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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frauenrechtlerin Seyran Ateş "Seit 40 Jahren wird eine heuchlerische Politik betrieben"
Die Autorin Seyran Ateş steht seit Jahren unter Personenschutz. Nun spricht sie über die Wahlen in der Türkei und die fehlende Integration von Deutsch-Türken in Berlin.
Seyran Ateş ist 1963 geboren und im Alter von sechs Jahren als Kind von Gastarbeitern aus der Türkei nach Berlin gekommen. Als Tochter einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters wuchs Ateş in einer muslimischen und traditionellen Großfamilie auf. Heute ist sie als Frauenrechtlerin, Rechtsanwältin, Autorin und Moscheegründerin bekannt.
t-online: Frau Ateş, wie war Ihre Reaktion, als klar war, dass Recep Tayyip Erdoğan auch weiter die Türkei regiert?
Seyran Ateş: Ich hatte große Hoffnung vor der Wahl, dass es einen Machtwechsel geben wird. Am Wahltag dann war ich erschrocken und unendlich traurig. Erdoğan hätte ja fast noch die absolute Mehrheit bekommen. Dass es am Ende immer noch gut 49 % geworden sind – damit war für mich sein Wahlsieg schon Mitte Mai klar. Das Ergebnis der Stichwahl zwei Wochen später mit über 52 % war dann keine Überraschung mehr.
Erdoğan hat Fake News und Verleumdungen über seinen Herausforderer Kılıçdaroğlu verbreitet. Was war noch ausschlaggebend für seinen Sieg?
Es gibt eine Übersicht, wonach man Erdoğan zwischen dem 1. April und 3. Mai über 48 Stunden im Staatsfernsehen gesehen hat – Kılıçdaroğlu, auf den viele gehofft hatte, hatte gerade mal 32 Minuten und 23 Sekunden. Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu hat auch diesmal wieder, wie bei allen Wahlen vorher, insbesondere in den Regionen, wo Erdoğan stark ist, ihn zum Sieger erklärt. Und das bevor das eigentlich möglich war, weil die Urnen noch nicht alle ausgezählt worden waren. Es gibt ganz klar eine Kontrolle der Medien und der Presse in seinem Interesse. Und er missbraucht seine Staatsmacht dafür, den gesamten Apparat zu kontrollieren. Von Pressefreiheit kann man nicht mal ansatzweise sprechen.
Haben die Menschen in der Türkei die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren?
Über die sozialen Medien informieren sich die Menschen auch gegenseitig. Inzwischen berichten immer mehr Menschen aus allen Regionen der Türkei in eigenen Videos, wie es ihnen aktuell in der Türkei geht. Es existiert sozusagen eine eigene Berichterstattung des Volkes. Die Stimmung auf der Straße ist definitiv seit vielen Jahren gegen Erdoğan.
Darum meine ich: Erdoğan konnte nicht so haushoch und klar gewinnen wie in den vergangenen Jahren. Die Manipulation der Wahlen musste knapper ausfallen. Dieser Mann hat bei der Mehrheit des Volkes nicht mehr den Rückhalt. Im Ergebnis kommt aus den Wahlurnen das heraus, was Erdoğan und sein Gefolge vorbereitet haben.
Bekanntermaßen gibt es seit vielen Jahren sogar in seiner eigenen Partei Unruhen. Vor allem, wenn Erdoğan regelmäßig der Opposition mit Strafen droht: Jetzt überspannt er den Bogen, heißt es immer wieder. Erdoğan konnte Kılıçdaroğlu und die Sechser-Koalition nicht so hoch verlieren lassen. Das Volk will einen Wechsel, aber bekommt immer wieder einen Diktator. Solange er lebt und regieren will, werden Wahlen zugunsten Erdoğans manipuliert werden.
Zwei von drei Deutsch-Türken haben Erdoğan gewählt. Sagt das etwas aus über ihre Integration?
Mangelnde Integration ist es nicht, glaube ich. Die sind ja bestens integriert, weil sie sich im deutschen System gut auskennen. Sie nutzen die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und feiern hier bei uns ihr Land, die Türkei. Inzwischen kann man sagen: Diese Menschen gründen ein neues Deutschland für eine nationalistisch-islamistische Minderheit. Türken und Kurden aus der Türkei spielen dabei noch zahlenmäßig eine gewichtige Rolle. Zugezogene islamistische Araber finden einen guten Nährboden, sich in die Parallelgesellschaft zu integrieren und sie mitzugestalten.
Hier kann man von einem nicht zu leugnenden weiteren Erfolg von Erdoğan sprechen. Er hat es geschafft, die Auslandstürken so weit anzusprechen, dass sie sich nicht von der Türkei abgehängt fühlen. Keine andere Regierung hat dies vor ihm getan. Die AKP hat viele Anhänger in Deutschland, weil Erdoğan ihnen eine nationale Identität gibt, die sie in Deutschland nicht haben. Die Anhänger von Erdoğan können durchaus mit AfD-Wählern verglichen werden: Sie sind getrieben von völkisch-nationalen und zusätzlich islamistischen Glaubenssätzen und politischen Überzeugungen. In vielen Teilen der nordeuropäischen Länder und in Übersee hat die AKP weniger Erfolg und Anhänger. Der Grund dafür ist, dass in diesen Ländern mehrheitlich linke Kurden und Akademiker aus der Türkei leben. In Deutschland lebt mehrheitlich die weniger gebildete und soziale Unterschicht der Türken und Kurden.
