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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lydia Benecke "Es gibt viele Täterinnen, die aus Verzweiflung töten"
Wie kann eine Mutter nur so etwas tun? Diese Frage schießt einem in den Kopf, wenn in Deutschland wieder einmal eine Frau ihr Kind misshandelt, in der Einsamkeit zurückgelassen oder sogar getötet hat. Was führt eine Mutter zu solchen Taten?
Eine Frau lässt ihr Baby kurz nach der Entbindung im Gebüsch zurück. Eine Mutter sucht auf Google nach einer Methode, ihren Säugling zu töten und ertränkt ihn dann. Eine andere schüttelt ihr Baby so stark, dass es an Hirnverletzungen stirbt. Das alles sind schreckliche Taten, die so passiert sind. Was bringt Mütter dazu? Kriminalpsychologin Lydia Benecke nennt im Interview die Auslöser und erläutert, dass nicht nur Psychopathinnen in der Lage sind, ihre eigenen Kinder zu töten.
t-online.de: Was führt eine Mutter dazu, ihr eigenes Kind zu misshandeln oder gar zu töten?
Lydia Benecke: Es gibt sehr viele verschiedene Motive und psychologische Hintergründe. Es gibt nicht den einen Grund oder die typische Mutter, die ihr Kind tötet. Ein Grund kann zum Beispiel der Glaube sein, dem Kind durch die Tötung zu helfen. Das ist das häufigste Motiv bei einem erweiterten Suizid. Dann kann auch ein akut psychotischer Zustand, der medizinische Ursachen im Gehirn hat, dahinterstecken oder eine Überforderung mit dem Kind. Genauso ist es möglich, dass ein Kind aus Wut oder Sadismus heraus tödlich misshandelt wird oder im Rahmen des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms genutzt wird, um eigene Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit zu befriedigen. Zudem kann die Rache am Vater nach einer Trennung eine Rolle spielen. Die funktioniert nach dem Motto, wenn "unsere glückliche Familie nicht mehr nach außen besteht, dann nehme ich die Kinder mit, denn die sind meins".
Mütter und Väter haben zum Teil die gleichen Motive. Gibt es aber auch geschlechtliche Häufungen?
Ein typisch weibliches Delikt ist beispielsweise die Tötung des Kindes direkt nach der Geburt nach einer versteckten oder verdrängten Schwangerschaft. Die Frau ist dann typischerweise überfordert, wenn das Kind kommt.
Können Sie ein Fallbeispiel für einen akut psychotischen Zustand, wie sie ihn eingangs erwähnt haben, nennen?
Ein bekannter Fall aus den USA ist Andrea Yates, die ihre fünf Kinder getötet hat. Sie hat sie einzeln in die Wanne gebracht und ertränkt. Das ist natürlich erschütternd. Die Frau wurde in den Medien als "Die böseste Mutter der Welt" bezeichnet. Sie war aber seit vielen Jahren psychisch krank, hatte sehr starke Wahnvorstellungen und wurde nicht vernünftig behandelt. Sie war sich sicher, dass ihre Kinder vom Teufel heimgesucht werden, der ihre Seelen stehlen will. Und dass sie sie nur davor bewahren kann, in die Hölle zu kommen, wenn sie sie rechtzeitig tötet. In ihrer von Krankheit verzerrten Realitätswahrnehmung glaubte sie, das einzig Richtige zu tun. In der öffentlichen Wahrnehmung wird bei solch einer zutiefst aufwühlenden, unbegreiflich erscheinenden Mehrfachkindstötung nicht unterschieden zwischen so einer Täterin und einer, die ihre Kinder tötet, um beispielsweise den Weg frei zu machen für eine neue Partnerschaft. Das Resultat ist aber natürlich in beiden Fällen grauenvoll.
Lydia Benecke, Jahrgang 1982, arbeitet als Psychologin mit Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Gewalt- und Sexualstraftaten. Sie hat mehrere kriminalpsychologische Bücher geschrieben. Als letztes erschien "Psychopathinnen: Die Psychologie des weiblichen Bösen".
Gibt es typischerweise einen Auslöser, der dazu führt, dass eine Mutter ihr Kind quält oder tötet?
Oft stecken die Täterinnen in Krisensituationen. Es ist meistens nicht die eine Lebenskrise, sondern eine Vielzahl von Faktoren, die zusammenkommen. Bei einer Trennung ist es beispielsweise oft das Zerbrechen eines Lebenskonstruktes, das sich die Täterin vor Jahren erdacht hat und dessen Scheitern dann als ausweglos empfunden wird. Hinzu kommt die Unfähigkeit, die aktuelle Belastung angemessen zu verarbeiten.
