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Ukraine-Krieg | Militärexperte Mölling: "Man muss vor Putin den Hut ziehen"


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Krieg in der Ukraine
"Wir verlieren den Mut"

InterviewVon Patrick Diekmann

16.11.2023Lesedauer: 7 Min.
Ukrainische Soldaten trainieren mit der französischen Armee in Frankreich: In der Ukraine droht ein langer Abnutzungskrieg.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten trainieren mit der französischen Armee in Frankreich: In der Ukraine droht ein langer Abnutzungskrieg. (Quelle: Laurent Cipriani/reuters)
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Im Ukraine-Krieg schafft es Russland langsam, Awdijiwka einzukesseln. Im Süden gerät die russische Armee allerdings unter Druck. Gelingt einer Seite bald ein Durchbruch? Ein Überblick über die militärische Lage.

In der Ukraine tobt ein blutiger Stellungskrieg. Im Osten schaffen es russische Truppen im Kampf um die Stadt Awdijiwka, langsam Geländegewinne zu erzielen, die ukrainischen Soldaten drohen eingekesselt zu werden. Aber die Stadt wurde zu einer Festung ausgebaut, und für die russische Armee könnte es ein ähnlich verlustreicher Kampf werden wie um Bachmut ab Herbst 2022.

Im Süden dagegen ist die ukrainische Armee in der Offensive und bringt immer mehr Soldaten und schweres Gerät über den Dnipro. Die ukrainischen Brückenköpfe im Oblast Cherson halten, und Kremlchef Wladimir Putin droht in der Region ein Debakel.

Trotz erbitterter Kämpfe verändern sich die Fronten nur geringfügig. Keiner Seite gelingt ein Durchbruch. Militärexperte Christian Mölling erklärt im Interview, warum das nur eine Momentaufnahme in diesem Krieg sein kann. Ob Putin seinen Krieg verliert, hänge vor allem damit zusammen, ob der Westen seine Zögerlichkeit überwinden kann.

t-online: Herr Mölling, in der Region Cherson gerät Russland zunehmend unter Druck, die Brückenköpfe der ukrainischen Armee halten. Ist an diesem Frontabschnitt ein Durchbruch möglich?

Christian Mölling: Da wäre ich vorsichtig, ein Durchbruch ist noch nicht in Sicht.

Trotzdem scheint es für die Ukraine im Süden gut zu laufen.

Der ukrainischen Armee ist es seit mehreren Monaten gelungen, diese Brückenköpfe zu halten. Dort wird mittlerweile auch schweres Gerät über den Dnipro gebracht. Das ist natürlich ein Risiko für Russland, aber die russische Armee schaut nicht einfach dabei zu und wartet ab, sondern sie reagiert darauf.

Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Er studierte Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften an den Universitäten Duisburg und Warwick und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Warum greift die Ukraine gerade an diesem Frontabschnitt an?

Es geht für die Ukraine vor allem darum, Russland vor militärische Dilemmata zu stellen. Wenn die russische Armee nun den Frontabschnitt im Süden stärken möchte, muss sie Truppen aus dem Osten abziehen. Das ist das Ziel der Ukraine.

Muss Russland nicht bereits Truppen in den Süden verlegen?

Das ist mein Eindruck. Die russische Armee hat bereits das Kommando in der Region ausgetauscht, und ein höherrangiger Offizier kümmert sich um die Verteidigung dieses Frontabschnittes. Das ist ein erster Indikator, dass es da tatsächlich mehr zu tun gibt. Das heißt aber nicht, dass die Russen das nicht unter Kontrolle kriegen könnten. Es beutetet nicht, dass etwas zusammenbricht, aber die Verlegung von Truppen ist für die Ukraine eine gute Nachricht.

Warum?

Weil es andere Frontabschnitte instabiler macht und weil es das Ziel der Ukraine sein muss, die russischen Truppen in Bewegung zu halten. Dann können sie sich nicht eingraben.

Die Verteidigung der Krim ist für Russland demnach noch nicht in Gefahr?

Nein. Bislang können wir lediglich erkennen, dass es immer mehr Ukrainer geschafft haben, über den Fluss überzusetzen und dass Russland bisher nicht in der Lage war, diese Vorstöße zurückzudrängen. Damit diese ukrainischen Erfolge nachhaltig sind, müssen die Brückenköpfe längerfristig mit Lebensmitteln, Treibstoff und Munition versorgt werden. Das wird schwierig.

Gibt es denn andere Frontabschnitte, an denen die Ukraine aktuell in der Offensive ist?

Zu diesem Zeitpunkt sind größere Offensiven nicht möglich, weil das Wetter extrem schlecht ist. Aber es wird immer noch erbittert gekämpft. Trotzdem ist auch die aktuelle Offensive von Putins Armee bisher gescheitert und hat zu keinen Erfolgen geführt.

Es ist ein Stellungskrieg.

Aber es muss kein Stellungskrieg bleiben, sondern das ist eine Momentaufnahme. Der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj hat in einem Interview erklärt, dass es ein Abnutzungskrieg werden könnte. Das ist jedoch kein Automatismus.

Die Realität auf den Gefechtsfeldern spricht aber schon dafür. Immerhin gibt es kaum Bewegungen der Frontlinien.

Es stimmt auf jeden Fall, dass die Ukrainer langsam vorankommen. Im Westen gab es durchaus andere Vorstellungen, aber westliche Streitkräfte waren auch noch nicht in der Form mit Verteidigungslinien, Minenfeldern und Schützengräben konfrontiert. Außerdem sorgen auf beiden Seiten Drohnen dafür, dass jede Bewegung eines einzelnen Soldaten oder Panzers erkannt werden kann.

Das spricht doch gerade für eine Verfestigung der Fronten.

Nicht unbedingt. Momentan sind die Drohnen vielleicht eine Art Sperrriegel, die einen Durchbruch verhindern können. Aber sie sind auch keine Wunderwaffe und können mit elektronischer Kriegsführung ausgeschaltet werden. Im Hintergrund dieses Krieges tobt auch ein Rüstungswettlauf, und diese Pattsituation an den Gefechtslinien könnte sich auch wieder verändern.

Russland soll jetzt Drohnen des Typs "Izdeliye-53" einsetzen, die offenbar die Fähigkeit besitzen, Ziele auch nachts zu erkennen. Ist das für die Ukraine gefährlich?

Wenn die russische Armee wirklich eine größere Anzahl dieser Drohnen erhalten sollte, wäre das natürlich gefährlich für die Ukraine. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass ukrainische Soldaten und westliche Panzer einen Vorteil hatten, weil ihre Nachtkampffähigkeit besser war als die der Russen. Sollte die Quantität dieser Drohnen hoch sein, müsste die ukrainische Armee sich anpassen.

Wie?

Indem sie weniger in der Nacht kämpft und sich im Dunkeln nicht mehr so frei bewegt, wie sie das bisher konnte.

Ein Rückschlag droht der Ukraine in Awdijiwka im Osten des Landes. Die Stadt droht von der russischen Armee eingekesselt zu werden. Wie bewerten sie die Lage an der östlichen Front?

Es droht ein Kessel im Kampf um Awdijiwka. Aber auch die Ukrainer haben aus Bachmut gelernt, und das war für die russische Armee und die Wagner-Söldner schon ein unheimlich langer und verlustreicher Kampf. Putin scheint nun einen militärischen und symbolischen Erfolg haben zu wollen, aber die Stadt ist eine Festung. Die Ukrainer haben dieses Gelände in Donezk seit 2014 befestigt. Ein Verlust wäre für die Ukraine jedoch sicherlich atmosphärisch schlecht.

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Somit könnte Awdijiwka nach Bachmut der nächste Fleischwolf werden?

Das stimmt, aber es hat für beide Seiten unterschiedliche strategische Ebenen. Verluste spielen für Russland eine deutlich geringere Rolle, Putin sind Menschenleben egal. Er muss sich zwar für seinen Krieg nicht vor seinem eigenen Volk rechtfertigen, aber es gibt natürlich ein Machtökosystem im Kreml, welches davon abhängt, dass die Bevölkerung weiterhin stillhält. Deswegen muss die russische Führung eine erfolgreiche Erzählung haben.

Erfolge konnte Russland in der Ukraine allerdings nicht feiern in diesem Jahr.

Darüber spricht eigentlich niemand. Russland verkauft es lediglich als Erfolg, dass es die ukrainischen Angriffe abgewehrt hat. Dabei sieht der Kreml sein Militär als zweitstärkste Armee der Welt. Aber es ist kein militärstrategischer Erfolg, der erzielt wurde, sondern Russland hat lediglich so massive Verteidigungsanlagen gebaut und Minenfelder verlegt, die offenbar historisch einzigartig im Hinblick auf die Dichte der Minen sind.

Wie kann die Ukraine denn momentan am effektivsten unterstützt werden?

Der ukrainische Generalstabschef hat eine Liste mit Dingen gemacht, die notwendig sind, damit die Ukraine aus diesem Stellungskrieg herauskommen kann: mehr Flugabwehr, mehr Mittel zur elektronischen Kriegsführung, mehr Gerät für die Minenräumung. Der Westen bemüht sich zwar, das hinzubekommen, aber irgendwie verlieren wir den Mut in der ganzen Geschichte.

Wir verlieren den Mut?

Zumindest gibt es eine laute Minderheit, die die Stimmung verbreitet, dass es ohnehin nicht vorangeht. Im Westen gab es die unrealistische Erwartung, dass es im Jahr 2023 zu einer Art Entscheidungsschlacht kommt. Aber es gibt eigentlich kaum eine andere Wahl: Der Krieg ist nicht vorbei, und wenn nun die Unterstützung für die Ukraine eingestellt werden würde, hätte Putin seine strategischen Ziele erreicht. Daran können wir kein Interesse haben.

Ist das den Menschen in Deutschland bewusst?

In der öffentlichen Diskussion sehe ich den Versuch, den Ukraine-Krieg und die Frage nach Sicherheit in Europa trennen zu wollen, weil diese Verbindung unbequem ist. Denn das würde bedeuten, dass wir auch unser Schicksal in die Hand nehmen müssten. In der deutschen Diskussion scheinen wir allerdings oft eine Beobachterposition einnehmen zu wollen, aber das ist fatal. Hätten wir zum Beispiel früher Waffen geliefert, wäre der Krieg anders verlaufen. Wenn das für die Ukraine schiefgeht, dann sind wir dafür mitverantwortlich. Trotzdem hat Deutschland offensichtlich eine lange Tradition, ständig zu langsam zu sein und dann auch nicht ausreichend zu liefern.

Da es auch für Putin nicht nach Plan läuft, hofft er wahrscheinlich auf diese Schwäche des Westens.

Ganz genau. Da muss man den Hut vor Putin ziehen. Er hat es erfolgreich geschafft, die Verantwortung für Verhandlungen an Deutschland zu übertragen. Dabei ist er der Einzige, der es vollkommen in der Hand hat, ob es zu Verhandlungen kommt. Es war also schlau von ihm, dass wir nun über ein anständiges Angebot für Russland diskutieren und ihm sozusagen hinterherrennen. Das ist wirklich perfide, aber es zeigt auch, dass er die politische Landschaft in Deutschland gut kennt.

Hat er auch die USA mit den US-Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr im Blick?

Natürlich. Wenn nun die USA zögern, weil US-Präsident Joe Biden Angst davor hat, als Kriegspräsident nicht wiedergewählt zu werden, hat das schlimmere Folgen für die Ukraine als das Zögern Deutschlands.


Quotation Mark

Der Ukraine-Krieg ist eine Droge für ihn, weil er damit am Leben bleibt.


Militärexperte Mölling über Putin


Das alles erklärt wahrscheinlich in Summe, warum Putin noch immer denkt, diesen Krieg gewinnen zu können.

Mit Blick auf die Lage in Russland muss Putin zumindest dafür sorgen, dass er den Krieg nicht verliert. Der Ukraine-Krieg ist eine Droge für ihn, weil er damit am Leben bleibt. Es läuft nicht gut für Russland, sonst müsste sich die zweitgrößte Armee nicht bei Nordkorea bedienen. Aber das muss es auch nicht. Es muss nur besser laufen als bei den Europäern. Irgendwann wird auch die russische Rüstungsindustrie wieder mehr produzieren können, und dann braucht er das nordkoreanische Regime nicht mehr.

Sehen Sie denn aktuell auch irgendeinen Lichtblick in der gegenwärtigen Lage?

Ich kann verstehen, dass Hoffnungen bezüglich der Gegenoffensive enttäuscht wurden. Doch vielen Enttäuschungen gehen auch Selbsttäuschungen voraus. Wir haben uns selbst getäuscht, weil wir uns selbst versprochen haben, dass der Krieg bald vorbei ist. Natürlich kann es Lichtblicke geben, aber nur, wenn wir der Ukraine vertrauen und ihr das liefern, was sie für ihre Verteidigung braucht. Dann gibt es Hoffnung, denn die gegenwärtige Situation ist nicht alternativlos.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mölling.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Christian Mölling
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