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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schulpflicht umgehen Urlaub statt Schule: So viel kostet das Schwänzen
Es gilt als Kavaliersdelikt, seine Kinder vor dem offiziellen Ferienbeginn aus dem Unterricht zu nehmen, um günstiger zu reisen oder den Urlaub zu verlängern. Ist es aber nicht.
Marina Kirner ist vorsichtig. Sohn Enzo plappert alles aus. "Er erzählt alles, außer, dass er krank war", sagt Kirner. Hundert Mal habe sie überlegt, was zu tun sei. Was für dieses Wochenende zu tun sei. Das Wochenende im Center Parc Bostalsee in Nohfelden im Saarland. "Am Ende springt auf dem Rückweg vielleicht einmal das Auto nicht an", befürchtet Kirner.
Es wäre das erste Mal, dass das Auto nicht anspringt. Denn Kirner ist vorsichtig. Die Berichte über verstärkte Polizeikontrollen an Flughäfen, mit denen Kinder aufgespürt werden sollen, die unentschuldigt dem Unterricht fernbleiben, sind ihr "ein bisschen mulmig". Wir haben lange überlegt, sagt Kirner. Sollen wir doch schon am Sonntag zurückfahren? Aber sie sind mit ihrer Schwester unterwegs. Zwei Nächte sind wenig. Es wäre so schade.
Schüler sind verpflichtet, am Schulunterricht teilzunehmen
Kirner kommt aus Lauf am Fuß des Nordschwarzwalds. Seit 16 Jahren ist die 39-Jährige angestellt. Sie hat zwei Söhne, vier und sechs. "Ich verstehe das Schulgesetz", sagt sie. "Aber in den Tagen vor und nach den Ferien passiert doch in der Schule eh nichts." Und manchmal hätten die Kinder einfach nur Wünsche, die es zu erfüllen gelte. Oder eine Großmutter, die 80 wird.
Kein Problem. Zumindest nicht mit dem 80. der Großmutter. "Grundsätzlich gilt in allen Bundesländern die Schulpflicht", erklärt Prof. Dr. Christian Birnbaum, Fachanwalt für Verwaltungs- und Arbeitsrecht in Köln. "Schüler sind verpflichtet, am Schulunterricht teilzunehmen." Aber der Schulleiter kann einen Schüler bei Vorliegen eines wichtigen Grunds vom Unterricht befreien. "Ein solcher ist, wenn persönliche Anlässe wie beispielsweise ein runder Geburtstag, eine Hochzeit oder eine Beerdigung stattfinden", erklärt Birnbaum.
Schwänzen ist eine Ordnungswidrigkeit
Kinder, die dem Unterricht fernbleiben, müssen entweder eine schriftliche Entschuldigung der Eltern vorlegen oder spätestens ab dreitägiger Abwesenheit ein ärztliches Attest. In der Vergangenheit hat sich trotz dieser Möglichkeiten ein deutlicher Trend zur persönlichen Ferienverlängerung entwickelt. Die Vorteile liegen auf der Hand – bessere Flugpreise, weniger Verkehr, länger Urlaub.
"Doch Schule schwänzen ist kein Kavaliersdelikt. Wer seine Kinder ohne Einwilligung der Schule aus dem Unterricht nimmt, der begeht eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet werden kann", sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Berlin.
Sanktionen – von Bußgeld bis zu Freiheitsstrafe
Das Ausmaß der Sanktionen hängt von der Rechtslage im jeweiligen Bundesland ab, denn Schulrecht ist Ländersache. Zudem richtet sich die Höhe nach der Schwere des Rechtsverstoßes und danach, ob es ein Wiederholungsfall ist.
Eltern in Nordrhein-Westfalen beispielsweise droht ein Bußgeld von bis zu 1500 Euro. In Hamburg, Hessen und im Saarland ist gesetzlich gegebenenfalls sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder eine Geldstrafe von bis zu 180 Tagessätzen vorgesehen. In Bayern richtet sich die Höhe nach dem wirtschaftlichen Vorteil, den eine Familie durch das Schwänzen hat.
Bei schulpflichtigen Kindern guckt das Flughafenpersonal genauer hin
Auf der Straße ist Marina Kirner relativ sicher. Denn wer kontrolliert schon auf dem Weg ins Saarland? Am Flughafen ist das anders, denn der lange Arm des Gesetzes reicht bis ans Gate. Die Polizei schaut bei schulpflichtigen Kindern gerade vor den Ferien an vielen Flughäfen genauer hin. Besteht ein Verdacht, dass Kinder verreisen, die eigentlich die Schulbank drücken sollten, bitten die Beamten um die Vorlage der Unterrichtsbefreiung. Können die Eltern diese nicht vorlegen, zieht das nicht nur ein Bußgeld nach sich. "Die Beamten können sogar die Ausreise verweigern", meint Verwaltungsrechtsanwalt Birnbaum.
