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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Digitalisierung So kämpft die Industrie gegen die Arbeitslosigkeit der Zukunft
Deutschlands Industrie steht vor gewaltigen Umbrüchen. Tausende Jobs könnten künftig obsolet sein. Firmen wie Continental bereiten ihre Angestellten schon jetzt auf den Arbeitsmarkt von morgen vor.
Es sind klangvolle Namen, große Marken mit viel Tradition, die sinnbildlich stehen für die deutsche Wirtschaft: Chemie- und Pharmaproduzenten wie BASF oder Bayer, Autobauer wie Volkswagen, Daimler und BMW, Zulieferer wie Schaeffler oder Continental.
Sie alle beschäftigen Hunderttausende Menschen in Deutschland und sie alle stehen sie vor einer ähnlichen Herausforderung: Durch die Digitalisierung und die Automatisierung brauchen sie in den kommenden Jahrzehnten weniger Arbeitskräfte als heute. Die Folge: Tausende gut bezahlte Jobs dürften schon in naher Zukunft wegfallen.
Allein in der Autoindustrie dürften es durch die Produktion von mehr E-Autos nach Schätzungen des Ifo-Instituts rund 100.000 Stellen sein; Industriejobs, die dank Tarifbindung Tausenden Fachkräften, aber auch ungelernten Aushilfsarbeitern und ihren Familien viel Geld einbrachten. Werden diese Menschen arbeitslos, droht nicht nur einzelnen von ihnen der gesellschaftliche Abstieg. Vielmehr ist der Wohlstand Deutschlands in Gefahr.
Continental schließt Werk in Aachen
Erkannt haben dieses wachsende Problem nicht nur die Politik und die Bundesagentur für Arbeit (BA), sondern auch immer mehr Unternehmen. Vielen Firmen ist klar: Sie müssen etwas tun, um ihren Angestellten von heute auch morgen ein auskömmliches Leben zu ermöglichen.
Ein Beispiel für ein solches Unternehmen ist der Reifenhersteller und Autozulieferer Continental. In Aachen ist der Dax-Konzern gerade dabei, ein gesamtes Werk zu schließen, insgesamt 1.800 Mitarbeiter sind betroffen.
Damit sie jedoch nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, kümmert sich Continental schon jetzt, weit vor dem Stichtag der Schließung Ende 2022, um die Weiterbildung seiner Mitarbeiter. "Wir arbeiten mit Trainern und Job-Coaches zusammen, um den Kolleginnen und Kollegen einen möglichst direkten Übergang von der Arbeit in die Arbeit zu ermöglichen", sagt Personalvorständin Ariane Reinhart. "Innerhalb der Arbeitszeit und bei vollem Gehalt können sie sich so auf den externen Arbeitsmarkt vorbereiten. Gerade für ungelernte und angelernte Kräfte hilft das sehr."
Arbeitsagentur finanziert Weiterbildungen
Tatsächlich könnte es derlei Qualifizierungsinitiativen künftig öfter geben. Die Voraussetzungen dafür hat die Bundesregierung geschaffen. Das sogenannte "Qualifizierungschancengesetz" soll dafür sorgen, dass Mitarbeiter parallel zu ihrem aktuellen Job Fortbildungen und Kurse absolvieren können, die sie auf künftige Berufe vorbereiten – innerhalb ihrer Firma, aber auch an anderer Stelle.
Detlef Scheele, der Chef der Arbeitsagentur, hält das für einen guten Weg. Und für einen, der dringend notwendig ist. "Wir können derzeit allerdings kaum abschätzen, wie viele Arbeitsplätze durch die digitale Transformation verloren gehen könnten", sagt er.
"Klar ist aber: Es werden in der Industrie Arbeitsplätze abgebaut werden. Dies ist umso bedauerlicher, weil diese sozusagen zum sozialen Grundinventar der Bundesrepublik Deutschland gehören", so Scheele weiter. "Die neuen gesetzlichen Möglichkeiten können da Abhilfe schaffen, sie sind eine echte Chance für zahlreiche Menschen – und auch für die Firmen."
