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"Wir kommen an mehr Zuwanderung nicht vorbei"


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Reform des Einwanderungsgesetzes
"Vor 20 Jahren wäre die CDU-Position verständlich gewesen"

InterviewVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 30.11.2022Lesedauer: 5 Min.
Zugewanderte aus Eritrea auf einer Jobbörse (Archivbild): Wer eine erfolgreich abgeschlossene Berufsausbildung hat, kann früher einen Antrag auf Einbürgerung stellen.Vergrößern des Bildes
Migranten aus Eritrea auf einer Jobbörse (Archivbild): Wer eine erfolgreich abgeschlossene Berufsausbildung hat, kann früher einen Antrag auf Einbürgerung stellen. (Quelle: Rainer Weisflog/imago-images-bilder)

Deutschland fehlen an allen Ecken Fachkräfte, die Regierung will nun mit einer Reform des Einwanderungsgesetzes gegensteuern. Warum das Gesetz aber zu kurz greift, erklärt der Ökonom Wido Geis-Thöne.

Wie sehr Deutschland Arbeitskräfte fehlen, ist überall erkennbar: Das Restaurant schließt früher, weil es keine zweite Köchin mehr gibt. Auf einen Handwerkertermin wartet man mancherorts vergeblich. Und viele Krankenhäuser nehmen weniger Patienten auf, weil nicht genug Pflegekräfte da sind.

Ökonom Wido Geis-Thöne vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) warnt schon lange, dass Deutschland dringend mehr Zuwanderung brauche. Nun plant die Bundesregierung eine Reform des Einwanderungsgesetzes. Im Interview erklärt Geis-Thöne, warum die Pläne seiner Meinung nach zu kurz greifen, was er von der Kritik der CDU hält und in welchen Punkten Deutschland noch von Kanada lernen kann.

t-online: Herr Geis-Thöne, Ihr Institut warnt schon lange vor Engpässen am Arbeitsmarkt. Wie dramatisch ist die Situation?

Wido Geis-Thöne: Wir haben schon heute starke Engpässe in vielen Bereichen, etwa bei technischen Berufen oder nun auch, bedingt durch die Corona-Krise, bei Dienstleistungen. Über das Jahr verteilt fehlen etwa 400.000 Fachkräfte, und mit jedem weiteren Jahr werden es mehr. Der aktuelle Arbeitskräftemangel ist allerdings noch harmlos im Vergleich mit dem, was in den kommenden zehn Jahren passieren wird.

Weshalb?

Wir haben in Deutschland eine sehr spezielle demografische Entwicklung. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunächst relativ niedrige Geburtenraten. Ende der 1950er Jahre stiegen sie stark an, ab Mitte der 1960er Jahre aber sanken sie wieder steil. Diese wenigen geburtenstarken Jahrgänge scheiden nun langsam aus dem Arbeitsmarkt aus und können durch nachrückende Jahrgänge nicht ersetzt werden. Zwar liegt der gesetzliche Renteneintritt derzeit beim Jahrgang 1956. Allerdings scheiden viele Menschen früher aus dem Berufsleben aus. Dadurch sehen wir eine sich immer schneller verstärkende Spirale an Engpässen und das betrifft fast alle Branchen. Bislang haben wir uns stark auf Zuwanderer aus osteuropäischen Staaten verlassen, aber auch dort rücken mittlerweile kleinere Jahrgänge in den Arbeitsmarkt nach. Wir kommen also an mehr Zuwanderung aus Staaten außerhalb Europas gar nicht vorbei.

(Quelle: Uta Wagner/Institut der deutschen Wirtschaft)

Zur Person

Der promovierte Ökonom Wido Geis-Thöne forscht seit mehr als zehn Jahren am Institut der Deutschen Wirtschaft. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem auf den Themen demografische Entwicklung, Migrationsprozesse und Fachkräftezuwanderung.

Welche Branchen sind besonders betroffen?

Einerseits natürlich der Gesundheits- und Pflegebereich, der schon lange unter Engpässen leidet. Im Handwerk scheiden ebenfalls viele Menschen mit Berufsausbildung aus, die nicht einfach ersetzt werden können. Aber auch der akademische Bereich wird stark betroffen sein.

Die Bundesregierung hat an diesem Mittwoch die Eckpunkte zu ihrer Reform des Einwanderungsgesetzes beschlossen, mit dem sie mehr qualifizierte Zuwanderung nach Deutschland erwirken will. Löst das die Probleme auf dem Arbeitsmarkt?

Die Reform geht in die richtige Richtung, löst aber bei Weitem nicht alle Probleme. Die Ausbildung von Menschen aus dem Ausland etwa kommt zu kurz. Junge Menschen müssten gezielt nach Deutschland geholt werden, um sie hier betrieblich auszubilden und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. An den Hochschulen funktioniert das bereits, aber auch das ist ausbaufähig. Viele wichtige Punkte adressiert die Regierung aber, wie etwa die Prüfung der Bildungsabschlüsse. Das ist bislang insbesondere für berufliche Abschlüsse sehr kompliziert.

