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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nächste Station Madrid oder Manchester Die größte Überraschung der Bundesliga

Am Samstag blickt ganz Fußball-Deutschland nach Mainz. Nach Mainz? Ja, denn dort findet ein Spiel um die Champions League statt.
In jeder Bundesliga-Saison gibt es mindestens ein Überraschungsteam, das sich in aller Regel für einen europäischen Wettbewerb qualifiziert. In der Vorsaison waren es der 1. FC Heidenheim und der VfB Stuttgart. Dieses Jahr ruft Mainz 05 vielerorts Verwunderung hervor, war doch der Klub aus der Fastnachtshochburg in der jüngeren Vergangenheit eher ein Kandidat für den Abstiegskampf. So schlitterte Mainz zuletzt in der Saison 2020/21 sowie 2023/24 tief in den Tabellenkeller.
Die Realität sieht aktuell ganz anders aus. Die Nullfünfer befinden sich nicht nur in einem neuerlichen Hoch, wie wir es in ihrer gesamten Bundesliga-Zeit immer mal wieder erlebt haben, sondern sie könnten sich dieses Mal sogar für die Champions League qualifizieren. Es wäre der größte sportliche Erfolg der Vereinsgeschichte – nach vier Teilnahmen an der Europa League bzw. dem Vorgängerwettbewerb Uefa-Cup. Das Erstaunen wäre nicht nur in Deutschland groß, denn auch international haben die meisten Mainz allenfalls als günstigen Gemischtwarenladen für junge Talente auf dem Schirm.
"Im Sommer haben wir drei sehr gute Spieler abgegeben: Brajan Gruda, Leandro Barreiro und Sepp van den Berg. Danach musste man davon ausgehen, dass es etwas dauern würde, bis wir wieder in die Spur kommen", sagte Sportvorstand Christian Heidel vor einer Weile und implizierte, dass trotz der Abgänge die Leistungen von Saisonbeginn an mindestens einmal respektabel waren.
Das beste Nicht-Ballbesitz-Team
Der Erfolg ergibt sich alles andere als zufällig: Da wäre zum einen Cheftrainer Bo Henriksen, der bei weitem kein hochkarätiger Offensivtaktiker ist, aber verstanden hat, wie man in der Bundesliga auch ohne Top-Kader erfolgreich sein kann. Nur Bayern München und Bayer Leverkusen spielen wirklich kultivierten Ballbesitzfußball. Dahinter bestimmen Pressing und Umschaltspiel das Geschehen. Die notwendige Intensität dafür bringen die Nullfünfer mit, aber sie werden zugleich immer besser darin, den eigenen Ballbesitz mit der notwendigen Portion Sicherheit zu verwalten.
Im 3-4-2-1 von Henriksen steht mindestens ein Mittelfeldspieler tief vor den drei Verteidigern, damit auf jeden Fall numerische Überzahl gegen die erste Pressinglinie des Gegners vorherrscht. Frühe Ballverluste sollen um jeden Preis vermieden werden. Lieber gibt Mainz ein bisschen offensive Präsenz auf und setzt darauf, dass etwa die Flügelläufer Anthony Caci und Phillipp Mwene die Räume nach vorn hin zulaufen. Generell sind die Flügel und Halbräume jene Zonen, in denen sich normalerweise der Mainzer Ballbesitz entwickelt. Man sucht dort die Schnitt- und Schwachstellen in der gegnerischen Formation.
Eine der besten Jugendakademien des Landes
Trotzdem erklären solche taktischen Ansätze noch nicht in Gänze, weshalb Henriksens Team über dem eigentlichen Niveau performt. Aber genau das ist die Frage: Welches Niveau sollte denn dieser Kader wirklich haben? Nadiem Amiri wurde gerade im Alter von 28 Jahren in die deutsche Nationalmannschaft zurückgeholt. Das erste Mal seit 2020 könnte der ehemalige Hoffenheimer wieder zum Einsatz kommen.
Stefan Effenberg fand in seiner neusten Kolumne für t-online dafür eine einfache Erklärung: "Bundestrainer Julian Nagelsmann verteilt keine Almosen bei den Nominierungen, sondern bleibt weiter bei seiner konsequenten Durchsetzung des Leistungsprinzips. Aus diesem Grund fehlen auch große Namen wie Serge Gnabry oder Julian Brandt."
