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Neonazi-Sumpf in Solingen: Fünf Tote – und ein sechster Toter ein halbes Jahr zuvor


Neonazi-Sumpf in Solingen
Fünf Tote – und ein sechstes Opfer ein halbes Jahr zuvor

Von t-online, mtt

Aktualisiert am 29.12.2022Lesedauer: 3 Min.
Das undatierte Familienfoto zeigt die Familien Genc, links, und Ince, in einem Wohnzimmer ihres Hauses in Solingen.Vergrößern des Bildes
Das undatierte Familienfoto zeigt die Familien Genç, links, und Ince, im Wohnzimmer ihres Hauses in Solingen. (Quelle: TURKIYE/AP Photo)

Könnten fünf Menschen noch leben, wenn der Neonazi-Sumpf in Solingen rechtzeitig trockengelegt worden wäre? Welche Rolle spielte der Verfassungsschutz?

Deutschland, Anfang der 1990er-Jahre: Die Republik befindet sich im nationalen Wiedervereinigungstaumel, gleichzeitig reihen sich rassistische Hassverbrechen zu einer langen Kette. Hoyerswerda, Rostock, Mölln. Und dann Solingen.

In der Nacht auf den 29. Mai 1993 beschließen vier junge Rechtsradikale, "den Türken" einen "Denkzettel" zu verpassen. Sie besorgen sich Benzin, kippen es im Windfang des Fachwerkhauses der Familie Genç aus und zünden es an.

Das Feuer wütet bestialisch. Die Flammen im Treppenhaus versperren den Fluchtweg. Die 27-jährige Gürsün İnce springt in Panik mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm sieben Meter in die Tiefe und stirbt. Gülüstan Öztürk, zwölf Jahre alt, steht an einem anderen Fenster, traut sich aber offenbar nicht zu springen und kommt in den Flammen um. Die 18 Jahre alte Hatice Genç stirbt beim verzweifelten Versuch, über die brennende Diele zu entkommen. Saime Genç, vier Jahre alt, erleidet großflächige Verbrennungen und erstickt am Kohlenmonoxid. Auch die neunjährige Hülya Genç erstickt.

Şahin Çalışır wurde Monate vor dem mörderischen Brand in den Tod getrieben

Fünf Menschen – die möglicherweise alle noch leben könnten, wenn ein anderes Verbrechen ein halbes Jahr zuvor richtig verfolgt worden wäre?

Diese Frage stellen engagierte Bürger und Aktivisten. Diese Woche erinnerten sie in Solingen an einen jungen Mann, der am 27. Dezember 1992 in den Tod gehetzt worden war: Şahin Çalışır starb im Alter von 20 Jahren auf der A52 bei Meerbusch.

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Mit Freunden war er in Düsseldorf feiern gewesen, auf der Rückfahrt tauchte plötzlich ein gelber Golf im Rückspiegel auf. Die drei Männer darin machten bedrohliche Gesten, der Golf fuhr dicht auf. Der Fahrer betätigte die Lichthupe, überholte. Wenige Kilometer später: An einer Parkplatzausfahrt wartete der Golf mit ausgeschalteten Lichtern, setzte sich dann erneut hinter den Fiat der Gruppe um Şahin Çalışır. Schließlich rammte er den Wagen der Freunde.

An der Mittelschutzplanke blieb der angefahrene Fiat liegen, auch der Golf hielt an. Die Männer darin sprangen heraus, drohten wieder. Şahin Çalışır und seine beiden Freunde ergriffen die Flucht über die Autobahn. Dabei erfasste ein nachfolgender Wagen Çalışır.

Familie und Aktivisten: Ermittler arbeiteten nicht richtig

Das ist jetzt 30 Jahre her, aber nicht vergessen. Insbesondere der Umgang von Polizei und Justiz mit dem Fall damals sorgt dafür, dass die Wunden noch heute offen klaffen.

Der Fahrer des Golfs wurde zu 15 Monaten Haft verurteilt. Wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Verkehrsgefährdung. Ein rassistisches Motiv wollte das Gericht nicht erkannt haben.

Dabei gab es starke Hinweise darauf. Der Fahrer war laut "Solinger Tageblatt" ein mehrfach vorbestrafter rechter Hooligan der Düsseldorfer Fortuna. Aus dem Gefängnis schrieb Klaus E. der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" (WAZ) zufolge über den Toten: "Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt." Außerdem war E. laut der Zeitung Ordner der rechtsextremen "Deutschen Liga für Volk und Heimat".

Verbindungen zu den Mördern von 1993

Und, im Zusammenhang mit dem mörderischen Brandanschlag ein halbes Jahr nach dem Tod von Şahin Çalışır besonders brisant: Der Beifahrer des Golfs trainierte in der Solinger Kampfsportschule "Hak Pao", die von einem V-Mann des Verfassungsschutzes betrieben wurde. Etliche Neonazis ließen sich dort ausbilden. Auch drei der vier Mörder vom 29. Mai 1993.

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Die Gruppe "Tribunal 'NSU-Komplex auflösen'" zitierte am Dienstag Orhan Çalışır, einen Verwandten des totgefahrenen Şahin Çalışır: "Wenn sie damals, direkt nach dem Tod von Şahin, in den Kreisen richtig ermittelt hätten, und zwar in Solingen, hätte meines Erachtens höchstwahrscheinlich diese Katastrophe von Solingen verhindert werden können."

Der Verdacht: Die Ermittlungen könnten damals absichtlich ausgebremst worden sein – um den V-Mann in der Neonazi-Szene nicht zu gefährden.

Antifaschistische und antirassistische Gruppen fordern deshalb nun, die alten Akten noch einmal zu öffnen. Auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss sei eine Möglichkeit, den Fall endlich restlos aufzuklären und Verantwortung zu übernehmen.

Verwendete Quellen
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