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Als die DDR eine ganze Schulklasse drangsalierte


Interview
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Gefährlicher Schülerprotest
"Wir wollten der DDR richtig in die Parade fahren"

InterviewEin Interview von M. v. Lüpke, M. Trotz, A. Wölk

Aktualisiert am 08.06.2019Lesedauer: 8 Min.
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Mit Szenen aus dem Film, der auf der wahren Geschichte beruht: Der Zeitzeuge und damalige Schüler Dietrich Garstka erzählt über den Schüleraufstand in der DDR mit Folgen.

1956 erhoben sich die Ungarn gegen die Sowjetunion, in der DDR probte eine Schulklasse aus Solidarität den Aufstand. Die Folge waren unerbittliche Verhöre und Erpressung. Dietrich Garstka war einer der Betroffenen.

Herr Garstka, 1956 bekamen Sie und Ihre Klassenkameraden den geballten Zorn der DDR-Staatsmacht zu spüren. Was war geschehen?

Dietrich Garstka: Wir hatten im Radiosender RIAS von der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch die sowjetische Armee erfahren. Deshalb haben wir beschlossen, am 29. Oktober 1956 zu Beginn der Schulstunde für fünf Minuten zu schweigen. Als Zeichen der Solidarität mit den gefallenen Ungarn.

Das bedeutete in der DDR quasi Verrat. Hatten Sie die Idee dazu?

Ein Schüler kam in die Klasse und behauptete: "Im RIAS spricht man von Schweigeminuten wegen der vielen Toten!" Mit drei Jungs haben wir das dann vorn im Klassenraum spontan entschieden. Wir sagten: "Bitte fünf Minuten schweigen, gebt das jetzt nach hinten durch!" Der Geschichtslehrer, der zugleich FDJ- und Parteisekretär der SED war, stand schon in der Tür. Die Situation war etwas chaotisch, aber so ist es eben mit einer Rebellion, die aus dem Augenblick entsteht. Hoffentlich, dachte ich damals, ist jetzt keine Pflaume dabei, die meint, die Aktion stören zu müssen.

Haben alle Schüler durchgehalten?

Die ganze Klasse hat eisern geschwiegen. Fünf Minuten können aber sehr, sehr lang sein. Wir guckten immer wieder auf die Uhr an der Wand gegenüber. Der Lehrer verstand erst mal gar nicht, was da ablief. Sie müssen wissen, dass die ersten fünf Minuten jeder Unterrichtsstunde damals in der DDR sehr wichtig waren. Da wurde die Leistung überprüft, man konnte sich schnell eine Fünf einhandeln. "Welche Machtorgane hatten sich auf Initiative des Spartakusbundes gebildet?", fragte uns der Lehrer. Jeder wusste die Antwort. Aber keiner sagte etwas. Der Lehrer war völlig perplex. Als die fünf Minuten rum waren, ging eine ungeheure Entspannung durch die Sitzreihen, das weiß ich noch genau.

Dietrich Garstka, geboren 1939, floh mit 17 Jahren als politischer Flüchtling aus der DDR nach Westdeutschland. Er studierte Germanistik, Soziologie und Geografie und war lange Jahre Gymnasiallehrer. 2006 veröffentlichte er sein Buch "Das schweigende Klassenzimmer". Am 1. März 2018 startet die Verfilmung von Regisseur Lars Kraume in den deutschen Kinos.

Wie alt waren Sie damals?

Ich war 17 Jahre alt. Ich besuchte die Abiturklasse der Kurt-Steffelbauer-Oberschule im brandenburgischen Storkow, einer Kleinstadt, etwa eine Zugstunde von Berlin-Mitte entfernt.

Für die fünf Minuten Schweigen sollten Sie noch büßen müssen.

Die Geschichte machte irgendwie die Runde. Dann kamen die ersten Verhöre, der Kreisschulrat erschien in der Schule. Fünf von uns mussten ins Direktorenzimmer zum Verhör. Mit allen möglichen Tricks haben sie versucht, uns zu überführen. Zum Beispiel konfrontierten sie mich mit der angeblichen Beschuldigung Hans-Jürgens, ich sei der Anstifter. Auf meine Frage an ihn wurde klar, dass die Verhörer diese Beschuldigung einfach erfunden hatten. Eine erpresserische Lüge. Später kam der Direktor in unsere Klasse. Ein Schüler sagte, dass das doch Gestapo-Methoden sind. Da flippte der Direktor aus.

Und es wurde noch schlimmer.

Fritz Lange, der Volksbildungsminister der DDR, kam am 13. Dezember 1956 höchstpersönlich in unsere Klasse. Stellen Sie sich das mal vor: Ein Minister in unserer kleinen Klitsche von Stadt. Er sagte uns erst einmal, dass wir voller Ehrgefühl sein müssten, dass wir eine Oberschule der DDR besuchen dürften. So einen Scheiß eben. Er wollte auch wissen, warum wir die Schweigeminute gemacht hatten.

Sie hatten aber eine Ausrede parat?