Im Zusammenhang mit solch grauenvollen Taten werden die Täter oftmals als Psychopathen bezeichnet. Sind denn alle Mütter, die ihrem Kind etwas antun, Psychopathinnen?
Nein, die allermeisten sogar nicht. Ganz viele schlimme Taten werden begangen von Menschen – egal, ob Männer oder Frauen –, die überhaupt nicht psychopathisch sind. Viele Menschen verwenden den Begriff Psychopath ohnehin falsch. Er ist kein Label für einen Menschen, der etwas Schlimmes tut, sondern für einen Menschen, der gewisse Eigenschaften hat, aufgrund derer die Wahrscheinlichkeit erhöht ist, dass er sich unsozial verhält. Diese spezifische Eigenschaftsmischung besteht unter anderem in einem Mangel an Mitgefühl, Schuldgefühl und Angst sowie einer starken Fokussierung auf die eigenen Bedürfnisse und Impulse. Je mehr solcher Eigenschaften jemand hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für unsoziales Verhalten. Ein Psychopath kann aber ebenso ein Betrüger sein oder jemand, der haufenweise Diebstähle oder Raubüberfälle begeht. Er ist nicht zwangsläufig jemand, der einen anderen tötet. Die meisten grausamen Tötungsdelikte werden nicht von psychopathischen Tätern begangen. Eine akute Situation kann dazu führen, dass ein Mensch, der normalerweise über Gewissensempfindungen und eine gewisse Kontrollinstanz verfügt, es schafft, sich darüber hinwegzusetzen, weil er glaubt, diese Situation erfordere es oder weil er im wahrsten Sinne des Wortes die Kontrolle über sich verliert.
Kann also theoretisch jeder so reagieren, der in eine extreme Situation gerät?
Viele Eltern trennen sich oder sind überfordert, aber nur die wenigsten würden ihrem Kind wirklich drastisch schaden. Einige Persönlichkeitseigenschaften machen solche Reaktionen wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich. Da spielen Faktoren wie die grundsätzliche emotionale Stabilität, die Stresstoleranz, das Selbstwertgefühl, die Fähigkeit, Bewältigungsstrategien zu entwickeln und vieles mehr eine Rolle. Es gibt sehr viele Täterinnen, die aus Verzweiflungssituationen heraus Tötungsdelikte begangen haben, und von sich selbst Monate, Tage oder Stunden vorher nicht erwartet hätten, dass sie in der Lage dazu sein würden, so etwas zu tun. Sie sind dann oft im Nachhinein überrascht von sich selbst, dass sie in dieser Extremsituation im Fühlen, Denken und Handeln so eingeengt waren, dass sie derartig handeln konnten. Ich würde aber nicht so weit gehen und sagen "Jede Frau könnte ihr Kind töten".
Mütter, die ihr Kind töten, empfinden also hinterher durchaus Reue?
Ja, und sicherlich nicht wenige. Viele dieser Frauen sind nicht prinzipiell frei von einem Gewissen. Die meisten sind mit sich und ihrer Lebenssituation überfordert. Wenn sie sich mit ihrer Tat in Haft – im Idealfall mit therapeutischer Anleitung – auseinandergesetzt haben, dann leiden viele von ihnen durchaus und setzen sich auch mit ihrer Schuld auseinander.
Sind sie denn frei von Muttergefühlen? Lieben diese Frauen ihre Kinder nicht?
Viele der Frauen, die in Lebenskrisen die Entscheidung zur Kindstötung treffen, lieben ihre Kinder und glauben genau deshalb, deren Leben beenden zu müssen. Wenn zum Beispiel Wahnerkrankungen vorliegen, dann glaubt die Frau ja, dass sie aus Liebe ihr Kind beispielsweise zu Gott führt, dass sie es rettet. Genauso glaubt eine entsprechende Täterin, die an einer schweren, depressiven Erkrankung leidet, ihr Kind würde seinerseits unendlich leiden, wenn sie dieses in der scheinbar grausamen Welt zurücklässt. Weil sie nicht zwischen ihren und den Gefühlen des Kindes unterscheiden kann. Dann tut sie das auch aus Liebe.
Aber es gibt auch Frauen, die zu ihren Kindern keinerlei Verbindungen haben.
