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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Der Wolf wird frech" Zurück blieben nur zwei abgenagte Kadaver
Immer mehr Wölfe gibt es in Brandenburg. Für die einen ein gutes Zeichen, für die anderen eine Bedrohung. Die Landwirte fühlen sich alleine gelassen.
Uwe Kerstan weiß, was Wölfe anrichten können. Erst vor kurzem hat der Landwirt ein kurzes Video gedreht. Darin läuft er über eine seiner Weiden, vor ihm taucht eine Kuh auf, die erst ihn und dann einen dunklen Punkt auf der Weide anblickt. Im Hintergrund stehen dutzende weitere Rinder. "Hier sieht man trauernde Kühe", sagt er. Dann schwenkt die Kamera auf den Boden, auf den dunklen Punkt auf der Weide – einen undefinierbaren Haufen Fell und Knochen. "Das hier war ein Kalb, gestern erst geboren."
Dann geht er weiter, zeigt einen zweiten abgenagten Kadaver. Drei frisch geborene Kälber hat der Brandenburger verloren. Eines wurde zwar nur verletzt, doch ist es dann in einem flachen Wassergraben ertrunken.
Wölfe in Brandenburg: Die Zahl der Tiere ist rasant gestiegen
Nur wenige Tage nach dem Angriff auf seine Herde sitzt Uwe Kerstan in einem kleinen Café in Kremmen, rund 30 Kilometer nördlich von Berlin. Der Wolf ist zurück in Brandenburg, für Kerstan ist das kein Grund zur Freude. Im Gegenteil. Er sieht in den Tieren eine Gefahr – so wie viele andere im Land. Denn immer häufiger reißen Wölfe Nutzvieh: 2022 waren es 1116 tote oder verletzte Tiere. Überall in Brandenburg klagen Landwirte wie Kerstan über die Wolfspolitik, protestieren gegen sie auf Sondergipfeln. Sie sehen sich als Opfer einer Naturschutzpolitik, die den Wolf ins Zentrum stellt – ohne Rücksicht auf die Landwirte.
Seit 2000 die ersten frei lebenden Wolfswelpen in Deutschland geboren wurde, erobern sich die Raubtiere ihren alten Lebensraum zurück. 150 Jahre lang galten sie als ausgerottet. Inzwischen gibt es bundesweit über 200 Rudel. Ein Rudel ist etwa fünf bis zehn Tiere groß.
Allein in Brandenburg leben mindestens 47 Rudel (Stand 2021/22), etwa 160 Welpen sollen noch dazugekommen sein. Mehr als 500 Tiere seien es insgesamt, schätzt der Wolfsexperte Michael Ohletz. Das sei die höchste Dichte an Wölfen pro Quadratkilometer weltweit. Allein im Raum Sommerfeld, in dem Uwe Kerstan seinen Hof hat, seien sieben Wolfsrudel aktiv, schätzt Ohletz, der dort als Wolfskundiger für den Kreisjagdverband arbeitet. Dieses Jahr sollen 30 Welpen dazugekommen sein.
In Brandenburg dürfen die Tiere nicht einfach so gejagt, sondern nur getötet werden, wenn sie sich problematisch verhalten, also etwa Menschen gegenüber aggressiv sind – was äußerst selten vorkommt – oder wiederholt derselbe Wolf Nutztiere in einer gut gesicherten Anlage reißt. Über jeden Einzelfall muss das Landesamt für Umwelt entscheiden, ein langwieriger Prozess.
Leidtragende sind Steuerzahler und Bauern
Der Bauernverband Brandenburg hält das für einen Fehler. Leidtragende seien zum einen die Steuerzahler. Brandenburg zahle jährlich fast 3,8 Millionen Euro für die Wölfe, etwa für Schutzmaßnahmen oder Tierärzte, rechnet der Bauernverband vor. Zum anderen hätten vor allem die Landwirte den Schaden. Längst nicht alle Kosten für von Wölfen gerissene Tiere würden vom Land übernommen.
Auch Uwe Kerstan ärgert, dass die Anzahl der Wölfe nicht durch Jagd reduziert wird. Ihm gehe es dabei nicht darum, unnötige Ängste zu schüren, betont er: "In Märchen wie Rotkäppchen kommt der Wolf immer schlecht weg. Dafür gibt es gute Gründe. Dass er Kinder wegholt, ist aber natürlich Quatsch." Der Landwirt sieht im Wolf vielmehr eine Bedrohung seiner Herde und damit auch seines Einkommens. "Früher wurde der Wolf gejagt. Darum hatte er auch Angst vor Menschen. Jetzt merkt er, dass ihm nichts getan wird und deshalb wird er frech. Das sind wahnsinnig intelligente Tiere."
