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Berlin: Clanmitglieder ausweisen? Chahrour kritisiert Faeser – "Hexenjagd"


Interview
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Clanmitglied zur Ausweisungsdebatte
"Das ist Schwachsinn"


Aktualisiert am 09.08.2023Lesedauer: 4 Min.
Mohamed ChahrourVergrößern des Bildes
Mohamed Chahrour: "Dieser, nennen wir es mal "Idee", fehlt der rechtsstaatliche Boden unter den Füßen." (Quelle: William Minke)

Das Innenministerium will härter gegen arabische Clans vorgehen. Mohamed Chahrour ist Clanmitglied, aber kriminell ist er nicht. Er erhebt schwere Vorwürfe.

Ein Papier des Bundesinnenministeriums sorgt derzeit für Wirbel. Das Haus von Ministerin Nancy Faeser (SPD) will Ausweisungen von Mitgliedern krimineller Clans erleichtern. Was genau geplant ist, lesen Sie hier.

Der Autor und Schauspieler Mohamed Chahrour ist selbst Mitglied eines solchen Clans. Einige seiner Verwandten sind in kriminelle Machenschaften verstrickt. Chahrour selbst hat damit nichts zu tun, sieht sich aber wegen seines Nachnamens selbst immer wieder Vorurteilen ausgesetzt. Im Interview spricht er über die aktuelle Debatte.

t-online: Sie sind Experte für arabische Clans – und selbst Mitglied eines solchen. Wie haben Sie die Debatte in den vergangenen Tagen wahrgenommen?

Mohamed Chahrour: Bei dem Tonfall, der da angeschlagen wurde, hatte ich wieder einmal den Eindruck, in diesem Land nicht willkommen zu sein. Das hat mich und viele andere getroffen und verletzt. Wissen Sie, ich bin in diesem Land geboren, ich bin hier zu Hause, und trotzdem fühle ich mich manchmal heimatlos. Das macht mich wirklich traurig, und es sind diese Debatten und es ist dieser Tonfall, die dieses Gefühl verstärken. Dieser, nennen wir es mal "Idee", fehlt der rechtsstaatliche Boden unter den Füßen. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" ist in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert.

Warum sind Clans aus ihrer Sicht so ein Reizthema?

Oft werden die Sorgen und Ängste der breiten Öffentlichkeit durch mediale Berichterstattung verschärft. Einige applaudieren solchen Vorschlägen dann aus Angst oder Unverständnis. Und auch die darf man hören und auch das kann ich irgendwie nachvollziehen. Denen darf aber gesagt sein, dass ich aus erster Hand die Realität der meisten Clanmitglieder kenne, die ein normales Leben führen wollen, fernab von Kriminalität. Die pauschale Darstellung von Clans als Bedrohung ist nicht nur falsch, sondern trägt auch zur Ethnisierung und Kulturalisierung von Kriminalität bei.

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Mohamed Chahrour (Quelle: IMAGO/Nicole Kubelka)

Zur Person

Mohamed Chahrour wurde 1993 in Berlin geboren. Er ist Schauspieler und Autor. Gemeinsam mit Marcus Staiger hat er den Podcast "Clanland" produziert und das Buch "Dakhil – Inside Arabische Clans" veröffentlicht.

Das Innenministerium hat klargestellt, dass die reine Verwandtschaft auch zukünftig nicht für eine Ausweisung reichen soll. Voraussetzung sei "ein klarer Bezug zu kriminellen Aktivitäten", nicht aber eine rechtskräftige Verurteilung. Was halten Sie davon?

Das ist Schwachsinn. Wie ermittelt man denn einen solchen Bezug, wenn nicht mit einer rechtskräftigen Verurteilung? Wenn man nicht rechtskräftig verurteilt wird, bedeutet das, dass einem nach einem fairen Prozess kein Bezug zu kriminellen Aktivitäten nachgewiesen werden konnte. Wie "gewissenhaft" mit solchen Bezügen umgegangen wird, kann ich Ihnen anhand eines anderen Beispiels sagen: Die Bewerbung zum Polizeidienst eines Cousins von mir wurde abgelehnt, weil es eine Nähe zu irgendeinem ominösen "Clanmilieu" geben würde. Diese Nähe bestand darin, dass er selbst Teil unserer Familie und Nachbar anderer Cousins und Familien ist.