Ist die Situation denn anderswo besser?
Alle europäischen Länder mit einem hohen Anteil an konservativen und extremistischen Muslimen haben absolut dieselben Probleme. Es beginnt mit der Ablehnung der Demokratie und hört auf mit strikter Ablehnung der Werte und Lebensweise der aufnehmenden Gesellschaft. Ich vergleiche das mit einem Gast, der zu Ihnen nach Hause kommt und nach wenigen Minuten beginnt, ihre Möbel umzustellen und die Wände neu zu streichen. Wir sprechen also über eine Gruppe von Menschen, die nicht in Deutschland leben wollen. Sie unterwerfen sich der Demokratie und nutzen das soziale System nur so lange aus, bis sie erreicht haben, was sie wollen. Da kann Deutschland noch so viele Integrationseinladungen aussprechen und Angebote machen: Es gibt einen hohen Prozentsatz von Menschen, die Deutschland nicht als ihre Heimat begreifen.
Was läuft denn falsch?
Seit mindestens 40 Jahren wird eine heuchlerische und unehrliche Politik betrieben. Es wird so getan, als ob man eine Integrationspolitik betreiben würde. In Wirklichkeit sind alle sogenannten demokratischen Parteien nur daran interessiert, ob und von welchen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sie gewählt werden. Die vermeintliche Mehrheit gewinnt. Egal, ob diese Mehrheit wirklich eine Mehrheit darstellt. Hauptsache, sie sind laut und sichtbar, wie auf der Sonnenallee in Neukölln. Für Wählerstimmen verzichten Parteien in diesem Fall durchaus auf Frauenrechte und LGBTIQ-Interessen.
Leider verlieren wir dabei die 3. und 4. Generation der eingewanderten Türken und Kurden. Aber auch junge Menschen aus anderen islamischen Ländern. Die sprechen wir in Deutschland nicht an. Ich erlebe große Teile dieser Gruppen in Schulen wie Fremde in der Fremde. Wir reden aneinander vorbei. Ihre Gedankenwelt und ihr Alltag sind unter der Kontrolle von islamistischen Institutionen und einem demokratiefeindlichen sozialen Umfeld.
Wir brauchen endlich eine echte Einwanderungspolitik. Das ist seit mehr als 40 Jahren meine Meinung. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Eine Einwanderungspolitik muss für beide Seiten funktionieren. Ohne Unterwerfung der Minderheit gegenüber und ohne Machtmissbrauch der Mehrheit.
Würden Sie sagen, dass die Türken, die hier für Erdoğan und sein antidemokratisches System stimmen, auch bei uns Demokratie ablehnen?
Erdoğan hat ein Gedicht zitiert, 1997, als er noch Bürgermeister von Istanbul war: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind." Weiter heißt es in dem religiösen Gedicht: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten".
Für das Rezitieren des Gedichts wurde Erdoğan damals zu zehn Monaten Haft verurteilt – und bekam ein Politikverbot. Aber schon nach vier Monaten kam er wieder frei. Klar ist: Demokratie ist nicht seine Passion. Seine Religion bestimmt seine Politik.
Ähnlich formulieren es junge Menschen auch in den sozialen Medien. Die Demokratie sei die Religion des Westens, die gescheitert sei. Junge AKP-Anhänger sind der Überzeugung, dass sie irgendwann die Mehrheit in Deutschland stellen und die Scharia einführen werden. Wenn man genau hinhört, hört man diese Sätze im Original inzwischen von Schülerinnen in Grundschulen. Das Traurige daran ist, dass sie mit solchen Glaubenssätzen aufwachsen und ihre Umwelt danach bemessen.
2007 haben Sie gesagt, dass die türkischen Verbände ihre eigene Verantwortung für die Nicht-Integration der Mehrheit der hier lebenden Türken und Kurden übernehmen müssen. Tun sie das inzwischen?
Nein. Und die Bundesregierung unterstützt sie dabei, es nicht zu tun. Sie hofiert die Verbände in ihrer antiintegrativen Politik. Die meisten Moscheegemeinden haben in ihren Freitagsgebeten dafür plädiert, Erdoğan zu wählen. Es gab also wieder Wahlkampf in den Moscheen – unfassbar! Auch in Nürnberg wurde ja sogar plakatiert für Erdoğan.
Auf der Sonnenallee kannst du kaum noch als junge locker und frei gekleidete Frau unterwegs sein, es gibt unfassbar schreckliche Zustände an Schulen. Die U8 ist ein Ort orthodox-testosteron-muslimischer Aggression und Kontrolle geworden. Ständig hören wir von Geschichten, dass Mädchen und junge Frauen wegen ihrer "nicht anständigen", "unislamischen" Kleidung angemacht werden. Trans Menschen und Schwule werden beleidigt. Die Zahl der Übergriffe nimmt zu. Man ist gut beraten, "unauffällig" zu sein.
