FC Barcelona in der Krise Pakt mit Star-Trio wird Luis Enrique zum Verhängnis
Aus Spanien berichtet Florian Haupt
Traurige Statistiken sind das, die sie momentan in Barcelona ausgraben. Zum Beispiel diese: Nur einmal, 1928/29, in der allerersten Saison des spanischen Ligabetriebs, wurde der FC Barcelona Meister, wenn er sein Heimspiel gegen Real Madrid verlor.
Das aber ist diese Saison auch passiert, vor gerade mal zwei Wochen. Es scheint eine Ewigkeit her. Damals wirkte die Niederlage wie eine bloße Fußnote, mehr ein Stimulus für das krisengeplagte Madrid als ein Drama für das erstmals seit 39 Spielen besiegte Barcelona. "Keine Mannschaft würde nicht mit uns tauschen wollen", sagte Trainer Luis Enrique angesichts einer unverändert exzellenten Ausgangsposition für alle Titel.
Seitdem ist man aus der Champions League geflogen und hat zwei weitere Ligaspiele verloren. In der Tabelle heißt es: Barcelona 76 Punkte, Atletico Madrid 76, Real Madrid 75. Noch liegt Barca vorn. Aber tauschen würden wohl nicht mehr alle mit den Katalanen vor dem plötzlich bleischweren Gang am Mittwoch zu Deportivo La Coruna. Nur der in Spanien bei Punktgleichheit ausschlaggebende direkte Vergleich spricht noch für den Titelverteidiger. Die Tendenz spricht für die Hauptstadtklubs.
Pleite im Clasico der Wendepunkt
Das Heimspiel gegen Real Madrid also, das erste nach dem Tod von Johan Cruyff, das erste nach einer zweiwöchigen Länderspielpause - immer mehr scheint sich als Wendepunkt dieser Saison herauszukristallisieren, wie ein zunächst chancenloses Real gegen ein anfangs dominantes Barcelona und gegen alle Erwartung in der letzten halben Stunde noch das Spiel drehte.
Eine halbe Stunde bloß der Unachtsamkeit bei Barca, der Müdigkeit vielleicht. Aber eine halbe Stunde kann sehr viel sein. Jorge Valdano, der Fußball-Denker und Weltmeister von 1986, hat es mal wieder auf den Punkt gebracht: "Man darf den Fußball nie unterschätzen, weil er hin und wieder durchdreht. Nur kurz, aber die Folgen sind nicht zu stoppen", sagte er nach Barcelonas jüngster Pleite gegen Valencia.
Barcelonas Effizienz verabschiedet sich
Sicher, bei genauerer Betrachtung waren schon unter den 39 unbesiegten Spielen so manche dabei, die locker hätten verloren gehen können. Gegen Leverkusen in der Champions League zum Beispiel. Auch in der Liga, in Malaga, Las Palmas oder noch im letzten Spiel vor der Länderspielpause, beim 2:2 in Villarreal. Doch da schien die Meisterschaft ja auch schon entschieden. Da dachte man noch, der gute Gaul springt eben nur so hoch, wie er muss. Da bewunderte man die Effizienz der Triple-Verteidiger, ihre Anpassungsfähigkeit an eine Situation, in der Barca wegen Supercups und Klub-WM besonders gut mit den Kräften haushalten musste. 56 Spiele haben die Katalanen bereits in den Knochen, das darf man nicht vergessen. Sieben mehr als Atletico, zwölf mehr als Real.
Ob die Körper müde sind, wird in Barcelona breit debattiert. Luis Enrique bestreitet es vehement - nichts bringt ihn, den Fitnessfanatiker und Hobby-Triathleten, dieser Tage mehr auf die Palme als solche Unterstellungen, die er als regelrecht ehrenrührig zu betrachten scheint. Dabei wäre es ja sogar verständlich, zumal bei dem südamerikanischen Sturmtrio aus Messi, Suarez und Neymar, das während der jüngsten Länderspielpause um den halben Globus jettete und seitdem besonders deutlich unter Niveau bleibt.
Barcelona verliert trotz klarer Dominanz
Andere Erklärungen: Es fehlt weniger die körperliche als die geistige Frische, ein bekanntes Phänomen bei überspielten Mannschaften. Und natürlich der Lauf, die Dynamik: Ab einem gewissen Moment sorgt ein Negativerlebnis fast automatisch für das nächste. Das Spiel gegen Valencia, ein 1:2 (0:2), verlief frei nach "Kobra" Wegmann ("Erst hatten wir kein Glück, und dann kaum auch noch Pech hinzu"): Barcelona dominierte bei jedem Spielstand. Angesichts von 22:7 Torschüssen hätte es zu anderen Zeiten mühelos gewonnen.
