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Harari zur Pandemie: "Corona hat das Potential, die Welt besser zu machen"


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Star-Historiker Harari
"Im schlimmsten Fall kollabiert unsere Weltordnung"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 23.10.2020Lesedauer: 12 Min.
Yuval Noah Harari: Das Coronavirus ist eine große, aber nicht die einzige Gefahr, die uns derzeit droht, sagt der israelische Historiker im t-online-Gespräch.Vergrößern des Bildes
Yuval Noah Harari: Das Coronavirus ist eine große, aber nicht die einzige Gefahr, die uns derzeit droht, sagt der israelische Historiker im t-online-Gespräch. (Quelle: Olivier Middendorp)
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Das Coronavirus erschüttert die Welt, ist aber nicht mehr die einzige globale Gefahr: Der Historiker Yuval Noah Harari erklärt im t-online-Interview, warum der Menschheit jetzt die totale Überwachung droht.

Die Corona-Krise stellt die Welt auf den Kopf, aber sie markiert möglicherweise nur den Anfang einer neuen Ära: die der totalen Überwachung aller Menschen. Sagt Yuval Noah Harari, einer der profiliertesten Vordenker unserer Zeit. Was jetzt noch wie Science-Fiction klingt, könnte schon bald Wirklichkeit werden – und dabei könnte es nicht bleiben.

Der israelische Historiker und Bestsellerautor hält es für denkbar, dass sich die Menschheit angesichts des dramatischen technologischen Fortschritts aufspaltet: in wenige Privilegierte, die alle Reichtümer und Vorteile neuer Technologien nutzen können, und in eine riesige "nutzlose Kaste" von Menschen, die irgendwann aus dem Lauf der Geschichte verschwindet.

Was wir heute tun können, um nicht nur die Corona-Krise zu meistern, sondern auch die Gefahren der Zukunft abzuwehren, beantwortet Harari im Gespräch mit t-online:

t-online: Professor Harari, seit Monaten leidet die Welt unter der Corona-Pandemie. Wie sehr wird diese Krise Politik, Wirtschaft und auch unser Sozialleben verändern?

Yuval Noah Harari: Historisch betrachtet ist diese Pandemie nicht so gefährlich wie die Seuchen der Vergangenheit. Das Coronavirus ist nicht der Schwarze Tod aus dem Mittelalter und auch nicht die Spanische Grippe von 1918, die waren aus medizinischer Perspektive gesehen weitaus desaströser. Die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie könnten allerdings enorm sein: Im schlimmsten Fall kollabiert unsere Weltordnung. Oder sie wird zumindest weiter destabilisiert.

Werfen wir also einen kurzen Blick in die Zukunft: Woran werden sich die Menschen erinnern, wenn sie in 50 Jahren an diese Epidemie zurückdenken?

In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde.

Weil viele Menschen seit Beginn der Corona-Krise von zu Hause per Internet arbeiten, mit ihren Freunden kommunizieren und auch digital ihre Freizeit verbringen?

Genau, die Menschheit verständigt sich jetzt darauf, einen Großteil ihres Lebens online zu verbringen. Das hat Vorteile, birgt aber auch eine Gefahr: Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.

Yuval Noah Harari, geboren 1976, lehrt Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem und gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit. Seine Bücher "Eine kurze Geschichte der Menschheit", "Homo Deus" und "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" sind internationale Bestseller. Diese Woche erscheint Hararis neue Graphic Novel "Sapiens. Der Aufstieg" im Verlag C.H. Beck.

Wirklich? In China war die Überwachung der Bevölkerung durch die Behörden doch schon vor Ausbruch der Corona-Krise weit fortgeschritten. Aber in Westeuropa sieht es doch ganz anders aus.

Sie haben recht, demokratische, pluralistische Gesellschaften widersetzen sich dieser Art der Kontrolle der Bevölkerung – noch. Aber angesichts der Corona-Epidemie könnten auch die liberalen Demokratien ihre Abneigung gegen die Überwachung ihrer Bürger ablegen. Eine 24-Stunden-Kontrolle ist in unserer zunehmend digitalen Welt überhaupt kein Problem mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Szenario eintreten wird. Aber ich habe die Befürchtung, dass die totale Kontrolle eine Folge der Corona-Krise werden könnte. Viele Dinge, die im Westen noch vor einem Jahr undenkbar waren, sind durch die Pandemie nun auch dort plötzlich akzeptabel geworden.

Was denn?

Beispielweise die Speicherung von Gesundheitsdaten, die Angabe von Namen und Adressen, wenn man ein Restaurant besucht, und die Vorschrift, wie viele Menschen man zu einer privaten Feier zu sich nach Hause einladen darf. Die meisten Leute akzeptieren das gegenwärtig. Überwachung per se ist ja auch nichts Schlechtes.

Wo lauert dann die Gefahr?

Überwachung ist die beste Verteidigung gegen Epidemien. Früher war nur eine oberflächliche Kontrolle der Menschen möglich, aber unsere heutigen technologischen Möglichkeiten gehen viel weiter. Sie können wortwörtlich in die Körper der Menschen blicken und feststellen, ob jemand krank ist. In China wird das bereits praktiziert, dort speichern Apps die wichtigsten Gesundheitsdaten der Bürger, und der Staat kann sie auslesen und massenhaft vergleichen. Vordergründig ist das praktisch: Je früher eine Epidemie entdeckt wird, desto einfacher lässt sie sich stoppen. Aber wir müssen vorsichtig sein: Was in einer Weltregion ausprobiert wird, wird irgendwann auch in andere Regionen vordringen. Die totalitäre Versuchung ist in Zeiten von Corona groß.

Bitte konkreter: Wo sehen Sie eine totalitäre Tendenz?

Zum Beispiel darin, dass China seine Strategie gegen Corona als Erfolg wertet. Es ist also damit zu rechnen, dass das Regime die angewandten Methoden verfeinert, ausweitet und auch in andere Länder überträgt. Eine ständige biometrische Überwachung der Bevölkerung würde es erlauben, auch andere Gefahren als Covid-19 zu entdecken. Etwa die alljährliche Grippe oder Krebserkrankungen. Vom gesundheitspolitischen Standpunkt her gesehen ist das eine positive Entwicklung. Die entscheidende Frage ist, wie mit dieser Verantwortung umgegangen wird. Denn vollständige Überwachung kann eben nicht nur zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge genutzt werden.

Sondern auch für eine lückenlose Kontrolle der Menschen?

Genau, und zwar weltweit.

Moment, Sie meinen aller Menschen?

Ja, aller Menschen. Wir sind heute in der Lage, die perfekte Diktatur zu errichten. Es wäre ein autoritäres Regime, wie es dieser Planet noch nicht gesehen hat. Eine Diktatur, die schlimmer wäre als Nazideutschland oder die Sowjetunion unter Josef Stalin, ist heute denkbar. Im 20. Jahrhundert war jedes totalitäre Regime noch durch eine grundlegende technologische Grenze eingeschränkt. Pro Kopf gerechnet verfügte wahrscheinlich kein Geheimdienst über mehr Mitarbeiter zur Überwachung der Bevölkerung als die ostdeutsche Staatssicherheit. Aber selbst die Stasi hatte nicht genug Personal, um jeden DDR-Bürger rund um die Uhr überwachen zu können.

Von dem gigantischen Berg an Papier, den jede Überwachung nach sich zog, ganz zu schweigen.

Richtig, aber die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts machen das nun möglich. Man braucht keinen Spion mehr auf der Straße, der die Menschen überwacht. Stattdessen gibt es Kameras, Mikrofone oder Sensoren. Die Auswertung der Datenmengen kann eine Künstliche Intelligenz übernehmen, die sogar berechnen kann, wie sich ein Überwachter in Zukunft wahrscheinlich verhalten wird. Zum ersten Mal in der Geschichte ist totale Überwachung möglich. Man kann mehr über die Menschen erfahren, als sie selbst über sich wissen. Das ist die eigentliche Gefahr, die die aktuelle Krise mit sich bringt: Dass die digitale Überwachungstechnologie durch die Gesundheitskrise weltweit legitimiert wird – auch in demokratischen Gesellschaften, die sich zuvor der Überwachung widersetzt haben.

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Aber Staaten wie etwa Deutschland haben strenge Datenschutzgesetze.

Schon, aber nichts ist unumstößlich. Es kommt auf das Ausmaß der Krise an. Im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Privatsphäre werden die Menschen fast immer bereit sein, letztere zu opfern.

Das klingt so abstrakt, machen Sie es bitte mal konkreter.

Nehmen wir an, die Corona-Lage verschärft sich nun weiter. Oder irgendwann gibt es eine andere gefährliche Pandemie. Dann könnten Regierungen und Bürger vor die Wahl gestellt werden: Entweder man macht einen erneuten Lockdown, die Wirtschaft leidet massiv, und im schlimmsten Fall verlieren Sie so wie Tausende andere Menschen Ihre Arbeit. Oder Sie willigen ein, dass der Staat Sie ab sofort vollständig überwachen darf, um bei einem Kontakt mit einem Infizierten sofort einschreiten zu können. Wie würden Sie sich entscheiden?

Wir ahnen: Möglicherweise würden viele Menschen die zweite Option wählen.

Es ist sogar sehr wahrscheinlich. Und zwar in Westeuropa genauso wie in China. Das ist bedrohlich! Ich bin in keiner Weise gegen die Verbesserung der Gesundheitsprävention durch Überwachung. Aber sie muss immer ausgewogen und an demokratische Regeln gebunden sein. Wenn die Regierung die Überwachung der Bürger verstärkt, dann müssen folglich die Bürger die Kontrolle der Regierung verschärfen. Alle erhobenen Gesundheitsdaten dürfen also nur jenen Behörden zur Verfügung stehen, die sich der Bekämpfung von Epidemien widmen. Alle anderen dürfen sie weder sehen noch verwenden – sonst ist die Versuchung zu groß, sie auch für andere Zwecke zu nutzen. Die Geschichte der Menschheit hat gezeigt, dass wir Menschen dazu neigen, alles zu tun, was wir tun können.

Diese These findet sich auch in Ihrem neuen Buch, das Sie in diesen Tagen veröffentlichen: In Ihrer Graphic Novel, einer Art historischem Comic, befassen Sie sich mit dem Aufstieg des Homo sapiens. Zu welchem Urteil sind Sie gelangt, haben wir etwas aus den Erfahrungen unserer Vorfahren gelernt?

Wir können aus der Geschichte vor allem lernen, welche langfristigen Fehler wir gemacht haben. Das begann schon ganz am Anfang. Viele Leute halten bis heute die landwirtschaftliche Revolution vor rund 10.000 Jahren, als die Menschen sich von Jägern und Sammlern zu Bauern entwickelten, für eine große Verbesserung. Tatsächlich machte sie das Leben der meisten Menschen viel, viel schlimmer. Das Leben eines durchschnittlichen Bauern im alten Ägypten oder später im mittelalterlichen Deutschland war wesentlich härter als das eines Jägers und Sammlers vor rund 300.000 Jahren. Denn der immense Wohlstand, der durch die Sesshaftwerdung und die Landwirtschaft erarbeitet wurde, kam nur einer winzigen Elite zugute. Die machte es sich in Palästen gemütlich, während der Rest der Menschen darbte und von Krankheiten und Konflikten geplagt wurde. Erst im 20. Jahrhundert kam es für die "normalen" Menschen wieder zu einer nennenswerten Verbesserung ihres Lebensstandards und einer Verlängerung ihrer Lebenserwartung.

Stehen wir heute erneut an einem Scheidepunkt? Auch digitaler Wandel und Automatisierung könnten die Menschheit in Profiteure und Abgehängte teilen.

Das ist in der Tat eine Gefahr. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass alle Menschen von den Vorteilen der Digitalisierung und Automatisierung profitieren werden.

In unserem letzten Interview vor zwei Jahren haben Sie das Risiko beschrieben, dass die Biotechnologie eine Kaste von "Supermenschen" hervorbringen könnte, während der Rest der Menschheit zu einer "nutzlosen" Kaste deklassiert wird.

Im schlimmsten Fall werden Teile der Menschheit sogar verschwinden. In meinem neuen Buch führe ich das aus: Vor 50.000 Jahren gab es neben dem Homo sapiens mindestens fünf weitere menschliche Arten auf der Erde. Als sich unsere Vorfahren aber auf dem Planeten ausbreiteten, verschwanden alle diese anderen Menschenarten. Haben wir sie in der ersten ethnischen Säuberung der Geschichte ausgelöscht? Oder verschwanden sie allmählich, weil der Homo sapiens ihnen überlegen war? Das wissen wir nicht genau. Was wir aber wissen: Heute gibt es eine neue Art von Entität auf der Welt: die Künstliche Intelligenz. Diese KI könnte uns das antun, was wir den Neandertalern angetan haben.

Künstliche Intelligenz könnte uns am Ende ausrotten?

Ich bin kein Prophet, aber es ist denkbar. Es hängt von den Entscheidungen ab, die wir in den kommenden Monaten und Jahren treffen. Alles ist möglich. Die Corona-Krise kann dazu genutzt werden, um Hass zwischen den Staaten zu schüren, wie es beispielsweise US-Präsident Trump tut. Ebenso könnten manche Länder, die früh einen Impfstoff entwickeln, diesen Vorteil nutzen, um politische Dominanz über Staaten aufzubauen, die noch kein Serum besitzen. Andererseits könnte die Krise dazu führen, dass Staaten bei der Bekämpfung des Virus besser kooperieren. Corona hat durchaus das Potenzial, die Welt besser zu machen – wenn wir uns aktiv dafür entscheiden. Es wäre ein Weckruf für die Menschheit, dass Zusammenarbeit allen hilft und wir lernen können, zukünftige Krisen besser zu bewältigen.

Wir Menschen bezeichnen uns selbst als Homo sapiens, als "weiser Mensch". Sollten wir nicht längst die Erkenntnis gewonnen haben, dass Kooperation besser ist als Konflikt?

In der Tat sind die Beziehungen der Menschen zueinander in unserer Gegenwart besser als jemals zuvor in den vergangenen 10.000 Jahren – trotz aller Kriege und Konflikte, trotz Fake News und Populismus.

Also besteht Hoffnung?

Hoffnung besteht immer. Heutzutage sterben auf dem Globus mehr Menschen, weil sie zu viel essen, als weil sie zu wenig zu essen haben. Es sterben mehr Menschen an ihren Alterserscheinungen als an Infektionskrankheiten. Wir Menschen haben gelernt, effizient zusammenzuarbeiten, wir tauschen Ideen und Wissen aus. Wir dürfen nicht immer nur auf das Negative in der Welt schauen, sondern wir müssen erkennen: Wenn jedes Individuum sich besser verhält, wird auch die Welt besser. Es ist kein Naturgesetz, dass wir uns bekriegen müssen. Wenn es zu Konflikten kommt, dann liegt das einzig und allein an unserem Verhalten – und an der Art und Weise, wie wir Technologie einsetzen.

Also sind neue Technologien der Schlüssel zu unserem Glück?

Technologien können unser Leben retten und sie können uns zerstören. Das ist heute nicht anders als vor Jahrtausenden. Wissen Sie, welches Werkzeug vor Tausenden von Jahren einen wahrhaftigen Durchbruch bewirkt hat?

Der Faustkeil?

Nein, die Nadel, der vielleicht unterschätzteste Gegenstand, den der Homo sapiens je geschaffen hat. Mithilfe der Nadel konnten unsere Vorfahren, die aus Afrika stammten, die nördlichen Teile Europas und Asiens kolonisieren und den Neandertaler verdrängen, auch in dem Gebiet, auf dem heute Deutschland liegt. Mithilfe dieses kleinen Instruments konnten sie sich in kalten Gebieten schützende Kleidung aus Fellen und Tierhäuten nähen. Auf diese Weise erreichte der Homo sapiens auch Amerika – was der Neandertaler und die die anderen menschlichen Arten niemals geschafft hatten.

Wir halten fest: Wir können froh sein, dass unsere Vorfahren die Nadel erfunden haben.

Die Nadel war eine ungemein nützliche Erfindung – aber zugleich ermöglichte sie riesige Massaker.

Wie bitte, die Nadel?

Die Nadel. Als der Homo sapiens – auch dank seiner selbst genähten, warmen Kleidung – vor etwa 15.000 Jahren Amerika erreichte, löste er eine der größten ökologischen Katastrophen der jüngeren Erdgeschichte aus. Es gab damals in Amerika noch eine bemerkenswerte Megafauna: Mammuts, Riesenbiber und allerlei andere Geschöpfe. Die Menschen haben sie alle innerhalb weniger Tausend Jahre ausgerottet. Dasselbe machten sie auf dem australischen Kontinent und auch sonst überall, wohin sie kamen. Der Mensch ist der schlimmste Serienkiller aller Zeiten. Ob eine neue Technologie gut oder schlecht ist, liegt also im Auge des Betrachters: Gehört man zu den überlebenden Gewinnern oder zu den Ausgerotteten?

Aber es war doch nicht nur die Nadel, die den Homo sapiens zum Herrscher über den Planeten gemacht hat.

Nein, eine andere menschliche Erfindung war noch wirkungsmächtiger: das Erzählen von Geschichten. Nicht die Neandertaler, nicht die Schimpansen oder andere Spezies kontrollieren diese Welt, sondern wir. Und zwar deshalb, weil wir in viel größerer Zahl zusammenarbeiten können als andere. Aus diesem Grund waren wir in der Lage, Kathedralen zu errichten und Kreuzzüge zu führen. Die Basis für diese Form der Zusammenarbeit sind fiktive Geschichten, und die Religionen sind dafür das beste Beispiel. Sie werden niemals eine Million Schimpansen überzeugen können, gegen andere "böse" Schimpansen am anderen Ende der Welt in einen Heiligen Krieg zu ziehen – mit der vagen Aussicht, im Fall ihres vorzeitigen Ablebens im Himmel einen Haufen Bananen zu erhalten. Bei uns Menschen ist das anders. Wir erfinden Geschichten, und wir setzen sie ein, um andere Menschen an uns zu binden und von unseren Ideen zu überzeugen.

Brauchen wir angesichts der existenzbedrohenden Klimakrise also eine neue Erzählung zur Rettung unserer Zivilisation?

Ja, und unsere menschliche Geschichte liefert uns die Lehre dafür. In unserer Vergangenheit haben wir alle anderen menschlichen Arten ausgelöscht – und jetzt sind wir sogar dabei, uns selbst zu zerstören. Wir brauchen also dringend eine neue Erzählung. Eine, die in ihrer Überzeugungskraft der größten menschlichen Erzählung gleichkommt.

Welche ist das?

Das Geld. An nichts glauben die Menschen mehr als an Geld. Die besten Geschichtenerzähler der Welt sind nicht die Nobelpreisträger für Literatur, sondern die für Wirtschaftswissenschaften. Sie überzeugen Milliarden Menschen auf der ganzen Welt, einen Monat hart zu arbeiten, um am Ende ein paar Zettel in die Hand gedrückt zu bekommen oder ein paar Zahlen auf dem Konto zu haben. Warum tun wir Menschen so etwas Unvernünftiges? Weil wir glauben, was die Banker uns erzählen.

Gegenwärtig haben wir den Eindruck, dass ziemlich viele Menschen auch allerlei Verschwörungstheorien glauben.

Kein Wunder. In Krisenzeiten verlangen Menschen umso mehr nach einfachen Gewissheiten. Es ist sehr kompliziert zu verstehen, was genau ein Virus ist, wie es sich vermehrt und wie es sich verbreitet. Da sind Verschwörungstheorien für viele Menschen ein bequemer Weg, um das Problem vermeintlich zu verstehen, ohne sich vertieft mit ihm auseinandersetzen zu müssen: Sie glauben, dass irgendwelche Regierungen oder Milliardäre dieses Virus im Labor haben entwickeln lassen, um damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Absurd! Verschwörungstheorien suggerieren, dass die ganze Welt von einer kleinen Elite kontrollierbar sei, dabei ist das vollkommen unrealistisch. Schaut man sich die Menschheitsgeschichte an, sieht man deutlich: Selbst die mächtigsten Regierungen sind oft ahnungslos, was geschieht. Sie machen Pläne – aber das genaue Gegenteil tritt ein.

Nennen Sie mal ein Beispiel.

Nehmen Sie die amerikanische Invasion im Irak 2003. Die USA behaupteten, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, und griffen ihn an: mit der stärksten Militärmacht der Welt, unterstützt von zahlreichen Geheimdiensten mit modernster Technik, inklusive Satelliten. In Bagdad konnte niemand einen Kaffee auf der Terrasse trinken, ohne dass die CIA das mitbekam. Trotzdem ist der amerikanische Plan, den Irak im westlichen Sinne zu demokratisieren, völlig gescheitert. Zahlreiche amerikanische Soldaten wurden verletzt oder getötet, die Weltmacht USA wurde gedemütigt, und heute kontrolliert ausgerechnet der Iran große Teile des Nachbarlandes. So gesehen war das eine echte historische Verschwörung, die vollkommen scheiterte. Komplexe Machtpläne bleiben selten im Verborgenen, und sie glücken auch nur selten. Jetzt zu glauben, dass ein paar machthungrige Milliardäre mithilfe eines Virus die ganze Welt übernehmen könnten, ist lächerlich.

Zum Abschluss noch einmal zurück zu Ihrem neuen Buch: Als Historiker haben Sie mit Ihren Lesern bislang allein durch Worte kommuniziert. Ihre Graphic Novel basiert vor allem auf Bildern. Eine große Herausforderung für Sie als Autor?

Es war das Amüsanteste, was ich jemals in meiner akademischen Karriere gemacht habe. Und es war sehr, sehr kompliziert. Zum Glück hatte ich mit Daniel Casanave und David Vandermeulen zwei hochtalentierte Mitstreiter an meiner Seite. Zusammen haben wir alle akademischen Konventionen gebrochen. Wir erklären den Wettbewerb der verschiedenen menschlichen Arten im Buch mittels einer Reality-TV-Show. Wir machen Anleihen im Superheldengenre und bei den Detektivgeschichten. Einige Entscheidungen waren allerdings richtig knifflig zu treffen.

Welche?

Nehmen Sie unser Bild vom frühen Homo sapiens: In bisherigen Darstellungen in Büchern und Filmen sieht dieser Mensch fast immer wie ein moderner westeuropäischer Mann aus. Aber er kam ja aus Afrika. Und Frauen spielten eine sehr wichtige Rolle. Also haben wir die gängigen Klischees aufgebrochen. Wir haben versucht, die Vergangenheit der Menschheit möglichst spannend, aber objektiv und vorurteilsfrei wiederzugeben. Ich hoffe, es ist uns gelungen.

Professor Harari, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch via Videokonferenz
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