Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mauerfall 1989 Wie ein Stasi-Offizier im Zorn die Berliner Mauer öffnete
Tausende DDR-Bürger standen am 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße, Stasi-Offizier Harald Jäger war allein auf sich gestellt
"Hier standen sie", sagt Harald Jäger. "Es waren Zigtausende." Jäger blickt die Bornholmer Straße hinunter, es ist ein stürmischer Septembertag im Jahr 2019. Nur wenige Passanten sind angesichts des Wetters unterwegs. Doch Jäger sieht in diesem Augenblick nicht die Gegenwart, in der die Bornholmer Straße ein normaler Verkehrsweg im Norden Berlins ist. Jäger blickt stattdessen in die Vergangenheit: zurück zum 9. November 1989.
Der Tag, an dem sich das Leben von Millionen DDR-Bürgern ändern sollte. Und das von Harald Jäger insbesondere.
Denn Jäger, mittlerweile 76 Jahre alt, war eine Figur in dem Drama, das sich am 9. November 1989 an der Bornholmer Straße in Ost-Berlin abspielte. Er war aber keiner der Tausenden Menschen, die sich am Abend vor der dortigen DDR-Grenzübergangsstelle mit ihrem Wahrzeichen Bösebrücke versammelten. Angelockt von den Worten des SED-Zentralkomitee-Mitglieds Günter Schabowski, der ihnen gegen 19 Uhr während einer Pressekonferenz in holprigen Worten die "unverzügliche" Reisefreiheit verhießen hatte.
"Wir kommen wieder"
Nein, Jäger stand auf der anderen Seite. Auf der der Staatsmacht. Als Angehöriger der Staatssicherheit und stellvertretender Leiter der Passkontrolleinheit an der Bornholmer Straße. "Wir kommen wieder, wir kommen wieder", erinnert sich der damalige Oberstleutnant an die drängenden Rufe der Menschenmasse von damals, die sich von der Grenzübergangsstelle bis zur Schönhauser Allee drängte.
Es war eine brenzlige Situation: Tausende, die Zutritt nach West-Berlin verlangten, ein kleiner Trupp von Passkontrolleuren, der sich ihnen entgegenstellte. Jahrzehntelang waren diese Männer darauf gedrillt worden, die DDR-Bürger zu kontrollieren, abzuwehren, im Land zu halten. Nun waren sie durch Schabowskis Worte tief verunsichert. Was tun, wenn alles, woran sie bislang geglaubt hatten, plötzlich ins Wanken geriet?
Auf Harald Jäger lastete die Verantwortung an diesem Punkt der hochgesicherten Grenze in diesen Stunden. Der ehemalige Stasi-Offizier, heute graues Haar, akkurate Kleidung, ist ein zurückhaltender Mann, doch an einem Punkt wird er energisch. "Blutvergießen", sagt Jäger. "Das wollte ich auf jeden Fall vermeiden." Es sollte ihm gelingen. Doch dazu später mehr. Denn um den Harald Jäger vom 9. November 1989 verstehen zu können, muss man seine Geschichte kennen.
Dankbarkeit für die DDR
Die Bornholmer Straße wäre sein Leben gewesen, hat der gebürtige Bautzener einmal resümiert. Das macht sich schnell bemerkbar, wenn man mit Jäger dort unterwegs ist. Hier stand die eine Baracke, dort die andere, erklärt er. Er wirkt etwas entrückt bei der Erinnerung, nostalgisch, vielleicht liegt es auch daran, dass eigentlich nichts übrig geblieben ist von dem, was einst gewissermaßen Jägers Grenze gewesen ist. Etwas Mauer steht noch, ansonsten herrscht heute auf der Bornholmer Straße freie Fahrt, wo einst Sperranlagen standen. Ein Discounter steht auf ehemaligem Sperrgelände.
Vor einer Kneipe, die heute den programmatischen Namen "Bier-Fieber" trägt, bleibt Jäger stehen. "Hier sind wir immer eingekehrt", sagt er. Und meint die Männer der Stasi-Passkontrolleinheit. "Als die anderen Gäste raus waren, haben wir zugesperrt. Und uns selbst hinter den Tresen gestellt." Es klingt nach einer unbeschwerten Zeit, einer Zeit, die von dem Glauben an den Sozialismus geprägt war. Was nur gelingen konnte, wenn man die störenden Aspekte ausblendete. Was Jäger lange Zeit vollbrachte.
1943 in Sachsen geboren, wurde Jäger von seinen Eltern kommunistisch erzogen. Krieg und Kriegsgefangenschaft hätten den Vater überzeugt, dass nur der Sozialismus den Frieden garantieren könne. Es folgten Schule, Freie Deutsche Jugend und eine Lehre als Ofensetzer – Jäger war der DDR dankbar für die Möglichkeiten, die sie ihm bot. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953? War selbst für den damals Zehnjährigen "Konterrevolution".
Jäger hatte ganz andere Pläne. "Ich wollte dem Staat etwas zurückgeben", erinnert er sich. Der junge Mann meldete sich 1961 freiwillig zur Deutschen Grenzpolizei. Jäger ist seit seiner Kindheit gerne in der Natur, die Aufgabe gefiel ihm. Seine Tätigkeit hinterfragte er nicht: "Ich war damals der felsenfesten Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen." Drei Jahre später wurde Jäger dann Mitarbeiter der Stasi. Mit der freien Natur war es vorbei, die Bornholmer Straße in Ost-Berlin wurde für 25 Jahre sein Arbeitsplatz.
"Was für ein geistiger Dünnschiss!"
Jäger erledigte seine Aufgaben gewissenhaft, stieg im Rang immer weiter auf. Bis er am Morgen des 9. November 1989 seinen Dienst antrat. Zwar gärte es seit Wochen in der DDR, Demos in Leipzig, Ost-Berlin und anderen Städten, trotzdem ahnte Jäger nicht, was dieser Tag bringen sollte.
Diese Erkenntnis folgte erst später am Abend, als Jäger als diensthabender Offizier Hunger verspürt. Und in der Kantine Schabowskis Worte mitbekam. "Wir hatten dort einen Schwarz-Weiß-Fernseher, da habe ich es gehört." "'Unverzüglich'", sagte Schabowski, Jäger dachte: "Was für ein geistiger Dünnschiss!" Denn er wusste genau, dass die Grenzübergangsstellen in keinster Weise für den kommenden Ansturm gerüstet waren. Der auch bald einsetzte.
Gegen 21.30 Uhr meldete Jäger an seine Vorgesetzten: "Wir beherrschen die Lage nicht mehr." Heute sagte er: "Mir glitt das aus der Hand." Fordernd, aber nicht aggressiv, hätten die DDR-Bürger die Öffnung der Grenze gefordert. Mit guten Argumenten: "Sie sagten, dass wir als Staatsvertreter doch immer behaupten würden, dass die Partei immer recht habe." Nun hatte die SED mittels Schabowski die Reisefreiheit verkündet. Mit einem gewissen Schmunzeln sagt Jäger: "Da haben die DDR-Bürger damals gut argumentiert."
Von allen im Stich gelassen
Zum Lachen war ihm vor 30 Jahren freilich nicht. Er befürchtete Gewalt. Sei es, dass einer seiner Mitarbeiter in Bedrängnis zur Waffe hätte greifen können, sei es, dass die Menschenmasse die Grenze einfach stürmte. Auch vonseiten seiner Untergebenen wurde Jäger unter Druck gesetzt. "Harald, du musst handeln" forderten sie den Oberstleutnant seiner Erinnerung zufolge auf. Immer drängender wurden Jägers Anrufe, die Hierarchieleiter des Ministeriums für Staatssicherheit immer weiter hinauf, mit der Bitte um Unterstützung. Doch Hilfe blieb aus. Schlimmer noch: Von vorgesetzter Stelle wurde seine Urteilskraft bezweifelt, er gar als Feigling verdächtigt.
"Wütend ist noch untertrieben", beschreibt Jäger seine damalige Stimmung. Allein gelassen, öffnete er die Grenze, ließ die Menschen passieren. Gegen 23.25 Uhr war nach Jägers Aussage damit die Berliner Mauer gefallen, der ehemalige Grenzwächter war zum Grenzöffner geworden. Es war damit nicht Rebellion, nicht Widerstand, die zur Öffnung der Berliner Mauer führte. Es waren die Wut und Enttäuschung eines Mannes, der auf sich allein gestellt im Affekt eine Entscheidung traf. Die richtige Entscheidung.
Heute, 30 Jahre nach diesem Ereignis, ist Jäger immer noch der Stolz auf seine damalige Tat anzumerken. Das liegt auch an dem, was der Maueröffnung folgte. Die nach Westen strömenden DDR-Bürger bejubelten plötzlich Jäger und seine Männer, es wurde gelobt, geherzt und auch das eine oder andere Küsschen landete auf den Wangen der Passkontrolleure.
Von Gefühlen übermannt
Jäger, der bis heute pflichtbewusst wirkt, war hingegen in diesem Augenblick erst mal ganz anders zumute: "Ich dachte, ziehst dich erst mal in die BRD-Baracke zurück und heulst dich richtig aus." Daraus wurde allerdings nichts, dort ließ schon ein Untergebener seinen Tränen freien Lauf. "Als Vorgesetzter konnte ich mich doch nicht daneben stellen und mitheulen", betont Jäger. "Ich sagte ihm nur: 'Das Leben geht weiter'!"
Das tat es in der Tat. Dem Mauerfall folgte die Wiedervereinigung, für Jäger war damit der Verlust von Arbeitsplatz und sozialem Prestige verbunden. Und mehr noch: Sein ganzes Weltbild geriet ins Rutschen. War er vorher überzeugter Sozialist, musste er sich damit arrangieren, im Kapitalismus zu leben. Obwohl ihn SED- und DDR-Führung am Abend des 9. November 1989 im Stich gelassen haben: "Da war dieses Gefühl, allein gelassen zu werden. Von den Leuten, denen man jahrzehntelang vertraut hat. Denen man gefolgt ist in ihrer Ideologie und ihren Befehlen." Die Enttäuschung ist Jäger noch immer anzumerken.
Und auch ein gewisses Hadern mit der Positionierung seines eigenen Lebens in der Zeitgeschichte. Jäger verwendet bisweilen die Wörter "man" oder "du", wenn er auf besonders kritische oder emotionale Situationen zu sprechen kommt. Das mag auch daran liegen, dass er ein bescheidener Mann ist. Die Bezeichnung "Maueröffner" erscheint ihm auf vielerlei Ebene falsch. Und als Helden der Nacht vom 9. November will er nur die DDR-Bürger bezeichnet wissen, die ihr Recht auf Reisefreiheit friedlich durchsetzten. Vielleicht trifft eine Formulierung zu, die die "Süddeutsche Zeitung" gefunden hat: "Ein halber Held".
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Denn Jägers Geschichte ist auch die der eigenen Anpassung, der Hinnahme und Teilnahme an der Repression gegen die Menschen in der DDR. "Ich habe in meiner Dienstzeit viel Unrecht gegenüber der Bevölkerung erlebt", bekennt Jäger. Warum hat er es dann hingenommen? "Ich sage es ganz offen", erklärt sich der ehemalige Stasi-Offizier. "Ich war ein gut geöltes Rädchen im Getriebe der DDR." Als Fahndungsoffizier war Jäger bei der Festnahme von sogenannten Republikflüchtlingen beteiligt – damals verbuchte er derartige Ereignisse als Erfolg. Heute sieht er seine Tätigkeit für die Stasi anders: "Ich habe ein Schamgefühl für die Zeit, die ich in diesen Organen gedient habe." Aber: "Ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen."
Während Jäger heute an der Bornholmer Straße seinen Erinnerungen nachhängt, drängt sich die Frage auf: War er selbst am Ende erleichtert über die Wende in der DDR? 1988, so erinnert er sich, habe sein Sohn drängende Fragen gestellt: Was halte Jäger von den Toten an der Mauer? Den Minen, den Selbstschussanlagen? Als "widerwärtig und hinterhältig", habe der Stasi-Offizier sie empfunden. Laut Kritik oder ein Ausscheiden aus dem Stasi-Diensten hat Jäger nicht erwogen: "Den Mut hatte ich nicht." Auch nicht aus Rücksicht auf seine Familie und den drohenden Repressalien seitens der Partei, betont er. Die Toten an der innerdeutschen Grenze bedauert er.
1989 war dann Schluss mit dem Schreckensregime an der Grenze, Ost- und Westdeutsche konnten sie ohne Probleme überqueren. Bis auf Harald Jäger. Sein Personalausweis war abgelaufen, so musste ausgerechnet der gelernte Passkontrolleur bis Ende Januar warten, bis er West-Berlin betreten konnte. Natürlich tat er das über "seine" Bornholmer Straße. Er kaufte eine Luftpumpe, und entdeckte beim ersten Ausflug eine spätere kulinarische Vorliebe: Döner. Damals, im Januar 1989, traute sich Jäger in einem Imbiss nicht zu fragen, was sich dort am Grill drehen würde. "Später habe ich mich dann in den Döner verliebt", schmunzelt Jäger.
Und auch die neue weltweite Reisefreiheit nutzte er schließlich. Mit einer Reise auf die dänische Insel Bornholm.
Neuanfang im vereinigten Deutschland
Beruflich allerdings wurde es schwierig für den Grenzer, der bald keine Grenze mehr hatte, die er bewachen konnte. Eine Übernahme in den Bundesgrenzschutz lehnte Jäger ab. "Ich hätte niemals die Uniform des Klassenfeindes angezogen" sagt er mit Nachdruck – man glaubt es ihm. Viele Jahre habe er gebraucht, bis er seinen Frieden mit dem Untergang des Sozialismus gemacht habe. Jahre, die geprägt waren von Arbeitslosigkeit, dem Betrieb eines Zeitungsladens und im Wachschutz.
- Historiker Stefan Wolle: "Meckerstimmung ist ein DDR-Relikt"
- Ex-Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen: Woher kommt der Streit?
- Sachsen: Als sich eine Kleinstadt gegen die SED erhob
Ein Traum wurde allerdings Realität. Vor Jahren schon zog Jäger mit seiner Frau ins Berliner Umland. Wo er in seinem Garten wieder nahe an der Natur ist. Ohne den Eisernen Vorhang, der Deutschland teilte.