Menschen sollen künftig auch ohne anerkannten Berufsabschluss einwandern können, die Qualifizierung soll dann in Deutschland überprüft werden. Sehen Sie da nicht auch einen Mehraufwand für die Wirtschaft?

Im Gegenteil, das ist ein Riesenvorteil. Bislang haben wir bei der Prüfung beruflicher Abschlüsse eine sehr komplexe Einzelfallprüfung. Die Antragsteller müssen extrem viele Unterlagen einreichen, die aber in bestimmten Ländern nur schwer oder gar nicht zu bekommen sind. Teilweise ist nicht einmal klar, welche Stelle überhaupt zuständig ist. Diese Prozesse sind nicht nur komplex, sondern auch sehr langwierig. Wenn es nun die Möglichkeit gibt, die Qualifizierung in Deutschland zu überprüfen, ist das eine maßgebliche Entlastung.

Die Regierung plant auch eine Chancenkarte: Menschen mit "gutem Potenzial" sollen Punkte sammeln können, etwa für Sprachkenntnisse, Deutschlandbezug oder Qualifikationen. Diese Menschen dürfen dann ohne Arbeitsplatz nach Deutschland kommen und hier eine Stelle suchen. Die CDU kritisiert das massiv.

Vor 20 Jahren, als es noch eine hohe Arbeitslosigkeit gab, wäre die Position der CDU nachvollziehbar gewesen. Nun aber haben wir riesige Lücken am Arbeitsmarkt. Wir brauchen jede gut qualifizierte Fachkraft aus Drittstaaten, die wir bekommen können. Sonst wird es schwierig, die Wirtschaft auf dem jetzigen Niveau zu halten und die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten.

Die CDU hängt also in der Vergangenheit fest?

Die Partei hat derzeit ein Problem, sich politisch zu positionieren. Sie hat einen konservativen Markenkern und dazu passt ein kritischer Blick auf Zuwanderung. Für die Wirtschaft aber ist die Zuwanderung unerlässlich. Das, was die Bundesregierung im Bereich der "Chancenkarte" plant, ist aus meiner Sicht auch eher das Minimum von dem, was möglich wäre. Kanada ist in diesem Bereich weiter.

Was könnte denn die Bundesregierung von Kanada lernen?

Kanada beschränkt sein Punktesystem nicht nur auf spezifische Lücken im Arbeitsmarkt, sondern hat die demografische Entwicklung im Auge. Das Land bietet den Menschen, die so in das Land kommen, mehr Sicherheit: Wer diesen Aufenthaltstitel bekommt, darf auch bleiben. Die Bundesregierung sieht vor, ein zeitlich begrenztes Visum zur Arbeitsplatzsuche zu erteilen. Da stellt sich die Frage, wie viele gut ausgebildete Fachkräfte das tatsächlich wollen. Suchen sie sich dann wirklich einen Job in Deutschland oder bemühen sie sich eher im Rahmen des Punktesystems um einen dauerhaften Aufenthalt in Kanada, Australien oder Neuseeland? In anderen Bereichen ist Deutschland allerdings liberaler als diese Staaten, etwa wenn es um die Zuwanderung von Menschen mit einer Arbeitsplatzzusage in Deutschland geht. Nur müsste Deutschland da viel offensiver für werben, international ist das nicht unbedingt bekannt.

Das ist nicht der einzige Kritikpunkt an der deutschen Einwanderungspolitik. Die Verfahren gelten auch als sehr kompliziert.

Auch da kann Deutschland sich ein Vorbild an Kanada nehmen: Dort gibt es eine zentrale Stelle, bei der die Interessierten im ersten Schritt online den Antrag stellen. Für Deutschland aber müssen die möglichen Zuwanderer bei der Auslandsvertretung den Antrag persönlich stellen. Die schicken den dann weiter zur Ausländerbehörde nach Deutschland, die ja auch dezentral organisiert ist. Der Prozess ist im Vergleich zum kanadischen kompliziert und auch langwieriger. Hier bräuchte es eine Zentralisierung und auch eine Digitalisierung, damit verschiedene Behörden auf die Unterlagen zugreifen können und die nicht per Papier hin- und hergeschickt werden müssen.

Nun haben wir viel über Zuwanderung gesprochen, um die Lücke auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. Aber ist nicht auch die Wirtschaft in der Pflicht, Arbeitskräfte effektiver einzusetzen und so einzusparen?

Ich sehe zwei große Punkte, an denen Politik und Wirtschaft ansetzen müssen, um auch im Inland mehr Potenziale zu schaffen. Zum einen verlassen zu viele junge Menschen das Bildungssystem ohne einen Abschluss und finden dann am Arbeitsmarkt keinen Anschluss. Da brauchen wir eine Bildungsoffensive. Der zweite Punkt ist das Thema Digitalisierung. In vielen Fällen können durch automatisierte Lösungen Arbeitsschritte abgeschafft werden. Das ist die Aufgabe der Wirtschaft. Eine Automatisierung kann natürlich einen Beitrag dazu leisten, dass nicht mehr so viele Arbeitskräfte gebraucht werden wie aktuell. Bei den Lücken aber, die derzeit drohen, reicht das nicht ansatzweise.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Geis-Thöne.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Wido Geis-Thöne am 30. November
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