Eine schwerpunktmäßige Überwachung durch zusätzliche Beamte oder besondere Kontrollen findet in den meisten Bundesländern nicht statt, auch nicht in Bayern. "Die Polizei spielt bei der Überwachung der Schulgesetze trotzdem eine große Rolle", sagt Kathrin Fändrich vom Bayerischen Staatsministerium des Innern. Die Beamten seien bei der Überwachung der Schulpflicht vor allem im Rahmen der Amtshilfe tätig. Das heißt, die Polizei wird auf Veranlassung der Schule bei notorischen Schulschwänzern tätig. Doch natürlich wird auch sonstigen Verdachtsfällen nachgegangen.
Absurde Ausreden der Eltern
Die Entschuldigungen, die Lehrer und Polizeibeamte von den Eltern hören, sind oft absurd. "Die gleiche Oma wurde zwei Jahre hintereinander am Anfang der Sommerferien beerdigt", berichtet Udo Beckmann, Vorsitzender des VBE. "Oder die Eltern meinen, sie hätten den Termin vergessen, an dem die Ferien enden." Viele Schulen haben auch deshalb immer strengere Regeln.
Matthew George leitet die Paul-Hindemith-Schule, eine integrierte Gesamtschule nahe der Frankfurter Galluswarte. 90 Prozent seiner Schüler haben Migrationshintergrund. Gerade aus dem Ausland stammenden Mitbürgern wird nachgesagt, dass sie es mit der Schulpflicht nicht immer so genau nehmen, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Unterrichtsbefreiungen wird an der Hindemith-Schule dennoch so gut wie nie stattgegeben. Auch nicht für den 80. der Oma. "Wenn wir anfangen so etwas zu genehmigen, dann kommt jeder und behauptet seine Oma sei gestorben", gibt George zu bedenken.
Ausnahmen für die Unterrichtsbefreiung
Am Anfang des Schuljahres schickt seine Schule einen Informationsbrief an alle Eltern. Darin steht, dass Anträgen auf Unterrichtsbefreiung generell nicht stattgegeben wird. Es gibt nur wenige Ausnahmen. "Zum Beispiel, wenn der Betrieb eines Elternteils sagt, dass dieser während der Ferienzeit keinen Urlaub nehmen kann", gibt George zu bedenken. "Denn es ist ja schon sinnvoll, dass eine Familie ihren Urlaub gemeinsam verbringt."
Wenn doch jemand unentschuldigt fehlt, ist der Rektor rigoros. Häuft sich unentschuldigtes Fernbleiben oder besteht Verdacht auf eigenmächtige Ferienverlängerung, leiten Klassenlehrer oder Schulleiter ein Bußgeldverfahren beim Stadtschulamt ein. "Das kostet dann mindestens 100 Euro pro Fehltag."
Trotzdem versteht George das Problem voll und ganz. "Wenn jemand vier Kinder hat und nach Marokko zur Familie fliegen will, dann wird das zu Ferienbeginn richtig teuer", sagt er. Aber in Deutschland herrsche nun einmal Schulpflicht. Und die gelte für alle. Abgesehen davon: "Ich muss ja auch mehr für meine Flüge zahlen, weil ich nicht vor Ferienbeginn weg kann."
Projektwochen, Bundesjugendspiele, Schulfest
Um seinen Schülern das Ende des Schuljahres zu versüßen, sorgt George mit seinem Lehrerkollegium stets für Unterhaltung. "Wir machen in der letzten Woche immer Programm. Projektwochen, Bundesjugendspiele, Schulfest – das wollen die wenigsten verpassen." Und George tut es mit Erfolg, denn die Zahlen der Schulschwänzer sind an seiner Schule in den vergangenen Jahren zurückgegangen.
100 Euro Strafe vs. 800 Euro Ticketkosten gespart
Allerdings, auch das gibt der Schulleiter zu – Man habe schon Fälle gehabt, da hätten die Eltern ein Bußgeld bewusst in Kauf genommen. "Weil 100 oder 150 Euro Strafe weniger sind als 800 Euro mehr für die Flugtickets." Fest steht aber auch – Über die unentschuldigten Fehltage gibt es im Zeugnis einen Vermerk. "Wer sich später bei einem Betrieb bewirbt, der wird sein Fehlen vielleicht noch bereuen", sagt der Schulleiter.
Marina Kirner muss sich über solcherlei Dinge vorerst keine Gedanken machen. Das Wochenende im Freizeitpark am Bostalsee im Saarland hat sie mit ihren Söhnen und der Schwester vortrefflich verbracht. Am Ende hat sie sich aber doch entschieden, bereits am Sonntag zurückzureisen. "Verpasst hätten die Kinder in der Schule nichts", meint die 39-Jährige. "Aber Gesetz ist Gesetz." Doch bleibt Gesetz auch Gesetz? Der nächste Urlaub kommt bestimmt. Am 27. Juli beginnen in Baden-Württemberg die Sommerferien.