Richtig. Bei Psychopathinnen beispielsweise, also Frauen mit einer bestimmten, sehr schwerwiegenden Persönlichkeitsstörungsmischung, besteht prinzipiell eine Unfähigkeit zu wirklichen Bindungen; das Gegenüber wird nicht als Individuum mit eigenen Rechten und Bedürfnissen wahrgenommen. Sie sehen ihr Kind nur als Objekt. Bei ihnen ist das Konstrukt Mutterliebe nicht vorhanden. Sie würden zwar sagen "Ich liebe meine Kinder" – aber sie empfinden nicht das, was andere Menschen empfinden, wenn sie das sagen. Ein Beispiel dafür ist Marybeth Tinning. Sie ist als Extremfall einer Münchhausen-by-Proxy-Täterin sehr bekannt geworden, weil sie viele Babys getötet hat, um von ihrem Umfeld Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Als sie später gefragt wurde, ob sie die einzelnen Kinder beschreiben könne – zum Beispiel wie alt sie waren und unter welchen Umständen sie jeweils gestorben sind –, hat sie so etwas gesagt wie: "Ach, das waren so viele und die sahen alle irgendwie gleich aus." Da wird klar: Die Frau hatte überhaupt keine Bindung zu ihren Kindern.
Was ist die Absicht hinter dem Münchhausen-by-Proxy- beziehungsweise dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Die betroffenen Frauen wollen Aufmerksamkeit und Fürsorge bekommen. Sie merken durch Lerneffekte, dass sie diese erhalten, wenn es ihnen schlecht geht oder wenn es ihren Kindern schlecht geht. Dazu täuschen sie selbst Symptome vor (Münchhausen-Syndrom) oder reden ihren Kindern welche ein, beziehungsweise erzeugen sie bei ihnen (Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom). Mütter, die das mit ihren Kindern machen, stellen sich selbst als liebende und sehr aufopfernde Mütter dar. Aber es gibt bei diesen Fällen auch immer Berichte von Menschen aus dem näheren Umfeld oder dem Krankenhaus, die zeigen, dass diese Mütter Wutausbrüche bekommen und ihr Kind grausam behandeln, sobald sie sich unbeobachtet fühlen.
Was ist das Besondere bei diesen Täterinnen?
Selbst wenn es bei den Extremfällen dieses Phänomens bis zum Tötungsdelikt geht, gestehen sich diese Frauen nie wirklich ihre Schuld ein. Auch wenn es ein Video gibt und alle objektiven Beweise dafür sprechen, dass sie ihrem Kind schlimme Dinge angetan haben, streiten diese Frauen das mit beeindruckender Vehemenz und emotionalen Darbietungen ab. Das ist eine faszinierende Fähigkeit! Woran das liegt, ist noch nicht genug erforscht.
Belügen die Betroffenen nur die anderen oder auch sich selbst?
Ich glaube, das ist eine Mischung. Sie belügen schon bewusst andere und teils stehlen sie auch bewusst medizinisches Zubehör, um Symptome zu erzeugen. Mein Eindruck ist, dass diese Frauen unterschiedliche Realitätsebenen haben, nicht wie bei Wahnvorstellungen, sondern im Sinne einer doppelten Buchführung. Einerseits wissen sie, was sie tun und wie sie sind, aber sie wollen sich dies selbst nicht eingestehen, nach dem Motto: "Eigentlich bin ich nicht so" und "So was würde ich doch nicht tun" . Das sieht man genauso beim Münchhausen-Syndrom. Wenn sie sich mit solchen Leuten unterhalten, zweifeln sie am Ende im wahrsten Sinne des Wortes an deren Verstand, weil diese Menschen zwar scheinbar total vernünftig reden, aber vehement dabei bleiben, nicht gelogen zu haben.
Bedeutet das, diese Mütter merken gar nicht, was sie ihren Kindern antun?
Sie verspüren ein so starkes Verlangen, von anderen Menschen Zuwendung zu erhalten, dass alles andere dadurch in den Hintergrund rückt. Eben auch das eigene Kind. Ich glaube, die Kluft zwischen dem, wie die Betroffenen sind und wie sie gerne wären, ist sehr groß.
Wie ist es denn für Sie, sich mit Fällen von Frauen, die ihre Kinder getötet haben, auseinanderzusetzen?
Mir geht es mit allen Geschichten gleich. Menschen sind so, ich weiß das. Und ob jetzt ein Mann oder eine Frau einem Kind oder einem Erwachsenen was antut, macht für mich in letzter Instanz keinen großen Unterschied – jede einzelne dieser Geschichten ist schlimm. Die Welt ist halt so. Das habe ich schon sehr früh verstanden. Deswegen lebe ich damit und versuche, wie alle Menschen in diesem Beruf, Verbrechen zu verhindern. Durch Wissenschaft, Therapie und den Erkenntnisgewinn, durch den man bessere Präventivmaßnahmen entwickeln kann.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Benecke.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.