wie kann es dann überhaupt weitergehen?

Ich sehe eine Krise ohne Ende. Aber man hat mich schon bei Boris Johnson gefragt, ob er Premierminister werden könnte, und ich habe gesagt: ja. Dann hat man mich gefragt, ob er wieder verschwinden wird. Ich habe gesagt: ja. Er ist ein Gauner, ein skrupelloser Lügner, aber er wird wieder verschwinden.

Man hat mich zu Liz Truss gefragt. Ich habe gesagt: Sie ist nicht klug genug, um Premierministerin zu sein in dieser komplexen Zeit, sie wird schnell wieder gehen. Nun ist sie gegangen. Und jetzt sage ich: Ohne Neuwahlen wird es nicht gehen.

Die Folgen für die Tories wären fatal. Glauben Sie, dass die Partei freiwillig ihre Macht abgibt?

Stimmen die Umfragen, würden sie aus dem Parlament ausradiert werden. Aber dann hätten sie auch die Chance, sich irgendwie zu erneuern. Meines Erachtens wäre es das Beste, wenn sich die Partei aufteilen würde, in eine christlich-demokratische Zentrumspartei und eine Brexit-Partei.

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Stichwort Brexit: Welche Rolle spielt der Austritt Großbritanniens aus der EU vor zweieinhalb Jahren?

Der Brexit ist im Grunde genommen die Ursache all dieser Probleme, ob wirtschaftlich oder politisch. Die Exporte in die EU sind um 17 Prozent geschrumpft. Das kann uns nicht reicher machen, nur ärmer. Und solange wir die Europäische Union als Feind betrachten, wird sich das nicht ändern. Also muss eine neue Lösung her.

Wer könnte diese Lösung bringen?

Die Tories haben schon zweimal versucht, mit ihrer Politik aus der Wirtschaftskrise zu kommen: zuerst durch die Wahl von Liz Truss und die Ernennung von Kwasi Kwarteng. Als er gefeuert wurde, hat das die britische Staatskasse Millionen gekostet.

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Sie versuchten es wieder mit der Ernennung von Jeremy Hunt. Wieder hat es nicht funktioniert – zumal Truss teils völlig anderer Meinung war als Hunt. Eine Partei, die so gespalten ist wie die Tories, wo die Leute die Realität nicht sehen, wo es zu Krawallen kommt wie am Mittwoch im Unterhaus: Das ist keine britische Art, Politik zu machen. In Italien oder der Türkei vielleicht, aber bei uns? Das muss ein Ende finden.

Alle müssen jetzt zusammen hart arbeiten für eine bessere Zukunft. Das kann man nur, wenn man eine Regierung hat, der die Menschen vertrauen. Die gibt es nicht, und man findet unter den Tories niemanden, der die Rolle ausfüllen könnte.

Was ist mit Keir Starmer, dem Chef der Labour-Partei?

Starmer ist ein vernünftiger Mann. Man kann Vertrauen zu ihm haben – und das habe ich auch, obwohl ich Tory-Mitglied bin. Er hat gesagt, die Brexit-Frage sei geklärt, er würde es also nicht anders machen. Es gehe nur darum, den Brexit jetzt besser zu machen. Da stimme ich mit ihm überein – leider, aber das ist eine Tatsache.

Und was sagen die Briten?

Laut aktuellen Umfragen meinen 77 Prozent, die Regierung macht Mist. Mehr als 50 Prozent würden Labor wählen, nur 23 Prozent die Tories. Ich glaube, es ist ziemlich klar, dass die Briten die Nase voll haben.

Es muss ein Ende gefunden werden. Es muss wieder eine Zeit geben, in der wir nicht jeden Tag eine politische Krise in Großbritannien haben. Die Leute haben es satt: Preissteigerungen bei Lebensmitteln von bis zu 20 Prozent, Preissteigerungen bei Benzin und Diesel, lange Wartezeiten im nationalen Gesundheitssystem. Das dauernde Hin und Her, das macht die Leute völlig fertig.

Gewöhnliche Briten wollen Stabilität, Freiheit, Jobs, und wenn sie krank sind, wollen sie wieder gesund werden. Dieses Affentheater, das will kein vernünftiger Mensch. Aber das scheinen die Tories nicht zu verstehen.

Herr Glees, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Anthony Glees am 20.10.2022
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