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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Queen-Begräbnis Der Wahnsinn
Diverse Staatschefs reisen zum Begräbnis der Queen. Ist das Kitsch? Oder Trauer über den Verlust von Konstanten in der Welt? Über einen Tag, der wohl nicht wiederkommen wird.
Und dann, als die Nationalhymne erschallt, da lächelt Lion. Es ist 12 Uhr an diesem Montag in London, der Gottesdienst für Elizabeth II. neigt sich dem Ende zu. Aber der etwa vierjährige Lion steht vor dem Hyde Park in London und hat Reiswaffeln in der Tasche des Vaters entdeckt.
Aus den Lautsprechern erklingt "God Save the King". Der kleine Lion schaut auf die umherstehenden Menschenmassen, dann wieder zu den Reiswaffeln. Sein Vater muss zwischendurch telefonieren und ist abgelenkt. Und trotzdem bleiben beide dort stehen, davon bringt sie nichts ab. Reiswaffeln und Telefonate, beides nicht so wichtig. Wenigstens ein bisschen von der Prozession wollen sie sehen, nur das ist wichtig an diesem Montagmittag.
Queen Elizabeth II. ist gestorben. Und London wegen ihrer Beerdigung im Ausnahmezustand. Dutzende Fernsehsender übertragen die Zeremonie in Echtzeit für ein Milliardenpublikum. Die Welt schaut auf diese Stadt an diesem Montag. Am Himmel stehen Helikopter, ihre Rotorblätter zerschneiden die Herbstluft.
Staatsgäste aus allen Winkeln der Welt
Sie sind alle gekommen: US-Präsident Biden, Bundespräsident Steinmeier, der französische Präsident Macron, der italienische Präsident Mattarella, die First Lady der Ukraine Selenska, Kanadas Premier Trudeau, der brasilianische Präsident Bolsonaro. Diverse Royals aus ganz Europa. Und und und. Mehr als 500 Staatsgäste aus allen Winkeln der Welt sind angereist. Nur Despoten wie Wladimir Putin sind nicht erwünscht.
Viel größer geht es nicht. Eine Ausnahmesituation, wie sie wohl nicht wiederkehren wird. Über 70 Jahre lang regierte die Queen und war doch eine Monarchin ohne reale Macht. Eine Königin aus einer Welt von gestern. Und trotzdem fliegt die Welt von heute zu ihrer Beerdigung nach London. Warum?
"Für uns ist es unglaublich, dass sie tot ist"
Etwa 24 Stunden vor der Zeremonie, in einer der großen Straßen bei der berühmten Victoria Station: Ein Bobby, ein britischer Polizist, beobachtet den Verkehr, die Menschen drücken sich an ihm vorbei. Minutenlang geht das so, einige wollen in Richtung des Buckingham Palace. Der ist abgesperrt, aber das wissen viele hier noch nicht und versuchen es trotzdem.
Der Bobby betrachtet das Gedränge vor sich und sagt irgendwann: "Die Menschen wissen, was für ein großer Tag morgen kommt." Sein Blick wandert von rechts nach links: "Man kann sich das von außen vielleicht nicht vorstellen: Aber für uns ist es wirklich unglaublich, dass sie tot ist."
Die Menschenmassen schieben sich weiter, manche bleiben in Kitsch-Geschäften hängen. Tassen für umgerechnet 22 Euro das Stück mit dem Gesicht der Queen, T-Shirts mit dem Gesicht der Queen, Kühlschrankmagnete mit dem Gesicht der Queen. Und dazu immer der Satz: "Forever in our Hearts." Eine Frau vor dem Laden hat sich ein royales Kostüm angezogen, eine lebendige Foto-Gelegenheit. Elizabeth fürs Selfie.
