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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kinderarmut in Berlin "Dann würde in dieser Stadt gar nichts mehr laufen"
Wolfgang Büscher beobachtet, dass sozial benachteiligte Jugendliche vermehrt in Parallelblasen aufwachsen. Ein Gespräch über Armut als Krankheit, den Einfluss von Clans und zunehmende Gewaltbereitschaft.
In Berlin wird immer häufiger über Messerstechereien berichtet. Die Statistik der Berliner Charité bestätigt diesen Trend: Dort werden immer mehr Menschen mit schweren Stichverletzungen behandelt. Laut Berliner Kriminalstatistik 2022 war fast jeder dritte Tatbeteiligte bei Messergewalttaten unter 21 Jahre alt. Wolfgang Büscher vom Kinder- und Jugendwerk "Die Arche" kennt die Ursachen für die wachsende Aggression von Jugendlichen und weiß, was sich ändern muss.
t-online: Herr Büscher, Sie engagieren sich seit über 20 Jahren gegen Kinderarmut. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Wolfgang Büscher: Vor 20 Jahren ging es vor allem um finanzielle Missstände. Kinder mussten auf vieles verzichten – auf Urlaub oder den Kinobesuch mit Freunden. Das Problem gibt es also schon sehr lange – es hat sich in den letzten Jahren aber massiv verschlechtert. Laut Bundesfamilienministerin gibt es 5,6 Millionen armutsbedrohte Kinder und Jugendliche. Wir reden also von einer unvorstellbaren Zahl an Kindern, die in einer Parallelblase aufwachsen.
Woran machen Sie das konkret fest?
Wenn sich das ganze Leben nur darum dreht, wie lange man mit dem Geld durch den Monat kommt und man sich nur von preiswerten Lebensmitteln ernährt, schafft das vom ersten Lebenstag an Stress und gesundheitliche Probleme. Kinder kommen zu uns mit Hautproblemen, stumpfen Haaren, Unter- oder Übergewicht, manche haben sogar eine gelbe Hautfarbe. Das ist ein wesentlicher Faktor von Kinderarmut, der letztlich auch zu einer massiv kürzeren Lebenserwartung führt.
Zur Person
Wolfgang Büscher lebt seit 2002 in Berlin. Dort wurde er Pressesprecher des Kinder- und Jugendwerks "Die Arche". Mit dessen Gründer und Leiter, Pastor Bernd Siggelkow, hat er bereits mehrere Bestseller über die Armut und Verwahrlosung von Kindern in Deutschland veröffentlicht. Zudem schrieb er jahrelang für verschiedene Zeitungen als Bonn-Berichterstatter und war Radiomoderator.
In den vergangenen Wochen haben Sie sich allerdings eher als Ansprechpartner für das Thema Jugendgewalt hervorgetan. Warum stellen Sie ausgerechnet jetzt diesen Aspekt in den Vordergrund?
Natürlich hat es schon immer Gewalt gegeben. Aber früher drehte sich unsere Arbeit mehr um Alkohol-, Drogenmissbrauch und so weiter. Heute kommen ganz andere Probleme dazu, die alle Kinder betreffen.
Seit 2015 haben wir einen erheblichen Zuwachs an jungen Menschen aus arabischen und nordafrikanischen Ländern. Diese Kinder landen allerdings nicht in Dahlem, Grunewald, Charlottenburg oder Mitte. Diese Kinder werden unbewusst abgeschoben.
Im Jugendbereich der "Arche" Hellersdorf kommen von 80 Jugendlichen 60 bis 70 Prozent aus Familien mit Fluchterfahrung. Ihr Notendurchschnitt liegt bei 5,5. Die Lehrer können sich kaum aufs Vermitteln von Wissen konzentrieren, weil sie Aufgaben übernehmen, die eigentlich die Eltern übernehmen müssten. In der Schule wird nicht mal Deutsch gesprochen: So erziehen wir unsere Kinder zu Bürgergeldempfängern.
Was müsste sich ändern?
Kinder dürfen nicht mehr zwangsläufig in ihrer Nachbarschaft zur Schule gehen. Wir haben nicht zu viele Flüchtlinge aufgenommen, sie werden nur falsch verteilt. Wenn Schüler nur drei Bahnstationen weiter fahren würden, gäbe es an jeder Schule und Kita den gleichen Anteil verhaltenskreativer Kinder. Dann gäbe es keine Brennpunktschulen mehr. Hätten wir damit vor 20 Jahren angefangen, hätten wir heute eine Million Facharbeiter mehr.
Verfolgen Sie, wie es mit sozial benachteiligten Kindern nach der Schule weitergeht?
Diese Biografien münden vielfach in Gewalt. Stellen Sie sich vor, Sie würden von der Gesellschaft abgeschoben, sind an einer schlechten Schule, dürfen mangels Abschluss keine Ausbildung machen und müssen bis 25 bei Ihrer Mutter wohnen. Dann stellen Sie sich gegen die Gesellschaft. Dabei wäre das vermeidbar: Wenn wir uns um diese Menschen kümmern, bringen wir 70 bis 80 Prozent in ein vernünftiges, selbstbestimmtes Leben.
Wenn wir uns nicht kümmern, kümmern sich andere um diese Kinder.
Wolfgang Büscher über den Einfluss von Clans und Rockerbanden
Ist das Problem dann nicht einfach, dass wir den Personalschlüssel seit 2015 nicht entsprechend angepasst haben?
Das ist richtig. Bei der "Arche" haben wir kürzlich den Personalschlüssel im Jugendbereich von sechs Jugendlichen auf eine Mitarbeiterin erhöht: Jetzt kommt auf vier Jugendliche, ein Mitarbeitender. Das heißt also, wir brauchen im Jugendbereich mehr Mitarbeiter als im Kleinkinderbereich, wo wir noch Windeln wechseln müssen.
Wenn wir uns in diesem Maß nicht um diese Menschen kümmern, werden sie es uns später schwer machen und sich gegen uns stellen. Die Folgen können wir uns nur schwer vorstellen, wenn es fünf, sechs sogenannte Klimakleber schaffen, den Verkehr lahmzulegen. Dann müssen wir uns nur mal vorstellen, was passieren würde, wenn benachteiligte Jugendliche auf die Straße gehen würden. Dann würde in dieser Stadt gar nichts mehr laufen. Sie sind nur noch nicht so strukturiert, dass sie sich gezielt wehren.
Wer nutzt diese Lücke, wenn staatliche und private Institutionen die Verelendung nicht stoppen?
Wenn wir uns nicht kümmern, kümmern sich andere um diese Kinder. Ein bekannter Berliner Clanchef hat kürzlich zu seinem runden Geburtstag viele arme Kinder auf Gratis-Döner und Getränke eingeladen, Selfies mit ihnen gemacht und gesagt: "Wenn die euch nicht wollen: Wir wollen euch." Das haben "Arche"-Mitarbeiter selbst gesehen. Ähnliches erleben wir mit den Hells Angels, die Jugendliche abwerben wollen. Und wir sehen einen wahnsinnigen Antisemitismus, wenn sich der Hass der Kinder hochschaukelt.
Herr Büscher, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Interview mit Wolfgang Büscher Pressesprecher der "Arche"