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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historischer Fehlstart in die EM Warum sich jetzt ein Systemwechsel anbahnt
Zum ersten Mal in der Geschichte verlor Deutschland ein EM-Auftaktspiel. Der Bundestrainer verzichtete dabei auf Überraschungen und stellte Joshua Kimmich rechts auf. Ein Fehler?
Es lief die 7. Spielminute in der Münchner Allianz Arena, als es auf der aus Sicht der DFB-Elf rechten offensiven Außenbahn zu einer spielentscheidenden Szene kam. Im Duell der Bayern-Kollegen stellte Joshua Kimmich seinen Körper in den Weg von Frankreichs Linksverteidiger Lucas Hernández.
Hernández fiel zu Boden, die Menge raunte – und der Schiedsrichter zeigte Kimmich die Gelbe Karte, was vom Münchner Publikum mit einem Pfeifen quittiert wurde, ehe es wenige Sekunden später zu einem "Steh auf, wenn du für Deutschland bist", anstimmte.
Kleinliche Pfiffe des Schiedsrichters
Der ohnehin sehr kleinlich pfeifende Schiedsrichter mit dem klangvollen Namen Carlos del Cerro Grande griff damit früh in ein hitziges Duell ein – mit Kimmichs Verwarnung vielleicht sogar spielentscheidend. Denn ausgerechnet jener Kimmich auf rechts, über dessen Position im deutschen 3-4-3 im Vorfeld der Partie so sehr debattiert wurde wie über keine andere Planstelle, sah sich nun vorbelastet einer pfeilschnellen französischen Offensive ausgesetzt.
Das Starensemble von Didier Deschamps wusste die frühe Hypothek auszunutzen – und suchte fortan vermehrt den Weg über die rechte deutsche Seite. Kimmich, der wie sein Konterpart Gosens auf links gefährliche Flanken schlagen sollte, blieb blass. Nein, es war nicht die Partie des so talentierten Ehrgeizlings, der sich dem Löwschen Wunsch unterwarf und die Rolle im rechten Mittelfeld ohne zu Murren annahm.
Doch es blieb nicht nur beim blassen Auftritt. Kimmich, der an sich selbst die höchsten Ansprüche stellt, war beim unglücklichen 0:1 mit beteiligt, als er zu weit einrückte und dadurch den heranrauschenden Hernandez nicht mehr rechtzeitig stoppen konnte.
"Wir haben es nicht richtig wegverteidigt und den Seitenwechsel nicht verhindert", nahm Linksverteidiger Robin Gosens nach der Partie ehrenhaft den Gegentreffer mit auf seine Kappe. Doch war es nicht die einzige Szene, in der Kimmichs Leistung zu wünschen übrig ließ.
Sein riskanter Spannschuss quer über den Platz, der gefährlich in Pogbas Füßen landete (30.) sowie seine offensive Ausrichtung, die Frankreich immer wieder über seine Seite kommen ließ, standen symptomatisch für das deutsche Spiel. Hinten zu anfällig, vorne mit zu wenig Durchschlagskraft.
So war es auch nicht Kimmich, der die beste deutsche Chance durch Gnabry vorbereitete, sondern der sich in jeden Ball reinwerfende Gosens, dessen unbändiger Einsatz vom Publikum immer wieder mit tosendem Applaus quittiert wurde. Kimmich dagegen, durch die Gelbe Karte gehandicapt, blieb offensiv nahezu wirkungslos.
"Es war unser Plan, über die Außen zu spielen. Joshua und Robin waren angewiesen, hoch zu stehen und rauszugehen", bilanzierte der enttäuschte, aber nicht geknickte Bundestrainer nach der Partie. Im Fall Kimmich erwies sich die Idee jedoch als wenig gewinnbringend.
- Tagesanbruch: Die Niederlage gegen Frankreich ist ein Erfolg
Dennoch würde es zu weit gehen, die knappe Auftaktniederlage dem System zuzuschieben – geschweige denn an einer Person festzumachen.
"Wir brauchen gute Leute auf den Außenpositionen. Wir haben mehr Möglichkeiten, von dort zu kommen, als über das Zentrum", hatte der Bundestrainer noch vor der Partie im ZDF gesagt. Allein: Die Flanken prallten an den großgewachsenen französischen Defensivspielern ab.
So wird sich auch Löw fragen müssen, ob er für das kommende Duell mit Portugal von einer Dreier- auf eine Viererkette wechselt – und damit auch Joshua Kimmich wieder auf seine angestammte Position aufs Zentrum zieht.
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Rückt Kimmich wieder ins Zentrum?
Ob Leon Goretzka dann schon eine Option für die Startelf sein wird, bleibt abzuwarten. So oder so sei es, wie der Bundestrainer auf der virtuellen Pressekonferenz nach der Partie verlauten ließ, auf jeden Fall eine Möglichkeit, ihn im Laufe des Portugalspiels einzuwechseln.
Ein Wechsel Kimmichs in die Zentrale würde aber zumindest eine weitere Baustelle öffnen – und die Überbesetzung im zentralen Mittelfeld erneut zum Thema machen.
Alternativ könnte Löw eben auch auf seine Frankreich-Formation vertrauen. Denn neben der fehlenden Durchschlagskraft war es auch einer extrem stabil stehenden französischen Defensive zu verdanken, dass die deutsche Elf kaum zu Torgelegenheiten kam.
So blieben alle drei deutschen Angreifer harmlos und konnten sich bis auf die erwähnte Gnabry-Chance keinerlei Gelegenheiten erarbeiten. Ob dies mit Kimmich im Zentrum anders gelaufen wäre? Geschenkt. Der Fokus liegt auf kommenden Samstag. Dann ist der Gegner auch nicht mehr der Weltmeister. Sondern "nur" der Europameister.
- Eigene Beobachtungen vor Ort