Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Boeing in der Krise Eine US-Ikone stürzt ab
Wegen immer neuer Schocknachrichten gerät mit dem Flugzeugbauer Boeing auch ein amerikanischer Traum in die Krise. Profitieren könnten davon ausgerechnet China und Russland.
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Die "Air Force One"-Flotte des amerikanischen Präsidenten besteht aus Boeing-Flugzeugen. Die Privatmaschine seines Herausforderers, die sogenannte "Trump Force One", ist ebenfalls eine Boeing. Und global sind mehr als 10.000 von Boeing gebaute Verkehrsflugzeuge im Einsatz, was fast der Hälfte der Weltflotte entspricht. Kurz: Boeing ist ein nationaler Schatz Amerikas.
Umso verstörender ist es für die stolze Nation, dass immer mehr Fluggäste nur noch mit großen Sorgen in Boeing-Flugzeuge steigen. Im Internet suchen nervöse Menschen wegen der sich häufenden technischen Zwischenfälle schon nach Tipps wie: "So vermeiden Sie Boeing Flugzeuge".
Es gibt sogar eine Website mit dem Namen "Am I flying on a Boeing?", betrieben von einer amerikanischen Reiseagentur. Dort lässt sich checken, ob der eigene gebuchte Flug in einer Maschine von Boeing stattfindet oder nicht. Versehen mit dem sarkastischen Hinweis: "Geben Sie einfach Ihre nächste Flugnummer ein und überprüfen Sie Ihren (Schicksals-) Flug."
Eine Krise, die seit Jahren anhält
Einerseits mögen das extreme Anzeichen sein. Es herrscht keine Massenpanik unter Fluggästen – weder in den USA noch anderswo. Für den Weltkonzern einer Branche, die wie kaum eine andere von Sicherheit und vom Vertrauen der Kunden abhängt, ist das trotzdem ein ausgesprochenes Desaster.
Die Krise von Boeing hält inzwischen seit Jahren an. Der aktuelle Unternehmenschef David Calhoun war eigentlich gekommen, um bei Boeing nach zwei tödlichen Abstürzen von 737-Max-Maschinen in den Jahren 2018 und 2019 aufzuräumen. Doch nun geht auch er und scheint eine Firma in extremer Unruhe zu hinterlassen.
Seit vor einigen Wochen ein Rumpfteil während eines Fluges von Alaska Airline einfach abbrach und nur durch Zufall keine Passagiere verletzt wurden, reißen die Negativschlagzeilen nicht ab. Kurz bevor Calhoun seinen Weggang verkündete, hatte die amerikanische Luftaufsichtsbehörde FAA (Federal Aviation Administration) nach einer sechswöchigen Prüfung bei Boeing und einem Subunternehmen "mehrere Fälle festgestellt, in denen die Unternehmen offenbar die Anforderungen der Fertigungsqualitätskontrolle nicht eingehalten haben".
Einsparungen und ein merkwürdiger Todesfall
Die Hinweise verdichten sich, dass es sich vielleicht nicht um planmäßige, aber in Kauf genommene Schlamperei handelt. Laut der amerikanischen Gewerkschaft Society of Professional Engineering Employees in Aerospace hat Boeing unter CEO David Calhoun 2022 etwa erfahrene Ingenieure mit Lockangeboten in den Ruhestand verabschiedet, um Kosten zu sparen. Mehr als 1.700 Gewerkschaftsmitglieder sollen demnach damals das Unternehmen verlassen haben.
Ray Goforth, der Geschäftsführer der Gewerkschaft, kritisiert Boeing öffentlich deutlich, weil damals schlechter bezahlte Berufseinsteiger und Techniker geholt worden seien und man den Konzern vor den möglichen Folgen gewarnt habe. Auf der Plattform X teilte Goforth zuletzt einen Artikel mit dem reißerischen Titel "Selbstmord Mission – Was hat Boeing all jenen Leuten angetan, die noch wussten, wie man ein Flugzeug baut". Was Goforth dem Konzern darüber hinaus vorwirft: "Das Sicherheitssystem für die Pilotenausbildung, das dem Unternehmen und seinen Kunden jahrzehntelang gute Dienste geleistet hatte, wurde systematisch abgebaut."