Aber in anderen, besseren Phasen ist eine Mannschaft von dieser Qualität eben auch in der Lage, solange nachzusetzen, bis die Tore zwangsweise fallen. Derzeit nicht. Barca fehlen das Auffangnetz und ein Plan B. Luis Enrique verzichtete gegen Valencia auf jede Auswechslung. Das wird bei ihm einerseits immer als stiller Protest gegen die Klubführung interpretiert, die ihm im Winter aus Rücksicht auf die angespannte Finanzlage weitere Zukäufe neben den bereits während der vorangegangenen Transfersperre verpflichteten Arda Turan und Aleix Vidal versagte. Andererseits zeigt es auch, dass der Trainer nicht nur wenig Handlungsspielraum sieht, sondern auch, dass er schlichtweg kaum welchen hat.
Luis Enriques Pakt mit Messi und Co.
So ist das im Grunde schon seit Januar 2015, als er seine Stars Messi und Neymar nach verlängertem Weihnachtsurlaub beim Spiel in San Sebastian auf der Bank ließ. Die Partie ging verloren und beschwor eine Krise herauf, die Messi das nächste Training schwänzen und Luis Enrique beinahe seinen Job verlieren sah. Der damalige Kapitän Xavi vermittelte schließlich einen Frieden, der im Wesentlichen aus einem Minimalkompromiss bestand. Luis Enrique ließ Messi sowie seine Kumpels Neymar und Suarez von der Leine, in jeder Hinsicht und inklusive Rotationsverzicht. Dafür würden ihm diese loyal verbunden bleiben.
Der Pakt funktionierte perfekt, solange der Dreizack in einem nicht enden wollenden Torrausch lebte. Die Mannschaft spielte für ihre Stürmer, und die schossen sie mit 122 Treffern vorige Saison zum Triple und mit 107 weiteren diese Saison in die Pole Position zur Verteidigung aller Titel. Doch insbesondere Neymar, in manchen Partien auch Messi und zuletzt sogar immer mehr der unermüdliche Suarez kommen seit dieser offenbar fatalen Länderspielpause nicht mehr auf ihr gewohntes Niveau - gerade mal drei Tore in fünf Partien. Und weil er sich seinem Trio auf Gedeih und Verderb ausgeliefert hat, bleiben Luis Enrique praktisch keine Möglichkeiten zur Korrektur, und sei es nur mal für eine Halbzeit.
Das Spielsystem ist in Stein gemeißelt
Taktisch lässt sich allenfalls an der Rolle von Messi tüfteln, der mal rechts auftaucht, mal in der Mitte hinter den anderen Spitzen und manchmal sowieso überall. Das entscheidet der Weltfußballer im Zweifelsfall selbst. Ansonsten ist das Spielsystem in Stein gemeißelt. Weil die Stars nicht immer zuverlässig nach hinten arbeiten, kann der Trainer nicht auf Außenverteidiger verzichten. Das 4-3-3 ergibt sich damit von selbst - und das in dieser Formation besonders intensive sowie bei Barca generell anspruchsvolle Mittelfeldspiel beherrschen wiederum so wirklich überzeugend nur die Stammkräfte Iniesta, Rakitic und Busquets. Die beiden letzteren sind unübersehbar erschöpft, in der aktuellen Extremsituation aber dennoch unersetzlich. Unter anderem weil der 40 Millionen Euro teure Arda, Luis Enriques Wunschtransfer, immer noch nicht angekommen ist im Barca-Fußballuniversum.
Bleibt das Binnenverhältnis im Sturmtrio, bleiben vor allem Messi, Neymar und ein paar unangenehme Fragen. Nicht nur wegen der Steueraffären des einen und der Partyausflüge, Vertragsspekulationen und Transfergerichtsprozesse des anderen. Die beiden Ausnahmespieler befruchten sich derzeit auch nicht mehr so erfolgreich wie noch vorige Saison. Neymar hatte seine stärkste Phase, als Messi im Herbst zwei Monate verletzt fehlte und er selbst sich zum Leader aufschwang. Seitdem entwickelt er sich eher zurück.
Titelkampf um eine bereits vergebene Trophäe
Kleinere Delle oder strukturelle Krise? Die nächsten Wochen werden vieles klären. Barca hat immer noch die Klasse, den Absturz aufzufangen. Aber in die letzten fünf Ligaspieltage startet es aus einer psychologisch undankbaren Positionen: Es muss um einen Titel kämpfen, den es schon sicher zu haben schien.