Welche Motive des Innenministeriums vermuten Sie?

Hier wird eine Propaganda-Nebelkerze gezündet, um der Öffentlichkeit zu vermitteln, man würde durch Abschiebungen Kriminalität verhindern. Dabei ist es doch genau umgekehrt. Das System der Duldung als Aufenthaltsstatus, in dem die Menschen ständig von Abschiebungen bedroht sind, in dem sie nicht arbeiten dürfen, weil sie keine Arbeitserlaubnis bekommen, dieses System schafft in vielen Fällen erst die Voraussetzung für kriminelle Karrieren. Darüber sollte man mal nachdenken und auch über den Fakt, warum Menschen, die hier geboren wurden, auch nach 30 Jahren nur einen Duldungsstatus haben. Das sind die wahren Ursachen der Misere, aber anstatt sich darum zu kümmern, wird das Schlagwort Abschiebung in den Raum geworfen, in der Hoffnung, der AfD noch ein paar Stimmen abjagen zu können. Das wirkt verzweifelt und ehrlich gesagt auch ein wenig hilflos.


Quotation Mark

Die überwiegende Mehrheit der Clanmitglieder führt ein friedliches Leben in Deutschland.


Mohamed Chahrour


Ist es aus ihrer Sicht nötig, härter gegen kriminelle Mitglieder sogenannter Clans vorzugehen?

Nein. Natürlich muss gegen Kriminalität vorgegangen werden, das steht doch außer Frage, aber ich frage mich wirklich immer wieder, was denn nun der Unterschied zwischen den einen und den anderen Kriminellen sein soll. Warum sollten Herkunft und Familienzugehörigkeit da eine Rolle spielen? Wer in diesem Land meint, kriminell sein zu müssen, hat mit der vollen Härte unseres Rechtssystems zu rechnen. Egal ob mit oder ohne Migrationsgeschichte. Ja, es gibt Menschen in unseren Familien, die nicht gerade die Speerspitze des gesellschaftlichen Miteinanders sind. Aber die überwiegende Mehrheit der Clanmitglieder führt ein friedliches Leben in Deutschland. Was hier unter dem Deckmantel des "härteren Vorgehens" passiert, ist nichts anderes als eine Hexenjagd auf ganze Familienverbände und hat mit sinnvoller Strafverfolgung nichts zu tun. Es wird Zeit, dass die Politik aufhört, ganze Gemeinschaften für das Fehlverhalten Einzelner zu brandmarken und sich stattdessen auf echte Lösungen konzentriert.

Wie blicken Sie auf die Debatte um öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Großfamilien zuletzt in NRW?

Vollkommen zu Recht wird darüber diskutiert und wird das verurteilt. Übrigens kamen die ersten kritischen Stimmen aus den Familien selbst. Die "Familien Union e.V.", in der einige der beteiligten Familien organisiert sind, hat sofort reagiert und auch mit Blick auf die Jugend gesagt, dass ihnen fatale Signale gesendet werden, wenn angefangen wird, Selbstjustiz zu üben, anstatt beispielsweise Anzeige zu erstatten und den Rechtsweg zu bemühen. Wir dürfen nicht so tun, als wären solche Ausschreitungen an der Tagesordnung. Genauso wenig dürfen wir sie aber ignorieren. Es ist positiv zu betrachten, dass es innerhalb der Community bereits einen Aussöhnungsprozess gegeben hat, der den sozialen Frieden wiederhergestellt hat, sodass sich die Behörden nun in Ruhe der strafrechtlichen Aufarbeitung dieser Auseinandersetzung widmen können.

Vielen Dank für das Gespräch

Verwendete Quellen
  • Schriftliches Interview mit Mohamed Chahrour
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