An wen richtet sich Ihre Kritik in Deutschland? An Grüne? An die SPD?
Ich meine sie alle. Klar, bei der SPD, den Linken und Grünen gibt es viele tolerante Islamisten-Versteher. Aber die deutsche Islamkonferenz (DIK) wurde von der CDU installiert und mit der SPD zusammen aufgebaut. Grüne und Linke haben in Berlin gezeigt, dass sie in Sachen Einwanderung dieselbe Politik betreiben wie die CDU. Auf der DIK wurde das Thema "antimuslimischer Rassismus" gesetzt. Damit wurde die Islamkonferenz total auf den Kopf gestellt. Es geht nur noch darum, dass in Deutschland struktureller Rassismus und Islamfeindlichkeit existieren und die deutschen Rechten die größte Gefahr darstellen. Zudem soll der deutsche Staat die islamischen Verbände und Institutionen so stellen wie die Kirchen. Innermuslimische Konflikte und Wertekollisionen sind weggewischt. Sie kommen in der DIK nicht mehr vor.
Haben Sie Hoffnung, es ändert sich etwas in Berlin mit Schwarz-Rot?
Ich hätte nie gedacht, dass ich als Linke und Feministin und ehemalige Hausbesetzerin eines Tages froh darüber sein könnte, dass die CDU den Regierenden Bürgermeister stellt. In Kai Wegner habe ich große Hoffnung, dass sich etwas ändern wird. Allerdings ist die SPD noch zu stark im Boot und hat sich das Thema Integration gegriffen. Es würde meines Erachtens unserer Stadt guttun, wenn sie sich bei der Bekämpfung der organisierten Clan-Kriminalität und bei neuen Wegen in der Einwanderungspolitik an Dänemark orientieren würde.
Wir haben viel zu viele von der deutschen Politik umgangene Probleme. Aus Angst, als rassistisch zu gelten. So besteht beispielsweise in Deutschland die größte rechte Organisation aus Türken. Sie sind islamistisch und nationalistisch aufgestellt und haben sehr viel Selbstbewusstsein, einen hohen Nationalstolz, den die Deutschen nicht verstehen, aber unterstützen. Deutsch-national ist falsch, aber türkisch-national wird gefeiert. Nach dem Wahlsieg Erdoğans war der Ku’damm voll von türkischen Fahnen. Man stelle sich das mit deutschen Fahnen vor. Es gäbe einen Aufschrei!
Kai Wegner hatte nach den Silvesterkrawallen die Nennung von Vornamen der Verdächtigen gefordert. Dafür wurde er viel kritisiert, vor allem von links. Wie fanden Sie seinen Vorstoß?
Es war klar, dass es von links Kritik geben würde. Weil von Linken gerne geleugnet wird, dass wir ein Problem haben mit einer toxischen islamischen Jugend. Junge Männer in einem gewissen Alter sind weltweit problematisch für die Gesellschaft. Ich bin Anwältin und habe genug Strafrecht gemacht, um das so formulieren zu dürfen. Man muss nur in die Justizvollzugsanstalten schauen. Es gibt eine bestimmte Altersgruppe von Männern, die ein macho-toxisches Verhalten an den Tag legen. Das ist ein Fakt.
Wenn man in Bezug auf die Silvesternacht verteidigend sagt: Das waren alles Deutsche, weil sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, dann lügt man sich und der Gesellschaft was vor. Die Aussage von Kai Wegner war schon sehr vorsichtig, weil er höchstwahrscheinlich wusste, dass er dem Vorwurf ausgesetzt werden könnte, rassistisch und islamfeindlich zu sein. Mit der Frage nach den Vornamen hat Wegner eine ehrliche Frage gestellt, um gute Lösungen zu finden. Bisher kenne ich Berlin in Bezug auf das Thema Einwanderung nur eine Problemleugnungspolitik.
1984 wurden Sie bei einem Attentat auf eine Besucherin der Beratungsstelle, in der Sie als Studentin gearbeitet haben, lebensgefährlich verletzt. Die Ratsuchende Fatma E. starb. Haben Sie manchmal noch Angst um Ihr Leben?
Ich habe heute eine realere Einschätzung der Angst. Es war früher die dubiose Angst vor der Masse. Inzwischen bin ich privilegiert, habe Personenschutz. Ich habe Strategien entwickelt, da, wo ich bin, Sicherheit zu schaffen, sodass ich gut schlafen kann. Ich gehe nicht allein aus dem Haus, nicht allein aus dem Hotelzimmer, ich werde immer abgeholt. Wenn man sich daran hält, hat man nichts zu fürchten. Ich will mich sicher fühlen, damit ich weiter klar denken kann. Außerdem: Angst ist auch gut. Ich habe gelernt aufzupassen. Die Angst ist da, um mich zu beschützen – aber nicht, um mich von ihr gegen meine Interessen und Freiheit leiten und steuern zu lassen.
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