Ein rätselhafter Patient Und plötzlich versagt die Sprache
Eine Frau kann nicht mehr richtig sprechen. Weil sie raucht und vor Jahren an Krebs erkrankt ist, könnte ein Tumor die Ursache sein – oder ein Schlaganfall. Ein rätselhafter Patient. Eile ist geboten. Doch die Ärzte brauchen lange, bis sie die richtige Diagnose finden.
Als der Mann seine Ehefrau ins Krankenhaus bringt, ist seine Sorge groß. Die 51-Jährige spricht verworren, sie verwechselt Wörter und Zahlen und kann Gegenstände nicht mehr richtig benennen. Schon am Vortag hat sie über Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt, war müde und matt.
Bei der Untersuchung fällt den Ärzten von der Oakland University in Rochester (US-Bundesstaat Michigan) auf, dass die Frau zwar mitunter einfache Fragen beantworten kann, im nächsten Moment aber wie zufällig Zahlen aneinanderreiht und leichte Aufforderungen nicht versteht.
Sie hat einen normalen Blutdruck, aber ihr Herz schlägt mit 91 Schlägen pro Minute recht schnell und die Temperatur ist mit 37,9 Grad leicht erhöht. Auch die Zahl ihrer weißen Blutkörperchen ist hoch, was auf einen Infekt hindeutet. Ansonsten können die Ärzte keine weiteren Auffälligkeiten entdecken, insbesondere keine Lähmungen oder Seitenunterschiede.
Tumor oder Schlaganfall?
Dennoch ist Eile geboten: Bei plötzlich auftretenden Sprachstörungen denken Ärzte an einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung. Früh behandelt, haben diese Patienten bessere Heilungschancen. Die Frau hat außerdem zehn Jahre lang täglich eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht, wodurch ihr Risiko für Ablagerungen in den Gefäßen und einen Schlaganfall gestiegen ist.
Auch ein Trauma, eine akute Infektion, Vergiftungen oder Schwellungen des Hirngewebes durch einen Tumor kommen infrage. Wie der Mann berichtet, ist seiner Frau vier Jahre zuvor ein Tumor im Dickdarm entfernt worden, anschließend hat sie eine Chemotherapie bekommen. Seither ist der Krebs nicht wieder aufgetreten. Obwohl sich die Beschwerden schnell eingestellt haben – was gegen einen Tumor als Ursache spricht –, müssen die Ärzte diesem Verdacht nachgehen.
Sie lassen Computertomografie-Bilder vom Kopf der Patientin anfertigen. Doch die Aufnahmen sind unauffällig. Eine Durchblutungsstörung ist auf CT-Bildern allerdings innerhalb der ersten 24 Stunden mitunter nicht erkennbar, und auch für eine Tumordiagnostik verwenden Radiologen andere Techniken.
Kein Erregernachweis im Nervenwasser
Am Abend steigt das Fieber der Frau auf 38,5 Grad, die Ärzte legen nun Blutkulturen an, wie sie im "New England Journal of Medicine" berichten. Dann schieben sie die Frau in den Kernspintomografen. Mit dieser Technik kann das Gehirngewebe besser beurteilt werden. Tatsächlich zeigen die Bilder, dass ein großer Teil in der linken Gehirnhälfte – der sogenannte Temporallappen, in dem auch Sprache verarbeitet und verstanden wird – stark verändert ist.
Wegen dieses Befundes und wegen des Fiebers der Frau gehen die Mediziner jetzt von einer Infektion im Gehirn aus. Der wahrscheinlichste Erreger ist das Herpes-simplex-Virus (HSV), das auch den gewöhnlichen Lippenherpes auslöst. Ob es bei einer solchen Herpes-Enzephalitis zu einer neuen Infektion kommt oder der Erreger bereits in den Nervenzellen sitzt und von dort reaktiviert wird, ist noch unklar. Zwar ist die Krankheit selten, sie trifft von einer Million Menschen nur ein bis zwei Personen. Aber andere Infektionen etwa mit Cytomegalieviren, Tuberkulosebakterien oder HIV sind im Fall der Patientin noch weniger wahrscheinlich.
Auf Verdacht beginnen die Ärzte eine Therapie mit Aciclovir, dem Standardmittel gegen Herpes-Infektionen, das die Frau alle acht Stunden gespritzt bekommt. Um die Diagnose zu sichern, entnehmen sie Nervenwasser aus dem Rückenmarkkanal. Doch darin lassen sich die Erreger nicht auffinden. Das beunruhigt die Ärzte nicht, denn Herpes-Viren lassen sich oftmals erst nach mehr als vier Tagen nachweisen.
Der Frau geht es zunehmend besser, das Fieber sinkt. Ihre Sprache indes verbessert sich kaum. Sechs Tage nach Beginn der Symptome untersuchen die Ärzte das Nervenwasser erneut auf HSV. Doch auch dieses Mal ist das Ergebnis negativ. Nun setzen die Mediziner das Aciclovir wieder ab und fahnden nach anderen Erregern – eine Herpes-Infektion erscheint ihnen jetzt äußerst unwahrscheinlich.
Ein Stück Hirngewebe gibt Aufschluss
Schon am nächsten Tag steigt die Temperatur der Patientin wieder an, sie wird lethargisch und muss auf die Intensivstation. Im MRT des Gehirns zeigt sich eine massive Zunahme der Veränderungen. Schnell bekommt sie das Aciclovir wieder und Medikamente, die eine Hirnschwellung verhindern.
Kurze Zeit später liegt die Frau auf dem OP-Tisch. Neurochirurgen entnehmen eine Gewebeprobe aus dem betroffenen Areal. Darin finden die Pathologen Zellen, die mit Herpes-Viren infiziert sind. Die Autoren schreiben, die Symptome der Patientin seien typisch gewesen für eine Herpes-Enzephalitis, aber es sei höchst unwahrscheinlich, dass die Tests wie bei der Patientin auch Tage nach Beginn der Symptome noch negativ bleiben.
Insgesamt 21 Tage lang bekommt die Frau Aciclovir. Dann wird sie entlassen. Gesund ist sie nicht, sie hat noch immer starke Probleme mit der Sprache. Aber sie hat überlebt. Den Autoren zufolge sterben 70 Prozent aller Menschen mit einer Herpes-Enzephalitis, wenn sie nicht rechtzeitig Aciclovir bekommen.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.