Spezielle Transfergesellschaft gegründet
Was er damit meint: Nicht immer muss der Abbau von Stellen in Entlassungen münden. Vielfach lassen sich die Mitarbeiter auch intern fortbilden. Aus bislang ungelernten Kräften am Fließband einer Reifenfabrik können so durch Weiterbildungsangebote – mehr oder weniger leicht – Mitarbeiter in der IT-Abteilung werden.
Mehr Weiterbildung
Das Qualifizierungschancengesetz ist seit 2019 in Kraft und fördert die Weiterbildung von Angestellten in ihren Betrieben. Konkret erhalten die Unternehmen finanzielle Zuschüsse von der Bundesagentur für Arbeit, wenn sie ihren Mitarbeitern während der Arbeitszeit Fortbildungen ermöglichen, die sie auf den Arbeitsmarkt der Zukunft vorbereiten. Je nach Betriebsgröße übernimmt die BA zwischen 15 und 100 Prozent der Fortbildungskosten.
In der Praxis kann das so aussehen wie bei Continental in Aachen: Dort hat das Unternehmen eine Art Transfergesellschaft gebildet, eine Firma also, in der Mitarbeiter nach einer Kündigung zunächst einmal unterkommen und weiter ihren Lohn erhalten.
Größter Unterschied zu einer herkömmlichen Transfergesellschaft: Statt die Vermittlung an neue Arbeitgeber hauptsächlich der BA zu überlassen, kümmern sich die Unternehmen mit darum, dass ihre früheren Angestellten Fortbildungen erhalten, die ihnen den Start in einen neuen Beruf erleichtern – an einem anderen Conti-Standort, oder vor Ort bei einer anderen Firma.
Der Arbeitsmarkt verändert sich rasant
"Die Stadt Aachen hat dafür einen runden Tisch gebildet, an dem wir gemeinsam mit der Arbeitsagentur, Sozialpartnern, Wirtschaftsverbänden, Universitäten und einzelnen Firmen aus der Region sitzen", sagt Personalvorständin Reinhart. "Dort besprechen wir, welche Unternehmen Bedarfe haben und organisieren dann mit Trainern und Job-Coaches Umschulungen, zum Beispiel für Logistikfirmen."
In der Vergangenheit, so Reinhart, sei das etwa am Standort Hannover bereits gut gelungen. Dort habe man mit der Deutschen Bahn kooperiert und über Infoveranstaltungen Mitarbeiter über berufliche Möglichkeiten bei der Deutschen Bahn informiert.
Ein Paradebeispiel, das laut Scheele aber auch nicht immer klappe. In vielen Fällen brauche es große Anstrengungen – nicht zuletzt, weil sich der Arbeitsmarkt so stark verändere. "Den einen 'klassischen' Arbeitslosen gibt es nicht mehr", sagt der BA-Chef.
Schwieriger Wechsel vom Band ans Bett
Früher sei es leichter möglich gewesen, Fertigungsmitarbeiter in eine andere Fabrik zu vermitteln. Heute müssten sich viele gänzlich neu orientieren, etwa im Handwerk, aber auch in ganz anderen Arbeitsfeldern wie zum Beispiel der Pflege, wo zahlreiche Stellen offen sind.
"Genau dieser Wechsel sozusagen vom Band ans Bett ist für viele schwierig", so Scheele. "Das beginnt bei der eigentlichen Tätigkeit und hört beim Einkommen auf, das im Moment deutlich unterhalb dem eines Facharbeiters in der Industrie liegt."
Dennoch sei er zuversichtlich, dass das Modell Schule mache und das Qualifizierungschancengesetz vielen Menschen helfe. "Gerade die Industrie, aber auch Unternehmen anderer Wirtschaftszweige haben erkannt, dass sie eine Verantwortung tragen für ihre Mitarbeiter", sagt er. "Ich bin überzeugt, dass so deutlich weniger Menschen langfristig ohne Job dastehen."
- Eigene Recherchen
- Pressegespräch mit Continental-Personalvorständin Ariane Reinhart und BA-Chef Detlef Scheele