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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nordirland – mitgehangen, mitgefangen "Das Warten auf den Brexit ist ein Desaster"
Viele Nordiren fühlen sich von London nicht vertreten. In der Region an der Grenze zu Irland macht der Kreisrat bei den Brexit-Vorbereitungen gemeinsame Sache mit dem Nachbarland. Ein Besuch in Downpatrick.
Sie wollten bleiben: 56 Prozent der Nordiren haben beim Referendum über den Brexit für "Remain", den Verbleib in der Europäischen Union, gestimmt. Doch weil eine winzige Mehrheit im Vereinigten Königreich das anders gesehen hat, müssen sie raus. Wann und unter welchen Bedingungen wissen sie nicht.
Am Freitag, 12. April, sollte es zum zweiten Mal soweit sein. Die Ansage aus dem März lautete: Bringt Theresa May ihren Deal nicht durch das Parlament und gibt es keinen konkreten Fahrplan, müssen die Briten die EU verlassen – ohne Deal.
Für die Menschen, die an der Grenze zwischen Nordirland und Irland leben wäre das ein Desaster gewesen. "Aber die Unwissenheit, das ewige Warten, ist auch ein Desaster", sagt Mark Murnin. Er ist der Vorsitzende des Kreisrates von Newry, Mourne und Down und empfängt mich in seinem Büro in Downpatrick genau an diesem 12. April, der nun doch wieder nicht der letzte Tag der Briten – und Nordirlands – in der EU ist. Der neue Termin soll spätestens der 31. Oktober dieses Jahres sein.
Die EU und Irland geben den Nordiren Rückendeckung
Murnin ist ein kleiner Mann mit großer Ausstrahlung. Er und seine Kollegen übernehmen die Verantwortung, die weder in Stormont, dem Parlament Nordirlands, in dem zurzeit gar nicht gearbeitet wird, noch in Westminster, dem Parlament des Vereinigten Königreichs, jemand übernimmt. "Wir können uns hier auf niemanden verlassen", sagt er – ohne dabei resigniert zu klingen. Murnin ist besonnen, Panikmache bringt nichts, sagt er. Er spricht leise und im Gegensatz zu den meisten Nordiren langsam. Murnin strahlt Ruhe aus – nicht das schlechteste in unsteten Zeiten.
"Wir können uns auf Irland verlassen und die EU stärkt uns den Rücken", sagt Murnin als wäre das ein Ausgleich dafür, in etwas mit hineingezogen zu werden, was das Gros der Bevölkerung nicht wollte. An der Patt-Situation im Parlament, die viel mit Nordirland zu tun hat, können auch die Unterstützer nichts ändern.
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Ein wesentlicher Streitpunkt im Abkommen zwischen der EU und Großbritannien ist der "Backstop". Ein Mechanismus, der physische Grenzen zwischen Irland und Nordirland verhindern soll. Für die Menschen in der Region – auf beiden Seiten der Grenze – ist das der wichtigste Punkt in dem ganzen Abkommen. Dass auf der Nachbarinsel Parlamentarier den Deal deshalb nicht absegnen wollen, sorgt hier für Unverständnis. "In London haben sie keine Ahnung von der Lage in Nordirland und es interessiert sie auch nicht besonders. Wir sind nicht einmal drei Prozent der Bevölkerung", sagt Murnin. Dieser Einschätzung begegne ich in Nordirland auch in Pubs, in Cafés und an der Rezeption im Hotel.
Neue Grenzen beschwören alte Geister herauf
"Schüler pendeln über die Grenze, manche Angestellte im öffentlichen Dienst leben in Irland und arbeiten in Nordirland. Waren gehen hin und her", macht Murnin deutlich. Er selbst habe zuletzt auf dem Weg zu einer Veranstaltung drei Mal die Grenze überquert. Abfahrtsort und Ziel lagen nur wenige Kilometer auseinander – beide in Nordirland. "So ist das hier. Wenn es jetzt Grenzposten geben würde, würde das das Leben von so vielen Menschen enorm beeinträchtigen." Allein im Kreis Newry, Mourne und Down gibt es 40 Straßen, die über die Grenze führen. Insgesamt sind es über 200. Das Chaos wäre vorprogrammiert.
Abgesehen davon, dass die Zeit der harten Grenzen vielen noch sehr bildlich im Gedächtnis ist. Während des Nordirlandkonflikts gab es überall dort an den Übergängen Kontrollen. "Ich weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat, andauernd kontrolliert zu werden", sagt Aidan McLoone, der ebenfalls für die Kreisverwaltung arbeitet. Das Thema der Grenzen sei für viele emotional, stehe in Verbindung mit negativen Gefühlen, Erinnerungen an eine Zeit, nach der sich niemand zurücksehnt.
Einerseits könnten viele das Wort Brexit nicht mehr hören, andererseits sei das Thema aber so existenziell, dass doch immer und überall darüber gesprochen würde. Der Brexit begleitet die Menschen rund um Newry auf Schritt und Tritt. Jede Entscheidung – oder Nicht-Entscheidung – aus London wird diskutiert. Selbst Schulkinder sprechen darüber.
Der Backstop gehört in das Abkommen
Was Murnin den Abgeordneten in Westminster gern sagen würde? "Dass der Backstop die wichtigste Klausel in dem Abkommen ist – und dort unbedingt reingehört." Der Brexit sorge für Verunsicherung in einer Region, die seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, um Stabilität ringt. Über 3.500 Menschen haben während der sogenannten Troubles ihr Leben verloren. Die Kämpfe zu beenden vermochte einzig das Karfreitagsabkommen 1998, in dessen Folge Irland und Nordirland bei Anerkennung des derzeitigen Status enger zusammen arbeiten. Eine Wiedervereinigung ist dennoch nicht ausgeschlossen – eines Tages soll ein Referendum die Entscheidung bringen.
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Doch bis dahin wird an der Grenze mit den Folgen des Brexit-Referendums gerungen. Auch wenn die Kreise entlang der Grenzen – in Irland und Nordirland – gemeinsam an einer praktikablen Lösung arbeiten, harte Grenzen, tiefgreifende Einschnitte unbedingt verhindern wollen, geht der Blick nach London. Die Kreisräte und die Menschen, um deren Leben es geht, müssen warten.
Ohne zu wissen, wie ihre Zukunft aussieht. Bevor der Austritt, den in den Grenzregionen überproportional viele Menschen nicht wollten, kommt, sind dessen Vorboten schon spürbar. "Die Preise steigen, Unternehmen sind unsicher, es verlassen auch schon Zuwanderer das Land", zählt Murnin auf. Die Unsicherheit erzeugt Ängste. Für viele ist das Warten zermürbend.
- Eigene Recherchen vor Ort