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Ukraine schickt Häftlinge an die Front – Personalmangel schwächt die Armee


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Lage an der Ukraine-Front
"Putin schießt sein Arsenal leer"


27.05.2024Lesedauer: 5 Min.
UKRAINE-CRISIS/KHARKIV-ARTILLERYVergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat feuert im Gebiet Charkiw eine Haubitze ab (Archivbild): Russland versucht, mit seiner Offensive in der Region ukrainische Kräfte zu binden. (Quelle: Valentyn Ogirenko/reuters)
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Solche Maßnahmen kannte man bisher nur aus Putins Reich: Die Ukraine will nun auch Häftlinge an die Front schicken. Dennoch nimmt man sich Russland nicht zum Vorbild.

Seit nun mehr als zwei Wochen führt Russland eine Offensive in der nordostukrainischen Region Charkiw durch. Der Vormarsch der russischen Soldaten in dem Gebiet ist vorerst gestoppt, doch die Gefechte und Luftangriffe laufen weiter. Das verdeutlicht die Bombardierung eines Baumarkts in der Millionenstadt Charkiw am Samstag: Mindestens 16 Menschen kamen dabei ums Leben. Bereits am Donnerstag hatten russische Raketen in Charkiw eine Druckerei zerstört und sieben Menschen getötet.

Und dann verbreitete Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag eine Nachricht, die seiner Militärführung bereits Sorgenfalten auf die Stirn treiben dürfte: Moskau plane nordwestlich von Charkiw, in der Region Sumy, einen weiteren Angriff. Es sammelten sich bereits Einheiten in dem Grenzgebiet. Die Ukraine rutscht damit immer tiefer hinein in ein Dilemma, das sie bereits seit Wochen begleitet.

Video | Russischer Angriff auf Baumarkt: Opferzahl auf elf gestiegen
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Quelle: dpa

Kiews Truppen fehlt es neben dem Material vor allem an Personal. Egal, wohin Truppen verlegt werden, an mindestens einem Frontabschnitt entsteht so potenziell eine offene Flanke. Russlands Angriff in Charkiw verfolgt deshalb laut dem Militärexperten Gustav Gressel ein Ziel: "Die Ukraine soll Einheiten dorthin schicken, die dann etwa nicht mehr im Donbass kämpfen können", sagt er t-online. Russland hofft, dass so die Front überdehnt wird und möglicherweise sogar zusammenbricht. Zumindest aber wünscht man sich im Kreml weitere Geländegewinne – vor allem in der Ostukraine, wo die heftigsten Gefechte toben.

Nun sollen auch Strafgefangene an die Front

Auch die Ukraine ist sich des Problems bewusst. Bereits im April verabschiedete das Parlament deshalb eine Reform des Mobilisierungsgesetzes. Mitte Mai unterzeichnete Selenskyj ein weiteres Gesetz. Neuerdings können sich zudem Strafgefangene für einen Einsatz an der Front melden. Solche Maßnahmen kannte man bisher eher aus Russland. Besonders die brutale Söldnergruppe Wagner rekrutierte Schwerverbrecher für den Fronteinsatz. Dort endeten sie oft als Kanonenfutter. Schlägt die ukrainische Armee nun denselben Weg ein?

Danach sieht es derzeit nicht aus. Im Gegensatz zu Russland müssen in der Ukraine die Freiwilligen aus den Gefängnissen strenge Voraussetzungen erfüllen. Schwerverbrecher soll es in ukrainischen Schützengräben nicht geben. Stattdessen dürfen Verurteilte, die an die Front wollen, maximal eine Haftstrafe von drei Jahren verbüßen. Mörder und Vergewaltiger bleiben bei der Maßnahme außen vor. Gleiches gilt für Terroristen, Drogenhändler oder Menschen, die wegen schwerer Korruptionsfälle einsitzen. Der Militärdienst endet nicht mit Ende der Strafe, sondern bei Vertragsende oder einer allgemeinen Demobilisierung.

Der ukrainische Justizminister Denys Maljuska sagte am Freitag der "New York Times", dass bereits rund 350 Strafgefangene für einen Einsatz an der Front entlassen worden seien. Die Fraktionsvorsitzende der Selenskyj-Partei "Diener des Volkes", Olena Schuljak, erklärte zudem der ukrainischen Zeitung "Ukrainska Prawda", dass insgesamt mehr als 20.000 Strafgefangene mobilisiert werden könnten. Insgesamt sitzen rund 65.000 Männer in ukrainischen Gefängnissen, rund 3.000 Mann sollen bisher einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Für die Verurteilten werden spezialisierte Einheiten ins Leben gerufen.

"Potenzial liegt deutlich niedriger als in Russland"

Militärexperte Gustav Gressel sagt t-online dazu: "Durch die Mobilisierung von Strafgefangenen wird die Ukraine einiges an Personal zusammenbekommen." Wie hoch das Potenzial tatsächlich ist, lasse sich aber kaum abschätzen. "Es liegt jedoch deutlich niedriger als in Russland, das eine der höchsten Inhaftierungsquoten pro Kopf weltweit hat." Laut der Datenbank "World Prison Brief" sitzen derzeit rund 433.000 Menschen in russischen Gefängnissen.

Zur Person

Gustav Gressel ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Die Ukraine setzt derweil auf die Freiwilligkeit der Inhaftierten. Ein großer Teil habe bereits den Wunsch formuliert, auf Augenhöhe mit anderen Soldaten den Militärdienst ableisten zu wollen, erklärte der Leiter der Personalabteilung des Hauptquartiers der Landstreitkräfte der Ukraine, Roman Horbach, dem Sender "Suspilne". Sie sollen den gleichen Sold erhalten wie normale Soldaten. Lediglich das Recht auf 30 Tage Urlaub werde ihnen nicht eingeräumt – außer im möglichen Falle familiärer Notsituationen.

"Großvater" ist ein populärer Spitzname an der Front

Doch warum muss die Ukraine überhaupt auf eine solche Maßnahme zurückgreifen? Laut der "Ukrainska Pravda" macht die Gruppe der 40- bis 45-Jährigen aktuell den größten Anteil der Soldaten aus, die in den Schützengräben kämpfen. In vielen Einheiten gebe es zudem Soldaten, die auf den Kampfnamen "Did", zu Deutsch "Großvater", getauft wurden, da sie sogar an die 60 Jahre alt seien.

Das hohe Durchschnittsalter der ukrainischen Soldaten schlage sich besonders in der Infanterie nieder, sagt Gressel. Über das vergangene Jahr habe es recht hohe Verluste gegeben, die gar nicht oder durch die Einberufung mittelalter Männer ausgeglichen wurden. "In der Infanterie sind die Kämpfe sehr physisch, ältere Männer haben es deshalb schwerer und sie sind weniger agil. Bei den technischen Waffengattungen ist das Alter weniger ein Problem", erklärt Gressel.

Ausbildung neuer Soldaten dauert lange

Das Alter ist jedoch nicht das einzige Problem der Ukraine: Die Mobilmachung sei nicht nur von der quantitativen Seite her zu betrachten, sondern auch von der qualitativen, sagt Gressel. "Frisch rekrutierte Männer müssen zunächst über mindestens drei Monate hinweg ausgebildet werden, bevor sie effektiv an der Front kämpfen können", erklärt der Experte. "Nach den ersten Kampferfahrungen dauert es dann nochmals etwa sechs weitere Monate, bis man von einer geschlossenen Einheit sprechen kann." Das ist viel Zeit in einem Krieg, der den Soldaten keine Pause einräumt.

Dennoch erwartet Gressel, dass das neue Mobilisierungsgesetz die Situation für die Ukraine verbessern werde. "Man erwartet, dass rund 150.000 Mann mobilisiert werden", so Gressel. Derzeit verfügt die Ukraine laut "Global Firepower" über rund 900.000 aktive Soldaten sowie 1,2 Millionen Reservisten. Bis frische Kräfte eintreffen, werden die Ukraine wohl versuchen, etwa mittels des Einsatzes von Drohnen möglichst wenig personalintensiv zu kämpfen, vermutet Gressel.

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"Russlands Truppen rücken dort jeden Tag gut einen Kilometer vor"

Russland will also das Momentum nutzen – offenbar mit Erfolg. "Bisher scheint der Plan des Kremls zu funktionieren, denn im Donbass macht Russland aktuell größere Geländegewinne", berichtet der Militärexperte. Besonders nahe dem Ort Otscheretyne bei Awdijiwka sei das zu beobachten: "Russlands Truppen rücken dort jeden Tag gut einen Kilometer vor", sagt Gressel.

Heftig umkämpft ist zudem bereits seit Wochen Tschassiw Jar bei Bachmut. Russland will die strategisch wichtige Stadt wohl um jeden Preis erobern. Die Gewinne aber seien noch eher klein, sagt Gressel. "Dort nimmt Russland große Verluste für wenig Terrain in Kauf." Die Ukraine kann die zur Festung ausgebaute Stadt also noch halten. Dabei helfen laut Gressel auch die seit wenigen Wochen wieder angelaufenen Munitionslieferungen aus dem Westen – "auch wenn die Ukraine noch keine Feuerüberlegenheit herstellen kann."

Während die Ukraine also versucht, ihr Personal zu schonen und zu verstärken, rennt Russland weiter gegen die Verteidigungsstellungen an. An Personal mangelt es den russischen Truppen nicht, doch könnten andere Probleme auf sie warten: Russland werde voraussichtlich ab etwa 2026 ein akutes Materialproblem bekommen, sagt Gressel. "Putin schießt sein Arsenal derzeit leer", erklärt der Experte angesichts des massiven Einsatzes etwa von Artillerie und Fliegerbomben. "Nun bleibt die Frage: Geht der Ukraine vorher die 'Luft' aus oder können sich Kiews Truppen bis dahin stabilisieren?"

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