Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russland nicht mehr isoliert? Putin lässt die Korken knallen
Trotz seines Angriffskriegs in der Ukraine darf Wladimir Putin im Kreis der G20 sprechen. Für den Kreml wird der Auftritt ein politischer Sieg, der in Russland groß inszeniert wird.
Es sind Bilder, die an eine fast vergessene Zeit erinnern – an eine Zeit vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Wladimir Putin sitzt am Mittwochnachmittag in einem der großen Konferenzräume im Kreml. Einem dieser in Weiß getauchten Räume mit einem großen Tisch in der Mitte und großen Bildschirmen an der Seite. Der russische Präsident nimmt an einem virtuellen Treffen der G20-Staaten teil, hält vor vielen Staats- und Regierungschefs der führenden Industrie- und Schwellenländer eine Rede.
Vor einigen Jahren wäre dies nichts Besonderes gewesen. Diesmal ist das anders: Es war die Rückkehr von Putin auf die große internationale Bühne. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine im Februar 2022 hatte sich der Kremlchef bei Anlässen dieser Art von Außenminister Sergej Lawrow vertreten lassen. Nun ist er zurück, trotz anhaltender russischer Aggression gegen das Nachbarland. Das ist gleichermaßen ein fatales Signal für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer.
Russland überwindet mehr und mehr seine internationale Isolation. Das hängt auch damit zusammen, dass der Ukraine-Krieg in einigen Teilen der Welt langsam aus dem politischen Fokus gerät. Für Putin war dieser Auftritt ein Sieg, und er nutzte die Gelegenheit für einen perfiden Spaltungsversuch.
Ein Geschenk aus Indien
Zunächst aber rückt erneut die Rolle Indiens in den Fokus. Dass es zum Ende einer G20-Präsidentschaft noch ein derartig hoch besetztes Treffen nach dem eigentlichen G20-Gipfel gibt, ist relativ ungewöhnlich. Politisch gab es keine nennenswerten Ergebnisse, die Staats- und Regierungschefs zogen lediglich eine Bilanz der indischen Präsidentschaft und ihres Gipfels im September in Neu-Delhi.
Deswegen redet die Welt nun über Putin, nicht über politische Maßnahmen. Der indische Premierminister Narendra Modi hat mit seiner Einladung also dem russischen Präsidenten eine Bühne gegeben. Die indische Führung scheint sich politisch zwar immer mehr dem Westen anzunähern, trotzdem ist Indien mit China der größte Abnehmer russischer Rohstoffe. Und das indische Militär ist von russischen Rüstungsimporten abhängig. Deshalb pendelt Modi politisch zwischen Russland und dem Westen. In seiner Rede zu Beginn der G20-Konferenz am Mittwoch erwähnte er die Ukraine mit keinem Wort.
Das dürfte zumindest Putin freuen. "Sie haben viel dafür getan, die Aktivitäten der G20-Mitgliedstaaten auf die Suche nach Lösungen für wirklich dringende Probleme auf der internationalen sozioökonomischen Agenda zu konzentrieren", lobte der russische Präsident am Anfang seines Redebeitrages die indische G20-Präsidentschaft. Es war nicht der einzige russische Versuch, die führenden Industrie- und Schwellenländer gegeneinander auszuspielen.
Putins zynische Rede
Vor allem die westlichen Vertreter sprachen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte nach einem Treffen mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni am Mittwoch, das G20-Treffen sei eine gute Gelegenheit gewesen, klarzustellen, dass Frieden in der Ukraine leicht wiederhergestellt werden könne, wenn Russland Truppen zurückziehe. So hat der Bundeskanzler Putin erneut aufgefordert, den Krieg zu beenden. "Putin muss den Angriff auf die Ukraine beenden und seine Truppen abziehen", schrieb Scholz am Mittwochabend auf der Plattform X (vormals Twitter). "Dazu habe ich ihn bei der G20-Videokonferenz aufgerufen."
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Doch die Positionen der westlichen Staaten und ihrer Verbündeten werden für Putin keine Überraschung gewesen sein. Im Gegenteil: "Einige unserer Kollegen hier haben erwähnt, dass sie über 'Russlands anhaltende Aggression in der Ukraine' schockiert sind", sagte der russische Präsident in seiner Rede. "Tatsächlich sind Militäreinsätze immer eine Tragödie für bestimmte Menschen, bestimmte Familien und das ganze Land. Und wir müssen unbedingt darüber nachdenken, wie wir diese Tragödie stoppen können." Ein vergiftetes Angebot, denn dass er jederzeit diese Tragödie beenden könnte, erwähnt er nicht.
Diese Worte sind vor allem aus ukrainischer Perspektive nichts für schwache Nerven. Immerhin hat Russland diesen Krieg begonnen, und der Staatsführer, der den Angriffsbefehl gab, sprach bei diesem Treffen in einer Weise davon, als sei die Katastrophe unumkehrbar gewesen. Doch was bezweckt er damit?
Früh wurde klar: Putin wollte sich als Staatsmann inszenieren. Er verzichtete auf seine aggressive Rhetorik gegenüber dem Westen und warf der Ukraine vor, nicht verhandeln zu wollen. Dabei liegt nicht einmal ein russisches Angebot auf dem Tisch, über das verhandelt werden könnte. Im Gegenteil: Der Kreml sieht sich in dem Krieg langfristig auf der Siegerstraße, weil Putin glaubt, einen längeren Durchhaltewillen zu haben als der Westen. Mehr dazu lesen Sie hier.
Russland ist immer weniger isoliert
Die anderen Staats- und Regierungschefs sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie wissen natürlich, wer für diesen Krieg verantwortlich ist, bestätigen europäische Diplomatinnen und Diplomaten oft im Gespräch mit t-online. Doch für viele Länder auf der Welt ist die Ukraine weit weg – und sie verfolgen eigene Interessen in anderen Bereichen.
Putin möchte die Brics-Staaten stärken, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Er wehrt sich gegen eine angebliche Hegemonie und ökonomische Vorherrschaft der USA und spricht sich für eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes auf der Welt und für mehr Klimaschutz aus. Letzteres klingt zwar gut, ist aber wenig glaubwürdig, da das russische Wirtschaftsmodell auf den Verkauf fossiler Brennstoffe aufbaut.
Auch nach dem Terrorangriff der Hamas stellt er sich nicht etwa an die Seite Israels, sondern kritisierte in seiner G20-Rede auch die Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung. "Sind Sie nicht schockiert über die heutige Vernichtung der Zivilbevölkerung in Palästina und im Gazastreifen?", fragte er in seiner Rede.
Auch das ist zynisch. Immerhin ist es Russland, das nun den zweiten Winter in Folge ukrainische Infrastruktur angreifen möchte – damit die Zivilbevölkerung friert und im Dunkeln sitzt. Doch eines steht fest: Bei Staaten, die den Krieg in der Ukraine nicht weit oben auf ihrer Prioritätenliste haben, kommen diese Positionen gut an.
Das führt dazu, dass Putin langsam keine Persona non grata der internationalen Politik mehr ist, trotz seines Krieges und der internationalen Haftbefehle gegen ihn.
Es passt in Putins Spielbuch
Somit hat der russische Präsident auch langsam wieder angefangen zu reisen – vor allem in die Länder, in denen er nicht fürchten muss, verhaftet zu werden. Zweimal traf er sich in diesem Jahr mit Chinas Präsident Xi Jinping. Zuletzt posierte in Peking auch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán mit ihm für ein Foto. Im September traf Putin seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan, im Oktober dann flog er nach Kasachstan. Das Nachbarland sorgte zwar kurz nach Ausbruch des Ukraine-Krieges für Schlagzeilen, weil die dortige Führung sich überraschend kritisch gegenüber Moskau präsentierte. Doch nun sprach man wieder von einer strategischen Partnerschaft.
Die internationale Isolation der russischen Führung bröckelt also zusehends. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Putin genau diese Voraussicht hatte. Es passt in sein Spielbuch.
So kommt diese Einladung zum G20-Treffen für ihn zu einem perfekten Zeitpunkt. Der Kreml fühlt sich momentan siegesgewiss, weil die ukrainische Gegenoffensive in diesem Sommer und Herbst nicht richtig erfolgreich war. Außerdem nutzte er die Chance, sich der eigenen Bevölkerung als der Führer zu präsentieren, der wieder mit am Tisch sitzt, wenn Weltpolitik gemacht wird.
Schließlich sind im März Wahlen in Russland, und Putin sendete mit seinem Auftritt eine zentrale innenpolitische Botschaft: Sein Land ist wieder da, auf Augenhöhe mit den anderen führenden Mächten. Es ist doch alles wie immer, Putin habe alles unter Kontrolle.
Für den russischen Präsidenten war es demnach das perfekte Format, und die G20 haben ihm mit der Einladung einen Gefallen getan. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer lasen ihre Statements vor, keiner konnte auf Putins Rede reagieren. Der Kreml betitelte daraufhin am Mittwochabend eine Pressemitteilung mit "Außergewöhnlicher G20-Gipfel". Die Freude über den Ablauf der Konferenz konnte kaum überlesen werden. Am 1. Dezember wird Brasilien dann die G20-Präsidentschaft übernehmen. Es ist also davon auszugehen, dass der Kremlchef auch dort eine Bühne bekommen wird – aller Kriegsverbrechen zum Trotz.
- en.kremlin.ru: Extraordinary G20 Summit (englisch)
- zeit.de: Wladimir Putin ist plötzlich wieder Mainstream
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters