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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dramatische Folgen weltweit Putin lässt die Getreidepreise explodieren
Putins Truppen blockieren den Export der Ukraine. Sie legen so einen der größten Konkurrenten Russlands auf dem Weltmarkt lahm – damit befeuere der russische Präsident zwei globale Probleme, warnt ein Experte.
In deutschen Supermärkten fehlt es plötzlich an Mehl und Rapsöl, viele Hersteller warnen vor steigenden Preisen in den kommenden Monaten – und die Getreidepreise auf dem Weltmarkt schießen weiter in die Höhe. Im April zahlten deutsche Importeure für Weizen so viel wie zuletzt vor zehn Jahren. In Deutschland steigen die Lebenskosten – und in der Welt wächst der Hunger.
Schuld ist der Krieg zwischen den Kornkammern der Welt: Die Ukraine und Russland zählen zu den größten Weizenexporteuren. Von Lieferungen aus der Region sind viele Länder in Afrika und dem Nahen Osten abhängig. Sie werden nun zum Spielball von Putins Kriegsstrategie.
Denn Russlands Angriffskrieg hat die Versorgungsketten der globalen Ernährung unterbrochen: 25 Millionen Tonnen Getreide hängen in der Ukraine fest, die russischen Truppen blockieren die Häfen und Seewege. Per Zug ist der Transport mühsamer, weniger lohnender und zurzeit kaum möglich: Denn russische Truppen nehmen auch Bahnstrecken gezielt unter Beschuss.
"Aufstände sind dann wahrscheinlich"
Die Lager sind bereits jetzt gefüllt, für die kommende Ernte fehlt der Platz, wenn die Ukraine ihren Weizen nicht bald in die Welt exportieren kann. Die Folge: Eine weltweite Hungerkrise droht – jetzt und in den kommenden Jahren. "Wir befürchten, dass Millionen Menschen in Hunger rutschen könnten, Aufstände sind dann wahrscheinlich", warnt Rafaël Schneider von der Welthungerhilfe im Gespräch mit t-online.
Das hat aus Sicht von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir System: "Russland nutzt Hunger gezielt als Waffe", sagte er t-online. Kurz vor dem Treffen der Agrarminister der G7-Staaten an diesem Freitag in Stuttgart warf er Russland angesichts der Getreidekrise eine "widerliche Form der Kriegsführung" vor. Russland führe auch einen "Wirtschaftskrieg", in dem es darum gehe, sich das Eigentum von Bäuerinnen und Bauern "einzuverleiben".
Die Agrarminister beraten an diesem Freitag deswegen über Lösungen. Im Gespräch ist dabei etwa Unterstützung für den Transport per Zug sowie Lieferungen über die Donau.
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Putins Krieg führt laut Schneider derweil zu zwei globalen Erschwernissen: einem Problem der Verfügbarkeit – und einem Problem der Preise. Die Situation sei in Ländern des globalen Südens, in dem die Bevölkerung eine sehr geringe Kaufkraft habe, bereits jetzt angespannt.
Auch Deutschland wird Putins Strategie spüren
Die steigenden Preise werden langfristig auch deutsche Verbraucher spüren. Deutsche Landwirte bauen zwar selbst viele Getreidesorten an, dennoch importierte Deutschland mehr als elf Millionen Tonnen Getreide im vergangenen Jahr, wie das Statistikamt mitteilte. Besonders bei Körnermais und Hartweizen, der für die Nudelproduktion besonders wichtig ist, kann Deutschland sich nicht selbst versorgen.
Bis 2023 sei die Versorgungssicherheit in Deutschland allerdings gesichert, beteuerte der Bauernpräsident Joachim Rukwied zuletzt im Gespräch mit t-online. Aus der Ukraine bezieht Deutschland nur einen Bruchteil seiner Exporte, aber die Lage treibt – gepaart mit schlechten Ernten wegen Hitzewellen in anderen Erzeugerländern – die Preise am Weltmarkt in die Höhe. Wenn deutsche Unternehmen also Getreide importieren, müssen auch sie höhere Preise zahlen und werden diese Belastung wohl an die Kunden weitergeben.
"Putin könnte Dominanz auf dem Weltmarkt an sich reißen"
Doch Preiserhöhungen in deutschen Supermärkten sind eher Kollateralschäden von Putins Kriegsstrategie. Härter trifft es Länder des globalen Südens – Experte Schneider befürchtet für sie fatale langfristige Folgen: "Durch den Krieg könnte Russland die Dominanz des Weltgetreidemarktes an sich reißen und einige Länder in Afrika, dem Nahen Osten und Asien in eine Ernährungsabhängigkeit bringen – ganz ähnlich wie Deutschland von russischem Gas abhängig ist“, sagt Schneider.
Durch diese Strategie sind große Teile Europas bereits jetzt abhängig von russischen Energieträgern – Dutzenden Ländern auf dem afrikanischen Kontinent und im Nahen Osten geht es mit den Getreidelieferungen so. Das könnte sich nun weiter verschärfen: Denn während die Ukraine nicht exportieren kann, kündigte Putin am Freitag eine Rekordernte in Russland an. 130 Millionen Tonnen Getreide könnten in diesem Jahr nach Schätzungen geerntet werden, so Putin, darunter 87 Millionen Tonnen Weizen.
Russland kündigt Rekordernte an – und will wieder exportieren
Vor wenigen Wochen hatte Russland noch die Getreideexporte stark gedrosselt, mindestens bis Ende Juni soll demnach kaum Weizen aus dem Land geschafft werden, um die eigene Bevölkerung zu versorgen – das trieb die Preise weiter in die Höhe. Das soll sich wohl bald wieder ändern, sagt Putin: Die gute Ernte werde es erlauben, nicht nur die Bedürfnisse Russlands zu decken, "sondern auch die Lieferungen auf den Weltmarkt für unsere Partner zu steigern".
Das hat gleich mehrere positive Effekte für Putin: Getreidelieferungen würden dann in nicht unerheblichem Maße Putins Kriegskasse füllen – und Ausfälle durch europäische Embargos im Energiemarkt kompensieren. Die Ukraine könnte Putin so als einer der größten Konkurrenten auf dem weltweiten Markt verdrängen und dauerhaft schwächen. Wenn diese nicht exportieren kann, füllt Putin die Lücken – und nach Kriegsende könnte für die Ukraine kein Platz mehr auf dem Markt sein.
Aus diesem Grund sollten auch andere Länder wie Deutschland nun nicht langfristig die Exporte der Ukraine auf dem Markt ersetzen, warnt Experte Schneider. Schließlich sei die Ukraine nach dem Krieg beim Wiederaufbau auf die Einnahmen aus dem Getreidegeschäft angewiesen. Die Lieferketten müssten daher erhalten bleiben.
Für die Länder, die besonders abhängig von den Importen aus Russland und Ungarn sind, gebe es langfristig nur eine Option: Sie müssten dieselben Vorkehrungen treffen wie Deutschland beim Gas. Das bedeutet: "Importe diversifizieren, lokalen Anbau fördern und regionale Märkte stärken", so Schneider.
Inwiefern viele Länder in Afrika und dem Nahen Osten überhaupt autark Getreide anbauen können, ist angesichts des fortschreitenden Klimawandels allerdings fraglich. Kurzfristig sind diese Länder und ihre Bürgerinnen und Bürger sowieso ohnmächtig, sie sind Russlands Kampf um eine neue Weltordnung hilflos ausgeliefert.
811 Millionen Menschen hungern derzeit auf der Welt. Mit seiner Strategie im Krieg und auf dem Getreidemarkt nimmt Putin bewusst in Kauf, dass diese Zahl rapide in die Höhe schießt.
- Eigene Recherchen
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters