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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona, Pocken, Diphtherie "Der Erfinder der Schutzimpfung wusste gar nicht, was er tat"
Bald wird in Deutschland gegen Corona geimpft. Experte Karl-Heinz Leven erklärt, wie einem Glückspilz die Idee zur modernen Schutzimpfung kam. Und warum sich Gegner nicht werden überzeugen lassen.
Seit Monaten leidet die Welt unter dem Coronavirus, Impfstoffe sollen die Pandemie bekämpfen helfen. Die Hoffnung ist groß, denn mithilfe der modernen Schutzimpfung konnte die Menschheit bereits andere Krankheiten erfolgreich eindämmen, die gefürchteten Pocken gar ausrotten. Warum wir diesen Segen einem "Glückspilz" verdanken, die Menschen sich früher mit Schlangenfleisch gegen die Pest "abhärten" wollten und es immer Impfgegner geben wird, erklärt Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven im t-online-Gespräch.
t-online: Professor Leven, seit Monaten flößt das Coronavirus den Menschen weltweit Furcht ein, nun werden bald Impfstoffe bei der Eindämmung der Pandemie helfen. Wem haben wir aber überhaupt die "Erfindung" der Schutzimpfung zu verdanken?
Karl-Heinz Leven: In gewisser Weise einem achtjährigen Jungen, den der britische Landarzt Edward Jenner 1796 mit Pockenerregern infiziert hat. Das Kind, übrigens der Sohn von Jenners Gärtner, wurde nicht krank. Es war eine medizinische Sensation.
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Das Kind blieb verschont, weil Jenner das Kind zuvor mit Kuhpocken angesteckt hatte.
Genau. Und zwar hatte Jenner eine interessante Beobachtung gemacht. Bauern setzten damals bevorzugt Frauen zum Melken ihrer Kühe ein, die bereits die menschlichen Pocken durchgemacht hatten. Denn es bestand durchaus die Gefahr, dass sich die Melkerinnen bei den Tieren mit den Kuhpocken ansteckten. Es handelt sich dabei um eine relativ leichte Erkrankung, aber die Frauen konnten in der Zeit eben nicht arbeiten.
Jenner vermutete also einen Zusammenhang zwischen menschlichen Pocken und der tierischen Variante bei Rindern?
Er lag damit auch vollkommen richtig. Also infizierte er den Jungen zunächst mit den Kuhpocken, dann etwas später zum Test mit den Pocken. Denn Jenner war noch etwas schlauer als die Bauern: Er dachte sich, wenn die menschlichen Pocken gegen eine Infektion mit den Kuhpocken schützen, warum denn nicht auch umgekehrt?
Karl-Heinz Leven, Jahrgang 1959, lehrt Medizingeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist zugleich Direktor des dortigen Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin. Der approbierte Arzt und Historiker ist unter anderem Experte für die Geschichte der Seuchen. 2019 erschien sein Buch "Geschichte der Medizin. Von der Antike bis zur Gegenwart" in der dritten Auflage, im nächsten Jahr veröffentlicht Leven "Seuchen. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart".
Der Erfolg gab Jenner zweifelsohne recht. Aber nach modernen ethischen Gesichtspunkten war sein Verhalten doch ausgesprochen zweifelhaft.
Jenner war wissenschaftlich ausgebildet und ging systematisch vor; aus heutiger Sicht hat er riskante Menschenversuche durchgeführt. So etwas würde in unserer Gegenwart niemand mehr in irgendeiner Form genehmigen. Aber was soll man sagen: Wir verdanken diesem Glückspilz die moderne Impfung. Denn Jenner hatte zuvor lange über das Problem theoretisch nachgedacht, dann erst damit begonnen, Menschen zu infizieren. Allerdings war sich Jenner absolut sicher, dass die Menschen bei seinen Impfversuchen keine Pocken bekommen würden. Und er sollte Recht behalten.
Um die Dimension von Jenners Entdeckung der modernen Schutzimpfung einmal zu verdeutlichen: Welche Gefahr geht von Pockenerregern aus?