Eine Königin im Durchhalten
Vielleicht hat die Verehrung viel mit ihr selbst, und nicht so viel mit dem royalen Gesamtkunstwerk zu tun. Wenn man sich das noch mal anschaut, ihre Krönung im Jahr 1953, es wirkte fast surreal. Wie die damals 25-Jährige in ihrem gigantischen royalen Gewand versinkt. Klein sitzt sie auf dem Thron, hält die Insignien der Macht in der rechten und linken Hand. Und dann wird ihr auch noch die Krone aufgesetzt, man möchte fast sagen: übergestülpt.
Es ist schon ein Wunder, dass diese junge Frau in ihrem Amt nicht einfach unterging und verschwand. Doch sie hielt sich eisern an ihren Treueschwur, machte ihrem Volk Mut, zuletzt eindrucksvoll in der Corona-Pandemie. 70 Jahre auf dem Thron. Eine Königin im Durchhalten.
Nun hält ihr Volk durch. Tagelang standen die Menschen in einer Schlange, um Abschied zu nehmen. Teilweise warteten sie 24 Stunden. Einige mit Bier, viele mit Geduld. Mindestens 350.000 von ihnen sahen so noch einmal den Sarg, die Innenstadt Londons ist brechend voll. Wer am Vorabend des Staatsbegräbnisses die Straße vor dem Big Ben überqueren wollte, gelangte in ein Gedränge. Geschubst, geschüttelt, viele sind gerührt.
Die BBC verschickte am Sonntagabend eine Push-Nachricht, dass um 20 Uhr eine Schweigeminute angesetzt sei. Es wurde stiller, ein bisschen.
Der letzte Queen-Rausch
Die Verehrung der Queen, so erzählen es einem die Menschen hier in Großbritannien auf der Straße, rühre auch aus dem Gefühl, dass sie eben immer schon da war. Zumindest, so lange die meisten Menschen zurückdenken können. Man ging zur Schule, man heiratete, man bekam Kinder, und immer saß da dieselbe Frau im Buckingham Palace. Mit ihrer Disziplin war sie eine Garantin für Kontinuität. Ihr Nimbus der Macht speiste sich auch aus ihrer 70 Jahre langen Regentschaft. Charles wird schon allein wegen seines Alters nicht so lange regieren können.
Während dieses großen, letzten Queen-Rausches in London fliegen die Staatsgäste ein. Was erzählt eigentlich all das über die Zeit, in der wir leben? Sie wirkt natürlich seltsam anachronistisch, diese Huldigung. Die Welt gerät aus den oft zitierten Fugen: Ukraine-Krieg, Rezession, kalter Winter. Neuer Kalter Krieg?
Und die Mächtigen der Welt reisen nun nach London. Gesehen hätten sich viele ohnehin in New York, dort findet diese Woche die UN-Vollversammlung statt. Doch vorher soll es London sein. Denn die Queen ist nicht mehr da. Zerbröseln da gerade die roten Linien? Ist diese Zusammenkunft auch eine Selbstvergewisserung? Wir halten zusammen? Es wirkt ein bisschen, als hinge alles miteinander zusammen.
Die Straßen sind leer, viele Geschäfte geschlossen
Am Montag liegt die Themse still da, kaum ein Schiff fährt. Wer doch mal eine Brücke findet, die man überqueren kann, darf das nur zu Fuß tun. Fahrräder müssen dabei teilweise geschoben werden. Es wirkt, als wolle London für diesen letzten großen Tag noch einmal die Geschwindigkeit insgesamt herunterschrauben.
Diverse Läden sind geschlossen, der Himmel ist wolkenverhangen. Manche Straßenverkäufer versuchen, Union-Jack-Fahnen für ein paar Pfund unters Volk zu bringen. Autos sind praktisch nicht in Sicht, dafür viele Fußgänger. Wo auch immer die Polizei die Menschen in Richtung Prozession schickt, sofort wird Folge geleistet. Alle fokussieren sich auf dieses Begräbnis.
