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Migrationsprognosen der Wirtschaftslenker: Zweites Wirtschaftswunder?


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Flüchtlingsprognosen der Wirtschaftslenker
Gründlicher konnte man nicht irren

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 12.09.2023Lesedauer: 4 Min.
Daimler-Chef Dieter ZetscheVergrößern des Bildes
Ex-Daimler-Chef Dieter Zetsche, 2015: Flüchtlinge werden "eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder" sein. (Quelle: dapd)
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Ein zweites Wirtschaftswunder hatten Daimler-Chef Dieter Zetsche und andere Big Bosse im Flüchtlingssommer 2015 für das Land kommen sehen. Gründlicher konnte man nicht irren.

Vergangene Woche fand die Internationale Automobilausstellung in München statt, wie alle Jahre. Sie wird in Erinnerung bleiben. Dort präsentierte sich Bundeskanzler Olaf Scholz das erste Mal öffentlich mit seinem Markenzeichen der vergangenen Tage, der Augenklappe. Ein spektakulärer Auftritt. Vor acht Jahren, im September 2015, hatte dort ein anderer, seinerzeit ein Prominenter mit einem Markenzeichen im Gesicht, eine ebenfalls aufsehenerregende Rede gehalten, die zu seinen Gunsten völlig in Vergessenheit geraten ist. Dieter Zetsche, der Mann mit dem Walrossbart, leitete damals den Weltkonzern Daimler. Was er sagte, hatte Gewicht und fand Gehör, besonders bei einem Heimspiel wie auf der IAA.

Ebenfalls vergangene Woche vermeldete die "Neue Osnabrücker Zeitung" eine spektakuläre Zahl: 3,3 Millionen Flüchtlinge, so berichtete die Zeitung als Antwort auf eine Regierungsanfrage der Linksfraktion, lebten im Juni dieses Jahres in Deutschland, 111.000 mehr als ein halbes Jahr vorher. Nur im Nachkriegsdeutschland der Fünfzigerjahre gab es ähnliche Zahlen.

Als Dieter Zetsche vor 8 Jahren ans Rednerpult trat, hatte dieses Phänomen gerade begonnen. Die Flüchtlingskrise von 2015 war gerade erst ein paar Tage alt, und Zetsche sah zwar eine "Herkulesaufgabe", aber auch eine große Chance auf Deutschland zukommen. Im besten Falle könne diese Entwicklung "eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder" sein – so wie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Millionen an Gastarbeitern zum Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen hätten.

"Genau solche Leute suchen wir bei Mercedes"

Natürlich, räumte er ein, sei nicht jeder Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer. Aber wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert: "Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land." Studien zufolge drohten fast 40.000 Lehrstellen unbesetzt zu bleiben. Deshalb müssten Flüchtlinge in Deutschland willkommen geheißen werden: "Wer an die Zukunft denkt, wird sie nicht abweisen."

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Zetsche war unter seinesgleichen nicht allein mit dieser Meinung. Auch andere Industriekapitäne, Porsche-Chef Matthias Müller, der Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik, Klaus Engel und der Post-Vorstandsvorsitze Frank Appel hatten sich wie Zetsche eingelassen.

Der bis heute amtierende Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, ging damals in einem Beitrag für die "Zeit" sogar so weit, vorauszusagen, der Zuzug werde die Vormachtstellung Deutschlands im Zentrum Europas "auf Jahrzehnte festigen". Deutschland halte "die Chance in den Händen, seinen Ruf als globales wirtschaftliches 'Powerhaus' zu festigen und kann längerfristig wieder zu dem wissenschaftlichen und kulturellen Zentrum zu werden, das es einmal war. Mit ihrem Bekenntnis zur Zuwanderung könnte Angela Merkel einer der großen Staatsführer werden, die Deutschland weit über die eigene Generation hinaus verändert haben."

Heute, acht Jahre später, ist festzuhalten: Gründlicher kann man nicht irren als Zetsche und Co. Deutschland ist nach einer Erhebung des Internationalen Währungsfonds unter 22 ausgewählten Wirtschaftsregionen der Welt das Schlusslicht. Von einem Wirtschaftswunder weit und breit keine Spur, im Gegenteil. Und die Integration in den Arbeitsmarkt findet nur sehr schleppend statt. Statista vermeldet für das Jahr 2023 bei den besagten 3,3 Millionen im Durchschnitt 523.839 Personen aus nicht-europäischen Asylherkunftsländern als sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Da sind keine 20 Prozent.

Nur die Hälfte der Flüchtlinge von 2015 hat inzwischen Arbeit

Der Migrationsforscher Herbert Brücker hat jüngst errechnet, dass von den 900.000 Flüchtlingen, die 2015, als Zetsche seine Rede hielt, etwas mehr als die Hälfte inzwischen in sozialversicherter Arbeit sind. Das kann man schon beachtlich finden, ausreichend ist es nach acht Jahren nicht im mindesten. Wenn fast die Hälfte der Zuwanderer sich in den Sozialsystemen nicht als Beitragszahler, sondern als Empfänger wiederfinden, dann entsteht alles Mögliche, aber sicher kein Wirtschaftswunder. Für diesen Befund muss man nicht VWL studiert haben.

Seinerzeit, als sich namhafte Wirtschaftslenker in Euphorie überschlugen, war ich zu Besuch bei Jürgen Kluge. Als Jung-Verleger von "Cicero" suchte ich nach möglichen Unterstützern. Kluge, legendärer vormaliger Chef der Beraterfirma McKinsey, galt damals als Intellektueller in seiner Branche. Er war sehr nett, zeigte mir seine stattliche Oldtimer-Sammlung, und seine Frau hatte einen wunderbaren Kaffeetisch vorbereitet. Kluge war gerade aus den USA zurückgekehrt, wo er auch in diversen Aufsichtsräten saß. Dort hatte er seinen – vom deutschen Vorgehen in der Flüchtlingskrise etwas irritierten – Gesprächspartnern erzählt, welch große Chance in all dem stecke.

Voraussagen bei Kaffee und Kuchen

Als er bei Kaffee und Kuchen nebenbei bemerkte, dass wir den neu ankommenden jungen Männern den angemessenen und hier gepflegten Umgang mit Frauen auch noch beibrächten, da widersprach sogar seine Frau. Ich sagte, dass ich seine Sicht nicht teile, er aber doch bitte einen Essay für "Cicero" mit dieser Stoßrichtung schreiben solle. Was Kluge dankenswerterweise tat. Über diesen Text würde ich liebend gerne im Hier und Heute noch einmal mit ihm sprechen.

Mein Befund jedenfalls ist: Wir haben es nicht geschafft. Wir sind gescheitert. Auch an uns selbst. Weil wir uns bis in die Wirtschaftseliten hinein von zu viel Wunsch und zu wenig absehbarer Wirklichkeit haben leiten lassen.

Verwendete Quellen
  • statista.com: "Anzahl der sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten aus nicht-europäischen Asylherkunftsländern in Deutschland im Jahresdurchschnitt von 2012 bis 2023"
  • noz.de: "So viele geflüchtete Menschen in Deutschland wie seit Jahrzehnten nicht"
  • faz.net: "Auf dem Sonderweg zur Migration" (kostenpflichtig)
  • zeit.de: "Lasst sie kommen!"
  • Eigene Recherchen
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