Bei den Pocken handelte es sich um eine überaus infektiöse Viruserkrankung mit einer Todesrate von rund 25 Prozent der Erkrankten. Über Jahrhunderte waren die Pocken eine nahezu unausweichliche Gefahr insbesondere für Kinder. Dank Jenners Erfindung der Impfung wurden die Pocken zunächst eingedämmt und zuletzt – 1979 – global ausgerottet, was umfangreichen Impfprogrammen zu verdanken ist. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, wie revolutionär Jenners Entdeckung gewesen ist: Er hat eine vergleichsweise harmlose Methode entwickelt, mit der man bereits den Ausbruch einer sehr gefährlichen Krankheit verhindern kann; dies war umso wichtiger, als die Krankheit selbst kaum je behandelbar war. Jenner hat dies zu einer Zeit vollbracht, als man von Mikroorganismen noch keine Ahnung hatte. Anders gesagt: Der Erfinder der Schutzimpfung wusste gar nicht, was er tat. Aber es hat funktioniert.
Wie stellten sich damals die Menschen die Gründe für Ansteckungen vor?
Ansteckende Krankheiten gibt es schon seit sehr langer Zeit, natürlich haben sich Gelehrte und die betroffenen Menschen entsprechend auch seit Jahrhunderten darüber Gedanken gemacht. In der Antike etwa kam die Vorstellung auf, dass man durch die Übertragung eines irgendwie gearteten Giftes krank werden würde: Man konnte es nicht sehen, aber irgendetwas musste ja die Ursache sein. Und was taten Menschen, die glaubten, es mit einer Vergiftung zu tun zu haben?
Sie nahmen ein Gegengift.
Richtig. "Theriak" nannte es sich, es steckt das altgriechische Wort für "Tier" darin. Heute noch sehen Sie manchmal alte Apotheken-Gefäße mit dieser Aufschrift. Wenn man also kleine Mengen von Theriak einnahm, würde man sozusagen innerlich "abgehärtet" gegen die Gifte; so zumindest die Vorstellung.
Woraus bestand Theriak genau?
Man hat alle möglichen Ingredienzien kombiniert, darunter auch Schlangenfleisch.
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Das klingt nach einer wahrhaft bitteren Medizin…
Aber für unsere Vorfahren klang es logisch. Man hielt den Schwarzen Tod und andere Seuchen für eine Art Vergiftung; ein Sud mit Schlangenfleisch galt als Gegenmittel gegen die Pest. Über Erfolge dieser Vorbeugungsmaßnahmen hört man allerdings wenig.
Tatsächlich gab es aber doch einige Zeit vor Jenner bereits so eine Art Impfung.
Das ist richtig. Lady Mary Wortley Montagu hielt sich um 1717 als Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, auf. Damals machte sie, wie Jenner später, ebenfalls eine interessante Beobachtung: Mütter brachten ihre Kinder zu Pocken-Parties, dann pfropften sie ihnen etwas Stoff von an Pocken erkrankten Kindern in die Haut ein.
Also eine mehr oder weniger kontrollierte Art der Pockenimpfung.
Man nannte es Variolation, also die Einimpfung echter Pocken. Das hat man dann auch in England übernommen. Die gute Nachricht war: Es hat tatsächlich vor den Pocken geschützt.
Und die schlechte?
Diese Impfmethode war sehr gefährlich: Man konnte nämlich sehr schnell tatsächlich die Pocken bekommen.
Aber seit Edward Jenner war diese Methode ja zum Glück überholt. Im 19. Jahrhundert kam die Medizin dann anderen Erregern auf die Spur.
Die Schutzimpfung gegen die Pocken, die nach 1800 ihren Durchbruch feierte, war der große Wurf der Medizin in dieser Zeit. Nach 1860 begann schließlich die Ära der Mikrobiologie, in der die Wissenschaft anfing, die einzelnen Krankheiten jeweils ihren Erregern zuzuordnen. Früh begann man auch, spezielle Impfstoffe zu entwickeln.
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Bis heute genießen Forscher wie Louis Pasteur, Robert Koch oder Emil von Behring Verehrung. Letzterer erhielt 1901 als erster den Nobelpreis für Physiologie beziehungsweise Medizin.
Paul Ehrlich gehört auch dazu, dem große Fortschritte auf dem Gebiet der Immunologie zu verdanken sind. Vor und nach 1900 haben zahlreiche Forscher nicht nur Grundlagenarbeit geleistet, sondern auch versucht, es Jenner gleichzutun.
Es kam zu riskanten Impfversuchen?
Die Entwicklung der Impfungen wurde ein absoluter Fortschrittsbereich, der viele Triumphe, aber auch Schattenseiten aufwies. Es gab fragwürdige Impfversuche und Fehlschläge. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich der heute übliche Standard bei der Entwicklung und Erprobung von Impfstoffen durchsetzte. Unsere heutigen Impfungen, etwa diejenigen, die von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen werden, sind sicher und wirksam.
Trotzdem gibt es heute wie früher eine recht beachtliche Anzahl von Menschen, die Impfungen kritisch sehen.
Eigentümlicherweise stieß die Kuhpockenimpfung im 19. Jahrhundert, als die Krankheit noch eine ernste Bedrohung war, dennoch auf massive Gegnerschaft. Die Impfgegner stammten häufig aus dem bürgerlichen Lager, darunter waren auch Ärzte. Einige ihrer Argumente waren durchaus rational. So wurde ins Feld geführt, dass Kinder mit einem tierischen Produkt geimpft würden. Dieses Argument war per se nicht von der Hand zu weisen: Denn es wurde tatsächlich die Artenschranke übersprungen.
Dem stand der Vorteil der Immunisierung gegen eine potenziell tödliche Krankheit entgegen.
Natürlich. Andere Argumente der Impfgegner waren etwa, dass die Wirksamkeit statistisch nicht erwiesen wäre, oder dass die Impfung keinen dauerhaften Schutz böte.
Letzteres war richtig: Es war notwendig, die Impfung aufzufrischen durch eine Wiederholungsimpfung.
Genau, die Impfgegner dramatisierten einige Aspekte der Impfung kurzerhand. Interessant war aber, dass Impfgegner in der Regel einen bürgerlichen Hintergrund hatten. Vereinfacht ausgedrückt, folgte die Unterschicht der staatlich geförderten, später gesetzlich vorgeschriebenen Impfung weit mehr.
Heute laufen "Querdenker" und "QAnon"-Anhänger gegen die anstehenden Corona-Schutzimpfungen Sturm.
In der Frage der Impfung gegen Corona gilt es kühlen Kopf zu bewahren; die neu entwickelten Impfstoffe wecken große Hoffnungen. Eingeschworene Impfgegner wird man von keiner Impfung überzeugen können. Da spielen Verschwörungsmythen eine entscheidende Rolle. Gleichwohl ist zu erwarten, dass durch die Impfungen mittelfristig die Corona-Pandemie zu kontrollieren sein wird.
Von den unbestreitbaren Erfolgen haben sich bereits in der Vergangenheit viele Impfgegner nicht beeindrucken lassen.
Impfgegner kann man nicht überzeugen.
Im Deutschen Reich gab es seit 1874 ein Reichsimpfgesetz: Im Extremfall wurden Kinder von der Polizei eskortiert zur Pocken-Impfung gebracht.
Was auch entsprechenden Gegendruck erzeugt hat: In Deutschland gab es vor dem Ersten Weltkrieg eine riesige Vereinigung von Impfgegnern – mit rund 300.000 Mitgliedern und eigener Zeitschrift. Jahrzehntelang wurde daraufhin keine weitere verpflichtende Schutzimpfung per Gesetz verordnet. Selbst in der NS-Zeit gab es eigentümlicherweise keine Impfzwänge; jedenfalls für die Zivilbevölkerung, dieser wurden nur Empfehlungen gemacht.
Nicht zuletzt spielte sicher auch die krude Esoterik und die seltsame Vorliebe mancher Nazi-Größen wie Heinrich Himmler für "alternative" Heilweisen eine Rolle.
Ja, sicher.
Welchen Einfluss hatte das sogenannte Lübecker Impfunglück von 1929, bei dem 77 Kinder starben?