Wir haben behauptet, dass wir um den legendären Fußballspieler Ferenc Puskás getrauert hätten, der angeblich bei den Kämpfen in Ungarn umgekommen war. So wäre es keine politische Sache mehr gewesen. Der Minister glaubte uns aber kein Wort. "Die Geschichte könnt ihr jemandem erzählen, der die Hose mit der Kneifzange anzieht", das waren seine Worte. Als er merkte, dass er nichts aus uns rauskriegte, fing er an rumzubrüllen. Es waren wirklich unflätigste Worte.

Wie ging der Besuch des Ministers aus?

Er stellte uns ein Ultimatum: Eine Woche hätten wir Zeit, um den Rädelsführer auszuliefern. Das Problem war, dass es gar keinen Anführer in diesem Sinne gegeben hatte. Es war eben eine völlig spontane Aktion der Solidarität mit den Ungarn gewesen.

Was haben Sie empfunden, als Sie zum ersten Mal vom Kampf der Ungarn gegen die Sowjetarmee erfuhren?

Erst mal war ich völlig begeistert, weil wir 1953 den Aufstand vom 17. Juli in der DDR erlebt hatten. Unsere Arbeiter schmissen damals mit Steinen. Die Ungarn aber hatten sich richtig bewaffnet und kämpften für ihre Freiheit. Dann wurde ich richtig zornig, als ich erfuhr, dass die Sowjetunion den Ungarn gar nicht die versprochenen Freiheiten geben wollte. Uns war klar, dass die Sowjetunion ein imperialistischer Staat war, eine Besatzungsmacht in Ungarn genauso wie bei uns in der DDR. Ich hegte keinen Hass, aber Verachtung für die Sowjetführer, die glaubten, dass sie den Menschen in ganz Osteuropa vorschreiben könnten, wie sie zu leben hätten.

Sie hatten über den Westsender RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, vom Volksaufstand in Ungarn erfahren. In der DDR stand das unter Strafe.

RIAS zu hören, war natürlich verboten. Das machte es für uns aber umso reizvoller. Unsere Lehrer und Funktionäre sagten immer, dass der RIAS ein Hetz- und Lügensender sei. Aber wir wären ja dämlich gewesen, wenn wir diesen Sender nicht gehört hätten. Durch den RIAS erfuhren wir, was in der Welt wirklich los war. In den DDR-Medien gab es nur drei Dinge: Selbstlob, Selbstlob und Selbstlob. Widerlich war das, diese ständigen Lügen der Funktionäre. Mit unserer Schweigeminute wollten wir der DDR mal richtig in die Parade fahren.

Wie konnten Sie überhaupt den RIAS empfangen?

Grundsätzlich zu Hause. Und auch im der Schule angeschlossenen Internat. Da trafen wir uns oft. Ein Mitschüler war sehr begabt in praktischer Physik. Der baute so lange etwas zusammen, bis er den RIAS empfangen konnte. Da waren wir oft und haben zugehört. Draußen vor der Tür hatten wir immer eine Wache postiert, damit uns niemand erwischte.

Wie standen Ihre Eltern dem Sozialismus gegenüber?

Mein Vater war deutschnational, meine Mutter schwamm im Strom mit. Sie waren beide nicht mit der DDR einverstanden.

Hatten Ihre Eltern keine Angst, als Sie es mit Behörden zu tun bekamen?

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Wir alle wollten unsere Eltern nicht damit belasten. Die Erwachsenen verdrängten das auch. Alle waren der Meinung, dass die Schweigeminute am Ende als dummer Jungenstreich hingenommen würde.

Wie war das Verhältnis in Ihrer Klasse?

Es war ein lockeres, kameradschaftliches Verhältnis. Wir haben uns alle gleich gut verstanden. Es gab niemanden, der ausgeschlossen war. Es war wirklich Glück, dass wir zufällig so zusammengesetzt waren. Alle waren bereit, füreinander da zu sein. Sonst wäre unsere Aktion auch nicht gelungen. "Wir haben es alle gemacht und da müssen wir jetzt durch", so dachten wir.

Waren Sie eigentlich ein guter Schüler?

Ich gehörte jedenfalls nicht zu den Schlechten.

Eine Woche hatte Ihnen der Volksbildungsminister bei seinem Besuch als Ultimatum gesetzt. Was passierte in dieser Zeit?

Die Genossen bearbeiteten uns noch einmal richtig massiv." Denkt an eure Zukunft!", sagten sie. "Versaut euch nicht das Abitur!". Es waren nicht immer Stasi-Mitarbeiter, bisweilen auch nur Funktionäre. Zwei Schüler besuchten sie abends und verhörten sie vier Stunden lang, jeden einzeln. Was die zwei durchmachen mussten an Angst und Wut, kann ich mir gar nicht vorstellen. Wenig Zeit später kam einer von den beiden zu mir und warnte mich: Mein Name sei gefallen.

Haben Sie sich gefürchtet?

Die Angst wuchs. Vor allem, als wir begriffen, dass sich nicht nur die Kreis- und Bezirksbehörden einmischten, sondern gleich die Regierung der DDR. Das war natürlich sehr ernst. Ich habe mich aber nicht von meiner Furcht leiten lassen. Angst ist zum Überwinden da. Das war meine Meinung.

Wie haben Sie reagiert, als Ihr Name ins Spiel kam?

Ich war voller Wut, weil ich dachte, dass mich mein Klassenkamerad verraten hätte. Das hatte er aber nicht. Ich war einfach geradezu prädestiniert. Sie wussten, dass die Idee zur Schweigeminute von irgendwo vorne aus der Mitte gekommen sein musste. Neben mir saß mein Freund Heinz-Jürgen, der konnte es aber nicht gewesen sein, weil er ein Arbeiterkind war. Ich kleiner Pinkel kam aber infrage. Mein Vater war Lehrer, in einem Brief des Volksbildungsministers an die Bezirksschulrätin werde ich auch wegen meines westlichen Aussehens genannt. Ich war früher manchmal zu meinem Onkel nach Duisburg gefahren und hatte mir da Westsachen gekauft. Die hatten einen ganz anderen Schnitt als im Osten. Solche Sachen wussten die.

Sie sind dann in einer Nacht- und Nebelaktion geflüchtet?

Ich habe am 19. Dezember 1956 meine Flucht fingiert. Vor allem als Schutz für meine Eltern. Eine sogenannte Republikflucht stand unter schwerer Strafe. Ich habe einen Zettel geschrieben: "Ich komme erst zurück, wenn meine Unschuld bewiesen ist." Dann bin ich im Hochparterre aus dem Fenster gesprungen, damit die Abdrücke meiner Fußsohlen im Schnee zu sehen waren. So konnten meine Eltern sagen, dass ich abgehauen war.

Mit der S-Bahn sind Sie dann nach West-Berlin in die Freiheit gefahren. Was war das für ein Gefühl?

Es war ein absolutes Gefühl der Befreiung. Ich sprang raus am Lehrter Bahnhof, dann bin ich direkt einem Polizisten in die Arme gelaufen. Der fragte mich nur: "Biste abgehauen?" Dann schenkte er mir zwei Mark. Das war eine sehr freundliche Aufnahme in West-Berlin.

Was geschah mit Ihren Klassenkameraden, die in der DDR geblieben waren?

Die Verhörmethoden änderten sich. Die Funktionäre sagten, jetzt ist der Garstka weg, nun könnt ihr ruhig zugeben, dass er es gewesen ist. Aber die Klasse reagierte nicht so, wie sie es wollten. Keiner hat mich beschuldigt. Das war für mich eine Sensation: Wer hätte es ihnen übel nehmen können, wenn sie meinen Namen genannt hätten? Schließlich war ich im Westen in Sicherheit.

Für ihre Loyalität wurde die Klasse bestraft.

Die zuständige Bezirksschulrätin war fassungslos, als mich trotzdem niemand denunzierte. Daraufhin wurde die komplette Klasse vom Abitur ausgeschlossen. In der ganzen DDR.

Ihr Beispiel machte dann wortwörtlich Schule.

Bis auf vier Mädchen ist die ganze Klasse in den Westen geflüchtet. Ich hatte meine Schulkameraden eine Adresse in Spandau auswendig lernen lassen. Und zwar die meines Onkels, der war Pfarrer. Als sie dort ankamen, gab er ihnen ein paar Mark und schickte sie zum Auffanglager für DDR-Flüchtlinge nach Marienfelde.

Hat man Ihre Geschichte im Westen eigentlich geglaubt? Es klingt fast unglaublich: Ein ganzer Staat, der ein paar Schüler drangsaliert.

Am Anfang nicht, dann erhielt ich den Status als politischer Flüchtling. Richtig bekannt wurde unsere Geschichte erst zu Silvester 1956. Ein paar Boulevardblätter hatten sie zuvor gebracht, dann ging es rasant wie ein Feuerbrand durch die Medien. Von der "Bild"-Zeitung bis hin zur "'Frankfurter Allgemeinen".

In West-Berlin sind Sie allerdings nicht lange geblieben. Sie fühlten sich bedroht?

Zunächst hatten die Genossen meine Eltern nach West-Berlin geschickt, um mich zur Rückkehr zu überreden. Dann standen bisweilen merkwürdige Gestalten in der Nähe unserer Unterkunft. Wir hatten schon Angst, immer wieder hat die Stasi Leute aus West-Berlin in den Osten verschleppt. Es war Kalter Krieg.

Schließlich wurden Sie mit ihren Klassenkameraden ins hessische Bensheim gebracht, wo Sie alle gemeinsam ihr Abitur machen konnten. Was war das für ein Gefühl, als Sie das Zeugnis endlich in Händen hielten?

Ich dachte, Gott sei Dank. Jetzt habe ich es geschafft, sie konnten es nicht verhindern. Das Abitur im Westen war für mich etwas ganz anderes als das im Osten. Die DDR kam mir immer so schmalspurig vor, im Westen gab es die breite Bildung. Und so viele Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen. Das hat mir sehr gefallen.

Herr Garstka, wir danken für das Gespräch.

Zum Weiterlesen:

Dietrich Garstka: "Das schweigende Klassenzimmer", Berlin 2006 (2018 als Taschenbuch neu aufgelegt)

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