Und weiter: "Genau deshalb finden sich im DFB-Kader stattdessen nun auch Jonathan Burkardt und Nadiem Amiri von Mainz 05 wieder. Beim FSV ist unter Trainer Bo Henriksen zwar das Kollektiv entscheidend, aber sowohl Burkardt als auch Amiri ragen trotzdem heraus. Nagelsmann belohnt die beiden für ihre konstant starken Leistungen – und macht Burkardt auch deutlich, dass er ihn trotz seiner zahlreichen Verletzungsrückschläge der letzten Jahre nie aus den Augen verloren hat."
Amiri schien nach einer mehrheitlich durchwachsenen Zeit in Leverkusen schon abgeschrieben, obwohl sein fußballerisches Talent nicht verflogen war. Die Brust des Top-Scorers ist mittlerweile wieder breiter. "Ich bin fest davon überzeugt, dass wir am Ende der Saison etwas Gutes erreichen werden. Wir sind neun Spieltage vor Schluss auf Platz drei. Wer hier spielt und am Ende nicht dort stehen will, hat hier nichts zu suchen", teilte Amiri kürzlich mit.
Unterschätzte oder auch unterbewertete Spieler sind das eine, Eigengewächse das andere Element im Kader von Mainz. Seit Langem besitzt der Traditionsklub eine der besten Jugendakademien des Landes, die sich nicht vor Dortmund, Leipzig oder Stuttgart verstecken muss.
Lediglich die geringere Attraktivität des Namens verhindert vielleicht manches Mal, dass sich ein Talent frühzeitig Mainz anschließt. Und trotzdem gewann die U19 in der Saison 2022/23 zum zweiten Mal die A-Junioren-Bundesliga – im Übrigen wie schon 2009 im Finale gegen den BVB. Zum 2023er-Kader gehörten unter anderem Brajan Gruda, Nelson Weiper und Maxim Dal.
26. Spieltag
Kein Grund zum Abheben
Gruda wurde vor der laufenden Saison für 31,5 Millionen Euro an den englischen Erstligisten Brighton verkauft, wo es für den 20-Jährigen okay läuft, er aber kein gewichtiger Leistungsträger ist. Weiper hat sich derweil bereits als Joker im Bundesliga-Team etabliert, Dal wartet auf seine Chance in der Abwehr des Bundesliga-Teams. Zur Gruppe der Eigengewächse gehören zudem Torhüter Robin Zentner, Abwehrveteran Stefan Bell, Offensivallrounder Paul Nebel und Torgarant Jonny Burkardt.
Ähnlich wie auch in Freiburg, dem Gegner am Samstag, kann Mainz aufgrund der überschaubaren Anspruchshaltung und der limitierten finanziellen Mittel auf Nachwuchskräfte setzen. Nahezu niemand in Mainz würde es kritisieren, wenn die Nullfünfer immer wieder jungen Talenten eine Chance geben, selbst wenn diese anfangs Lehrgeld zahlen.
Auch andernorts wird gute Jugendarbeit geleistet, aber die Durchlässigkeit bis in die erste Elf ist gering. Nicht so in Mainz. Und das Gute ist: Sollte es für die Nullfünfer in einer Saison, in der RB Leipzig und Borussia Dortmund schwächeln, wirklich für die Champions League reichen, würde man nicht komplett abheben und plötzlich wie wild investieren. Auch Abgänge von Eigengewächsen und Leistungsträgern wären nicht das Ende der Welt.
Ähnlich wie der Fußball von Cheftrainer Henriksen strahlt der Klub eine gesunde Sachlichkeit und charmantes Understatement aus. Der Cheftrainer ließ sich nur einmal am Rande der Karnevalsaktivitäten ein wenig hinreißen. "Die vielen Tausend Menschen am Straßenrand ... was wäre wohl los, wenn wir hier mit Mainz Champions League spielen würden!", sagte der Däne. Dann wäre etwas los – und es gäbe lange Gesichter bei den Klubs mit mehr Budget.
- Eigene Recherche