"Das ist auch ein Verlust meiner geleisteten Arbeit"
Was das heißt, wenn Wölfe "frech" werden, kann man in Kerstans Video sehen, das er am Morgen nach dem Wolfsangriff auf seine Kuhherde aufgenommen hat. Es ist bereits der zweite Angriff in den letzten zwei Jahren.
Von den jeweils 35 Kilo Geburtsgewicht seien nach der Attacke nicht mal mehr ein Drittel übrig geblieben. "Fellreste und das Skelett. Mehr war nicht mehr dran." Da sei dem Landwirt klar geworden: "Das müssen Wölfe gewesen sein. Füchse können niemals so viel in einer Nacht fressen."
Die toten Kälber sind für Kerstan in erster Linie ein finanzieller Verlust: Rund 1.000 Euro pro Kalb hätte er in wenigen Monaten für die Tiere bekommen. Zwar sei das für ihn noch nicht existenzbedrohend, aber sein Gewinn dieses Jahr dadurch stark geschmolzen.
Kerstan geht es aber nicht nur ums Geld: "Das ist auch ein Verlust meiner geleisteten Arbeit." Nur kurz zuvor hatte er einer der Mutterkühe wegen einer verwachsenen Klaue geholfen, sie gepflegt. "Das war richtig viel Arbeit. Ich habe mich gefreut, dass die Klaue wieder schön gewachsen ist." Jetzt trauert die Kuh um ihr totes, ausgeweidetes Kalb. Kerstan nimmt das mit. Sich um seine Tiere zu kümmern, zu sehen, dass es ihnen gut geht, auch das mache ihn als Landwirt aus. "Ich bin mit den Tieren verbunden." Als seine Kühe zuletzt Kälber geboren haben, dachte er gleich: "Mädchen, habt ihr wieder Wolfsfutter geboren?"
Schutz gegen Wölfe ist schwierig: Zu teuer, nicht praktikabel
Was ihn besonders ärgert: Er sieht kaum Möglichkeiten, seine Kühe vor den Wölfen zu schützen. Normale Elektrozäune würden ihm nicht helfen. "Da läuft der Wolf einfach darunter durch", sagt Kerstan. Wolfsgerechte Zäune mit mindestens 4.000 Volt, wie sie Wolfsschützer empfehlen, wäre für seine 300 Hektar Weidefläche auch keine Lösung: "Das ist viel zu teuer und schränkt die Bewegungsfreiheit anderer Wildtiere, etwa Rehe, zu stark ein."
Schäfer haben gute Erfahrungen mit Hütehunden gemacht. Sie wachsen von klein auf bei den Schafen auf, sodass sie es für ihr Rudel halten – und vor Wölfen schützen. "Das geht aber bei Rindern nicht", sagt Kerstan. Ein Hund würde mit Rindern nie so eine Verbindung eingehen wie Schafe, eine gute Mutterkuh zudem den Hund wie einen Wolf attackieren. "Sie sieht in ihm eine Bedrohung, keinen Schutz."
Deswegen fordert Kerstan eine andere Wolfspolitik. "Der Wolf soll seine Existenzberechtigung haben. Aber kontrolliert." Das hieße, die Wolfspopulation – durch Jäger – bei einer festzulegenden Größe zu halten. "Es muss einfach alles ein Maß finden." Das sagt auch der Brandenburger Bauernverband. Er hatte für das Wolfsjahr 2022/23 eine gezielte Tötung von 80 Tieren gefordert, um den Bestand zu verringern.
Eine Entschädigung für seine toten Kälber hat Uwe Kerstan nicht bekommen. Eigentlich stünden ihm pro Tier rund 400 Euro zu. Weniger als ihr eigentlicher Wert, aber immerhin. Dafür hätte der Landwirt aber Speichelproben von den Bisswunden als Beweis für eine Wolfsattacke gebraucht. Die hatte der Regen über Nacht aber abgewaschen. Eine Einschätzung des Wolfsexperten Ohletz, die Kerstan am Tag nach dem Angriff eingeholt hatte, reicht dafür nicht. Zu zerfressen waren die Kadaver. So blieb Kerstan auf dem Verlust sitzen. Und muss nun auch noch 40 Euro pro Tier für die Entsorgung zahlen.
- Gespräch mit Uwe Kerstan
- Gespräch mit Wolfsexperte Micha Ohletz
- Ortsbesuch
- Videos und Bilder von Uwe Kerstan
- lfu.brandenburg.de: Kriterien für die Anerkennung von Übergriffen auf Nutztiere als Wolfsrisse
- rnd.de: Wolfsgipfel: höhere Zäune oder zum Abschuss freigeben?
- lfu.brandenburg.de: Wolfsverordnung
- tagesschau.de: Soll der Wolf abgeschossen werden?
- tagesspiegel.de: Wölfe breiten sich in Deutschland immer weiter aus
- dbb-wolf.de: Wolfsrudel