FC Bayern | Bank trotz Topform: Sven Ulreich ermöglicht Treffer von Harry Kane

Torwartwechsel

Erst ignoriert – und jetzt der Held

Beim Sieg des FC Bayern in Istanbul ist Sven Ulreich einmal mehr der heimliche Held. Trotz seiner Topform muss der Torhüter schon am Samstag wieder auf die Bank.

Aus Istanbul berichtet Julian Buhl

Nachdem er bei der Siegerparty des FC Bayern in Kopenhagen (2:1) noch bis weit nach Mitternacht mitgefeiert hatte, verließ Sven Ulreich das Bankett nach dem 3:1-Sieg des Rekordmeisters bei Galatasaray in Istanbul dieses Mal als einer der ersten Spieler.

Kurz vor dem Ausgang stoppte ihn noch einmal einer der aus München mitgereisten Edelfans. Doch als dieser letzte Selfiewunsch dann auch erfüllt war, entschwand Ulreich aus dem Ballsaal des noblen Teamhotels Raffles und begab sich noch vor Mitternacht um 23:51 Uhr auf sein Zimmer.

In der Rede des Vorstandsvorsitzenden Jan-Christian Dreesen unmittelbar davor hatte Ulreich diesmal keine namentliche Erwähnung gefunden. Nach dessen Weltklasse-Parade in der Nachspielzeit in Kopenhagen hatte der noch gesagt: "Als Torwart hat man es ja wirklich nicht einfach: Entweder bist du der Arsch vom Dienst – oder du hast es halt gerettet. Heute hast du es gerettet."

Ulreich bewahrt in der "Hölle" die Ruhe

Aber auch wenn Dreesen es nicht noch mal explizit sagte: Auch gegen Galatasaray hatte Ulreich erneut einen großen Anteil am Erfolg. In der ersten Halbzeit, in der die Bayern mit 16 (!) zugelassenen gegnerischen Torschüssen einen Negativrekord aufstellten, hielt Ulreich sein Team nämlich gleich mit mehreren Glanztaten im Spiel.

In der "Hölle von Istanbul", wie das Gala-Stadion auch genannt wird, behielt er speziell in der Anfangsphase als einer der wenigen die Ruhe und verhinderte mehrfach die Führung von Galatasaray (7., 9., 38.). Nur beim in die Tormitte gechipten Elfmeter von Mauro Icardi (30.) war er chancenlos.

"Das war frech. Ich habe mir echt noch überlegt, ob ich stehenbleiben soll", scherzte Ulreich hinterher in den Katakomben des Stadions im Gespräch mit den Reportern, an dem auch t-online teilnahm. Er lachte: "Aber dann heißt es wieder, warum springt der nicht?"

Ulreich beweist erneut seinen Wert für Bayern

Ulreich stellte seinen Wert für die Mannschaft und den Klub jedenfalls eindrucksvoll unter Beweis. Wann immer er gebraucht werde, sei Ulreich da und man könne sich dann auch voll auf ihn verlassen, fasste Dreesen zuletzt ziemlich treffend zusammen.

In Abwesenheit von Stammtorhüter Manuel Neuer (Schien- und Wadenbeinbruch) belegt Ulreich das in dieser Saison bislang einmal mehr. Er präsentiert sich momentan in absoluter Topform und rettete seiner Mannschaft unter anderem auch in der Nachspielzeit in Leipzig (2:2), in Mainz (3:1) sowie gegen Manchester United (4:3) mit seinen Aktionen wichtige Punkte. Doch was wird jetzt aus ihm, wo Neuers Comeback naht, das für den Samstag gegen Darmstadt vorgesehen ist?

Ulreich: "Ich kenne meine Rolle"

Natürlich freue er sich immer, wenn er spiele, sagte Ulreich: "Aber ich kenne meine Rolle beim FC Bayern. Wenn Manu da ist und fit ist, wird er spielen." Ulreich ist bei Bayern dagegen nur als Held auf Zeit vorgesehen und eingeplant. "Der Manuel hat sich zurückgekämpft, und da freue ich mich für ihn, weil es einfach ein langer Weg für ihn war", so Ulreich weiter. "Wenn Manu am Wochenende spielen sollte, wird er ein gutes Comeback geben."

Ulreich ist – trotz seiner sehr überzeugenden Leistungen und seiner Topform – also gewillt, Bayerns Nummer eins, deren erprobter Stellvertreter er seit Jahren ist, wieder Platz zu machen und seinen Platz auf der Ersatzbank einzunehmen. Ansprüche auf Neuers Stammplatz würde er nie erheben.

