Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ex-Bundestrainer Vogts "Sind wir doch mal ganz ehrlich"
Deutschland musste sich der französischen Star-Truppe knapp geschlagen geben. Doch woran lag das – und was ist für das DFB-Team in diesem Turnier noch möglich?
"Seit 1978 bin ich Ehrenbürger Österreichs" – Mit diesem nicht ganz ernst gemeinten Spruch reagiere ich seit 41 Jahren auf Nachfragen zur WM 78 in Argentinien. Damals war ich es, der als Nationalspieler zum 1:1 gegen Österreich ins eigene Netz traf. Am Ende verloren wir 2:3 und schieden früh aus dem Turnier aus.
Warum ich diese Anekdote erzähle? Am Dienstagabend, fast ein halbes Jahrhundert später, erzielte Mats Hummels gegen Frankreich das erst zweite Eigentor einer deutschen Mannschaft bei einem Großturnier. Und ich möchte direkt zu Beginn dieser Kolumne jegliche Kritik an unserem vielleicht besten Verteidiger abräumen.
Hummels wird noch eine wichtige Rolle spielen
Damals flog vor meinem Eigentor unser Torwart Sepp Maier an einer Flanke vorbei, ich bekam den Ball unglücklich ans Knie und hatte keine Chance, zu reagieren. Maier entschuldigte sich nach der Partie damals sogar bei mir. Und auch Hummels kann man nun keine Schuld am Gegentor geben. Denn wäre er nicht so mutig zum Ball gegangen, hätte der Franzose Kylian Mbappé, der direkt hinter ihm im Strafraum lauerte, eingeschossen. Hummels trifft keine Schuld. Im Gegenteil! Ich bin heilfroh, dass er wieder für die Nationalmannschaft verteidigt. Er wird in diesem Turnier eine noch ganz wichtige Rolle im DFB-Team spielen. Davon bin ich überzeugt.
- Schlimme Szene vor DFB-Spiel: Protestierender verletzt Menschen im Stadion
Allgemein sollten wir die Pleite zum EM-Auftakt nicht zu schlechtreden. Wir haben gegen Frankreich – die wohl beste Mannschaft der Welt – nur knapp verloren. Mit diesem Ergebnis kann man umgehen. Und sind wir doch mal ganz ehrlich: Ein Remis gegen Frankreich wäre für uns wie ein Sechser im Lotto gewesen.
Was mich beim DFB-Spiel wirklich ärgerte
Was mich am Dienstagabend allerdings wirklich geärgert hat, war der ZDF-Kommentar von Belá Rethy, der andauernd davon sprach, dass Deutschland vor allem bei den beiden Abseitstoren der Franzosen ganz viel Glück hatte. Deutschland hätte seiner Meinung nach wohl auch höher verlieren können. Aber Glück? Ich sage: völliger Quatsch! Die Abseitstreffer der Franzosen waren das Ergebnis einer klugen taktischen Maßnahme von Bundestrainer Jogi Löw. Er wollte, dass seine Verteidigerreihe bei den Vorstößen der Weltklasse-Franzosen schnell und konsequent herausrückt. Die Folge daraus waren die Abseitsstellungen. Löw wollte das so. Das war kein Glück.
- Irrer Zweikampf: DFB-Star beißt Franzosen
Überhaupt sind mir nur zwei Dinge im deutschen Spiel aufgefallen, die man zur nächsten Partie gegen Portugal verändern muss.
Erstens: Aufgrund des knappen Spielstands war es schwierig für Löw, früh zu wechseln. Er hat wohl bis zum Ende daran geglaubt, dass einem Spieler aus seiner Startformation ein Tor gelingen kann. Doch darüber lässt sich wunderbar diskutieren. Denn ich finde, es war von Beginn an zu erkennen, dass wir zu wenige Torabschlüsse kreiert haben. Da muss sich Löw hinterfragen. Denn das war nicht Deutschland. So passiv können wir als große Fußballnation in der Offensive nicht spielen. Er hätte Kevin Volland beispielsweise früher bringen können. Der Angreifer der AS Monaco ist ein echter Torjäger und hätte im Angriff zusätzlich Dampf machen, vielleicht sogar ein Tor schießen können. Löw aber wechselte ihn erst in der 88. Minute ein.
Zweitens: Eine weitere Problemzone im deutschen Spiel gegen Frankreich: das zentrale Mittelfeld. Joshua Kimmich – für mich der beste zentrale Mittelfeldspieler, den wir haben – wurde von Löw auf die rechte Seite gestellt. Und machte es dort ordentlich. Doch das zentrale Duo Ilkay Gündogan und Toni Kroos hat mich wirklich enttäuscht. Von ihnen habe ich viel mehr erwartet. Sie wirkten gehemmt und zeigten zu wenig Fußballer-Temperament. Topstars wie Mbappé, Pogba und Griezmann müssen bei einem Zweikampf auch mal hart attackiert werden, wenn man sie nicht anders stoppen kann – natürlich immer mit fairen Mitteln!
Aber das passierte nicht. Gündogan und Kroos tauchten zu oft ab und schoben sich die Bälle hin und her. Sie hätten auch viel mehr scharfe und gut platzierte Pässe in die Spitze bringen müssen.
Denn um diesen bärenstarken Franzosen tatsächlich einen oder sogar drei Punkte abzunehmen, hätten wir selbstbewusster spielen müssen. Einige DFB-Akteure wirkten zu ängstlich, vielleicht war auch der Respekt vor dieser Topauswahl zu groß. Aber Kampf und die richtige Körpersprache muss man gerade gegen diese Gegner zeigen.
Jogi Löw kann ich deshalb nur einen Ratschlag geben:
Schau dir mit deiner Mannschaft die deutschen Partien der EM 1996 an. Damals – vor 25 Jahren – gewannen wir das Turnier. Der letzte deutsche EM-Titel! Und wir hatten tolle Fußballer in unseren Reihen, aber vor allem zeichnete uns die richtige Körpersprache und der unendliche Kampfgeist aus. Wenn das DFB-Team in diesem Bereich noch nachlegt, glaube ich daran, dass auch die EM 2021 noch zu einer Erfolgsgeschichte für uns werden kann. Vielleicht motivieren die alten Videos von 1996 ja. Das wäre gut.
Denn ein Sieg gegen Portugal am Samstag reicht schon, um alles wieder möglich erscheinen zu lassen. Noch mal: Wir haben knapp mit 0:1 gegen die beste Mannschaft der Welt verloren. Das kann passieren. Jetzt fängt das Turnier für uns Deutsche erst so richtig an!