Und da kommt auch schon der Bundespräsident. Schwarze Autos, schwarzer Anzug, man wechselt ein paar Worte. "Eine sehr beeindruckende Trauerfeier" sei das gewesen, wird Steinmeier später im ZDF-Interview sagen. Und ergänzen: Erstaunlich unbefangen sei sie gewesen, die Queen, als er sie mal traf. Der Bundespräsident, der sonst nicht für ausschweifende Worte bekannt ist, wirkt etwas beeindruckt von der Nahbarkeit der verstorbenen Monarchin. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, weshalb jetzt so viele sich aufmachen: diese seltene Mischung aus Disziplin, Durchhaltewillen und Humor.
Ein Ausnahmeereignis
Es gibt ein Foto vom Montag, man muss den Bundespräsidenten darauf regelrecht suchen. Dicht gedrängt mit den anderen Trauergästen, hinten in der Mitte taucht er dann auf. Wimmelbilder mit Staatsoberhäuptern – wann gab es das zuletzt? Wann wird es das wieder geben?
Selbst die wichtigsten Gäste, mit Ausnahme des US-Präsidenten, werden in Bussen durch London kutschiert, anders ist die schiere Menge nicht zu bewältigen. Die Beerdigung der Queen, sie ist tatsächlich ein Ausnahmeereignis.
Biden ist schnell wieder weg
Die meisten Würdenträger tragen sich ins Kondolenzbuch der königlichen Familie ein. In der Stadt schieben sich die Menschen in Richtung der Schlange zur Prozession durch die Straßen und Parks. In der Kirche singen die Trauergäste "Love Divine, All Loves Excelling", ein uraltes britisches Kirchenlied.
Besonders schnell reist Joe Biden wieder ab. Schon am Nachmittag verlässt er London mit der Air Force One. Doch dass der US-Präsident überhaupt gekommen ist, ist ein enormes Signal. Die anderen Staatsgäste fliegen teilweise am Abend, viele äußern sich über Stunden gar nicht politisch.
Als würde ganz kurz die Welt stehen bleiben, weil sich eine der Großen verabschiedet hat.
Noch während sich die Staatsgäste allmählich aufmachen, erfolgt der letzte Teil des Staatsbegräbnisses. Am späten Nachmittag beginnt der Aussegnungsgottesdienst. Der Leichnam der Queen wurde mittlerweile nach Windsor gefahren, wo er in der St.-Georges-Kapelle beigesetzt wird. Am Abend wird Elizabeth II. in ihrem bleiernen Sarg dann in eine Gruft etwa fünf Meter in die Erde hinuntergelassen. All das findet nur im engsten Familienkreis statt.
In den Pubs fließt schon wieder das Bier
In einigen Pubs in London fließt schon wieder das Ale. Ein Bier nach dem andern wird aufgemacht. Es wird sich zugeprostet, es ist vorbei.
Nur Lucky steht auf einer Mauer. Der 64-Jährige ist in London nahe der Tower Bridge geboren, sein ganzes Leben hat er in der Stadt verbracht. Er schaut die ganze Zeit, ob er von oberhalb der Mauer nicht doch noch etwas mehr von den Menschen sehen kann, die durch die Stadt pilgern.
Wie geht es nun weiter? Lucky zuckt mit den Schultern. "Es ist so schön. Wie hier einfach noch mal alle Menschen zusammenkommen, das ist doch unglaublich." Er ist enttäuscht vom Brexit, von den Politikern, von der Weltlage. Ein royaler Herrscher, der auch über das Vereinigte Königreich hinaus einigende Wirkung entfalten könnte, das wäre richtig, findet er.
Charles wird das nicht einlösen können, glaubt Lucky. "Aber bei Dianas Tod hieß es auch: So eine Einigkeit, so ein Versammeln hinter einer Person wird nie wieder kommen. Jetzt sehen wir, dass es das eben doch gibt." Er schaut auf die vielen Menschen vor sich. Und sieht dabei zuversichtlich aus.
- Eigene Recherche in London