Dass Ulreich seine Rolle bei Bayern nach wie vor derart loyal ausfüllt, ist mindestens erstaunlich. Schließlich hatte ihm der Klub erst Anfang des Jahres indirekt das Vertrauen entzogen und lieber Yann Sommer für 8,5 Millionen Euro von Gladbach verpflichtet, als auf ihn in der Rückrunde als Nummer eins zu vertrauen. Im Sommer war man sich dann bereits mit dem Spanier Kepa vom FC Chelsea über einen Wechsel einig, der bis zu Neuers Rückkehr ebenfalls als Nummer eins vorgesehen gewesen wäre. Der Spanier ließ den Transfer aber im letzten Moment platzen und wechselte lieber zu Real Madrid.

Ulreich nahm all das klaglos hin, beschwerte sich nie – und ließ lieber seine Taten auf dem Platz für sich sprechen. Endgültig steht es noch nicht fest, ob Neuer am Samstag tatsächlich – fast ein gesamtes Jahr nach seinem bislang letzten Spiel für die Münchner – ins Bayern-Tor zurückkehren wird. Ob es möglicherweise auch ein Risiko ist, jetzt auf Neuer, der momentan keinerlei Wettkampfpraxis hat, zu setzen und den formstarken Ulreich wieder auf die Bank zu setzen?

"Das klappt nur, weil beide auch Freunde sind."

"Wir müssen abwarten, mit Manu sprechen", sagte Tuchel nach dem Istanbul-Spiel bei Prime Video. Wenn er kann, dann werde er spielen, so Tuchel. "Wollen tut er sowieso." Ulreich ist jedenfalls gewillt, für Neuer zu weichen, und freut sich sogar, "dass Manu bald wieder auf den Platz darf, weil ich ihn als Mensch sehr mag." Die beiden Torhüter bilden bei Bayern nach wie vor ein sehr vertrautes und eingespieltes Duo.

Er werde "dann auf der Bank sitzen und Manu dabei unterstützen, dass er eine gute Saison spielt", sagte Ulreich noch. Er lebt den Teamgedanken wie kaum ein anderer und ist für Bayern somit eigentlich die perfekte Nummer zwei. Tuchel lobte Ulreich für seine herausragende Form und "sensationellen" Paraden in den letzten Wochen. Auch er schätzt, dass Ulreich "sich so überragend identifiziert mit der Rolle. Das klappt nur, weil beide auch Freunde sind."

Phantom Kane schlägt dank Ulreich zu

Bei der Partie in Istanbul stand jedenfalls noch ein wohl letztes Mal Ulreich im Tor der Bayern und damit auch im Mittelpunkt. Er ermöglichte es seiner Mannschaft überhaupt, dass Kingsley Coman (8.), Harry Kane (73.) und Jamal Musiala (79.) den 16. Bayern-Sieg in der Gruppenphase der Champions League in Folge mit ihren Treffern klarmachen konnten.

Kane war bis zu seinem Tor ziemlich blass geblieben, schlug nach seinem Phantomauftritt aber trotzdem eiskalt zu und lieferte kurz danach dann auch noch den Assist für Musiala. Er sei gerade noch dabei, sein Gehör wiederzufinden, sagte der Kapitän der englischen Nationalmannschaft unmittelbar nach dem Spiel noch sichtlich beeindruckt von der lauten und hitzigen Atmosphäre im Hexenkessel Rams Park.

Während des Spiels wurde eine Lautstärke von 132 Dezibel gemessen. "Wir haben uns gefühlt wie neben einem Düsenjet bei diesem unglaublichen Spiel", sagte Dreesen.

Bayern von Atmosphäre beeindruckt

Auch bei der Mannschaft hinterließ das offenbar seine Wirkung. "Wir mussten viel leiden in der ersten Halbzeit", sagte Tuchel. "Die Reaktion war sehr gut von der Mannschaft – dickes Kompliment."

Auch Joshua Kimmich war nach der "schwachen" ersten Hälfte, in der er unter anderem den Elfmeter verursachte und sich unmittelbar vor der Pause einen fatalen Ballverlust am eigenen Sechzehner leistete, mit der Leistungssteigerung seiner Mannschaft zufrieden. Die habe gezeigt, dass sie dann "trotzdem noch unsere Qualität auf den Platz bringen" könne.

Vor ein paar Wochen und Monaten hätte man diese Reaktion "wahrscheinlich nicht zeigen können", sagte Kimmich und blickte damit auf die ziemlich turbulente und wackelige Rückrunde der Bayern zurück. "Wie man gesehen hat, sind wir da auf jeden Fall einen Schritt weiter."

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So konnten die Münchner den Abend unter dem Glassternenhimmel im Ballsaal ihres Luxushotels bei diversen Vorspeisenvariationen, gedämpfter Dorade, Kumquat-Crème brûlée oder Baklava ausklingen lassen. Ulreich genoss seinen Triumph als heimlicher Held des Abends allerdings ziemlich bald dann doch lieber alleine.