Kritik kommt längst nicht nur von Gewerkschaften, die naturgemäß die Interessen von Arbeitnehmern vertreten. Ausgerechnet der für seine Arbeitnehmer-Feindlichkeit bekannte Chef der Billig-Airline RyanAir, Michael O'Leary, äußerte sich kürzlich über die andauernden Probleme und die "schlechte Produktionsqualität bei Boeing". Er sprach von "Schraubenschlüssel unter den Dielen", "fehlenden Sitzgriffen" und einem "dringend benötigten" neuen Management im US-Konzern. Die Lieferprobleme müssten schnellstens abgestellt werden, so O'Leary.
Zur technischen Krise kam zuletzt auch eine menschliche Tragödie. Der langjährige ehemalige Boeing-Ingenieur und Qualitätsmanager John Barnett wurde an dem Tag, an dem er als Zeuge vor Gericht gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber aussagen sollte, tot aufgefunden. Offenbar war es Selbstmord. Aber Angehörige und Anwälte haben Zweifel an der Version geäußert. Die Mutter des Boeing-Whistleblowers macht inzwischen das Unternehmen für den Tod ihres Sohnes zumindest mitverantwortlich.
Und andere Angehörige von John Barnett teilten zuletzt mit: "Er litt unter posttraumatischer Belastungsstörung und Angstanfällen, weil er dem feindseligen Arbeitsumfeld bei Boeing ausgesetzt war, was unserer Meinung nach zu seinem Tod führte." Für Boeing ist Barnetts Tod ein weiteres, öffentliches Desaster.
Ein neuer Handelskrieg droht obendrein
Für Boeing kommt all das zur Unzeit. Denn es gibt ein noch viel größeres Problem. Und das lautet Airbus. Im Wettbewerb mit dem europäischen Konkurrenten verpasste der US-Flugzeugbauer zuletzt wichtige Ziele. Boeing hinkt Airbus bei der Lieferung von bestellten Flugzeugen deutlich hinterher. Und demnächst könnte ein fast schon vergessener, fast 17 Jahre lang andauernder Handelskrieg zwischen den USA mit Boeing einerseits und der Europäischen Union andererseits wieder losbrechen.
Unter Joe Biden als US-Präsidenten kam es 2021 ziemlich schnell zu einer Übereinkunft mit der EU. Man vereinbarte, dass man die gegenseitigen Strafzölle für fünf Jahre aussetzen würde. Außerdem wollte man sich verpflichten, gleiche Wettbewerbsbedingungen für beide Unternehmen diesseits und jenseits des Atlantiks zu schaffen. Doch geschehen ist bislang wenig. Und nach t-online-Informationen wird es während der letzten Monate der Biden-Präsidentschaft auch zu keinem Durchbruch mehr kommen. Sollte Donald Trump wieder ins Weiße Haus gewählt werden, könnte, gemessen an dessen früheren Verhalten, eine erneute Eskalation drohen. Mit allen negativen Konsequenzen, auch für Boeing.
Schlechte Erinnerungen an Donald Trump
Der US-Flugzeugbauer hatte schon während der vergangenen Trump-Präsidentschaft schlechte Erfahrungen gemacht. Öffentlichkeitswirksam wollte Donald Trump 2018 gegenüber Boeing demonstrieren, was für ein guter Geschäftsmann er sei. Der Präsident drückte den Preis für die Neuanschaffung der Air Force One immer weiter. Sein Druckmittel war das Nationalprestige schlechthin. Hätte Boeing nicht mitgespielt, hätte Trump den Auftrag womöglich an ein anderes Unternehmen vergeben.