Es war eine wahre Katastrophe, die auch als Lübecker Totentanz bekannt geworden ist. Die Ursache war ein verunreinigter Impfstoff gegen Tuberkulose. Aus dem Desaster sind 1931 umfassende Richtlinien entwickelt worden, um so etwas für die Zukunft zu verhindern. Es hat jedoch Jahrzehnte gebraucht, bis sich diese Standards durchsetzten.
Bald beginnen die Schutzimpfungen gegen das Coronavirus, die eine neue Verfahrensweise nutzen.
So etwas wie den mRNA-Impfstoff hat es tatsächlich noch nicht gegeben. Experten versichern, dass dies wirklich ein großer Durchbruch ist. Bei aller beruflichen Skepsis, als Medizinhistoriker bin ich gespannt, Zeitzeuge dieses besonderen Ereignisses zu sein.
Wie lässt sich das Neuartige an dem mRNA-Impfstoff auf den Punkt bringen?
Durch den mRNA-Impfstoff werden unsere Körper selbst zum Impfstoffproduzenten. Bislang hat man das Antigen sozusagen in der Fabrik hergestellt und dann in den menschlichen Körper injiziert. Dann hat das Immunsystem die Antwort darauf gegeben. Der neue Impfstoff wird hingegen in uns hergestellt – und ruft die körpereigene Immunantwort hervor.
Manche Menschen fürchten gerade die Neuartigkeit sowie Veränderungen unseres Erbguts.
Der Impfstoff hat komplexe Prüfungen durchlaufen, allerdings hat man erst wenige Monate Erfahrung damit. Über eventuelle längerfristige Folgen, die recht unwahrscheinlich sind, kann man noch nichts aussagen. Kinder, Jugendliche und Schwangere sollen einstweilen nicht mit dem mRNA-Impfstoff geimpft werden.
Haben Sie – bitte verzeihen Sie – als älteres Semester Bedenken gegen den Impfstoff?
Für Menschen im siebten Lebensjahrzehnt ist das Risiko der Impfung gegen eine mögliche Infektion mit der Krankheit abzuwägen. Ich hätte für mich selbst keine Bedenken gegen die Impfung.
Impfgegner könnten auf diese Frage einiges entgegnen.
Überzeugte Impfgegner lassen sich nicht mit Argumenten überzeugen. Bei den Impfgegnern steckt die Angst dahinter. Ich zitiere an der Stelle gerne den Soziologen Niklas Luhmann…
…der schrieb, dass "Angst nicht wissenschaftlich widerlegt werden" könne.
Das ist der Punkt. Luhmann bezog sich auf die atomaren Gefahren in den Achtzigerjahren. Aber der Mechanismus ist der gleiche.
Wenn Sie Bilanz ziehen: Wie wäre unser Leben ohne die Möglichkeit der Schutzimpfung beschaffen?
Wesentlich gefährlicher; denn Schutzimpfungen sorgen etwa dafür, dass insbesondere in den entwickelten Ländern die Kindersterblichkeit so gering ist. Noch vor 200 Jahren sind auch bei uns noch gut die Hälfte der Kinder gestorben. Denken Sie allein an die Diphtherie, gegen die wir den Impfstoff Emil von Behring und Paul Ehrlich verdanken, die für Kinder überaus gefährlich ist. Ohne Impfungen wäre das Leid auf der Welt viel größer.
Nun hat die Menschheit bald eine wirksame Prophylaxe gegen das Coronavirus. Wird etwas aus der Zeit dieser Krise bleiben?
Bis die Impfung die Corona-Pandemie kontrollierbar macht, wird einige Zeit vergehen; da sind sich die Experten einig. Voreilige Hoffnungen auf eine Rückkehr zur alten "Normalität" sind nicht angebracht. Vieles ist unklar. Eine einfach scheinende Frage, die aber in der Kinderheilkunde eine Rolle spielt: Wie wird sich der gesteigerte Hygienezwang bei Kindern, insbesondere bei Kleinkindern, auswirken? Wird dies die Tendenz für Allergien erhöhen? Wir sind in ein Zeitalter mit neuen Hygieneregeln eingetreten. Das wird sich in vielen Lebensbereichen auswirken und ist in seinen Folgen unabsehbar.
Professor Leven, vielen Dank das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Karl-Heinz Leven