Der Trump-Deal hatte vorgesehen, dass Boeing und nicht die US-Regierung die Kosten etwaiger Vertragsüberschreitungen tragen müsse. Dadurch verlor man offenbar insgesamt 1,1 Milliarden Dollar. Der heutige CEO David Calhoun bedauerte deshalb die Entscheidung, die noch unter seinem Vorgänger getroffen wurde, später mit den Worten, dass man den Deal "wahrscheinlich nicht hätte annehmen sollen".
Die Profiteure lauern in Fernost
Die guten Jahre von Boeing scheinen vorbei zu sein. Seit einem Rekordwert im Mai 2019 hat sich der Aktienwert des Flugzeugbauers mehr als halbiert, trotz zwischenzeitlicher Erholung nach der Covid-19-Pandemie. Bei Airbus hingegen geht es stetig bergauf.
Vor wenigen Tagen kam dann noch eine weitere Horrormeldung, dieses Mal aus Fernost: Wegen der Probleme bei Boeing kündigte Hongkongs extrem erfolgreiche Fluggesellschaft Cathay Pacific an, eine sogenannte "ABC"-Zukunft zu prüfen. Das bedeutet, man könnte künftig Flugzeuge nicht nur von Airbus und Boeing, sondern auch vom chinesischen Staatsunternehmen Comac einkaufen. Der Konzern arbeitet außerdem mit Russland zusammen. Das 2017 gegründete Gemeinschaftsunternehmen China-Russia Commercial Aircraft International Company (CRAIC) plant derzeit, ein Langstreckenflugzeug auf den Markt zu bringen, das Boeing und Airbus angreifen soll.
Für Amerika wäre das ein weiterer Schlag gegen das eigene Prestigeunternehmen und damit auch gegen den eigenen Patriotismus. Gerade im immer heftiger werdenden Kampf gegen die kommunistische Konkurrenz aus Peking.
Wer glaubt, das Schlimmste müsste doch aber eigentlich überstanden sein, braucht derzeit nur die amerikanischen Nachrichten zu verfolgen. Die jüngste Nachricht stammt von diesem Wochenende. Sie lautete fast schon zynisch: "Ein weiteres Flugzeug der United Airlines musste wegen technischer Probleme vorzeitig landen – und ja, es war ein Boeing-Jet". Es war allein im Monat März das 14. Mal, dass Derartiges in den USA passierte.
- Eigene Recherchen
- nytimes.com: "F.A.A. Audit of Boeing’s 737 Max Production Found Dozens of Issues" (Englisch)
- nytimes.com: "'Shortcuts Everywhere': How Boeing Favored Speed Over Quality" (Englisch)
- nypost.com: "Family of Boeing whistleblower John Barnett blames 'hostile work environment' for his death" (Englisch)
- reuters.com: "Highlights of the 17-year Airbus, Boeing trade war" (Englisch)
- reuters.com: "Ryanair CEO: Boeing quality is a concern, further delays possible" (Englisch)
- whitehouse.gov: "Statement by President Joseph R. Biden, Jr. on Agreement with the European Union on Boeing-Airbus" (Englisch)
- fastcompany.com: "3 ways to avoid flying on a Boeing 737 Max" (Englisch)
- cbsnews.com: "Family of Boeing whistleblower John Barnett speaks out following his death" (Englisch)
- sfgate.com: "How to avoid Boeing planes" (Englisch)
- fortune.com: "RyanAir CEO speaks out on 2 years of Boeing problems" (Englisch)
- fortune.com: "Boeing’s issues are prompting Hong Kong’s flagship airline Cathay Pacific to consider an 'ABC' future" (Englisch)
- prospect.org: "Suicide Mission What Boeing did to all the guys who remember how to build a plane" (Englisch)
- qz.com: "Another United Airlines plane had to land early with mechanical issues" (Englisch)