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Nationalfeiertag in der Ukraine: Düstere Stimmung – Offensive gescheitert?


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Feiertag in der Ukraine und der Krieg gegen Putin
Eine bittere Erkenntnis


24.08.2023Lesedauer: 5 Min.
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Ukrainischer Soldat in einem Schützengraben: Schafft Kiew die Kriegswende? (Quelle: Jose Colon/Anadolu Agency/getty-images-bilder)
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Eigentlich feiern die Ukrainer am 24. August ihre Unabhängigkeit. Doch in diesem Jahr fällt die Feier düster aus. Ist die ukrainische Gegenoffensive gescheitert?

Es ist Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Die Menschen versammeln sich an diesem Donnerstag in Kiew und anderen Städten des Landes und feiern die Loslösung von der Sowjetunion im Jahr 1991 – eigentlich. Denn wo sonst das eigene Militär auffährt und Stärke demonstriert werden soll, stehen in diesen Tagen beschädigte, zerstörte, untauglich gemachte Fahrzeuge der russischen Armee. Die eigenen Panzer, Transporter und Waffen sind an der Front, dort werden sie dringender denn je benötigt.

Für die Ukraine kommt dieser Nationalfeiertag am 24. August mit einer bitteren Erkenntnis. Vor genau eineinhalb Jahren, am 24. Februar 2022, begann Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Feiertag bietet der ukrainischen Bevölkerung in diesem Jahr daher keinen Halt, sondern auf den Straßen Kiews vielmehr einen trostlosen Anblick. Die zur Schau gestellten kaputten russischen Fahrzeuge sind Errungenschaft und Mahnmal zugleich. Denn der russische Aggressor will der Ukraine genau das nehmen, worum es an diesem Unabhängigkeitstag geht: ihren Nationalstolz und ihre Souveränität.

Unterdessen wächst im Westen erneut die Sorge, dass Wladimir Putin seine Kriegsziele in der Ukraine erreichen könnte. Die aktuelle Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte läuft seit Monaten schleppend – bisher halten die russischen Verteidigungslinien und der erhoffte Durchbruch bleibt aus. Das gegenwärtige Kriegsgeschehen überschattet diesen Feiertag, an dem es für die Ukraine wenig zu feiern gibt. Eine Frage überlagert alles: Wie kann die ukrainische Armee ihr Staatsgebiet komplett befreien und den Krieg gewinnen?

Hartes Ringen um den Durchbruch

Die Antwort aus ukrainischer Perspektive auf diese Frage ist einfach: die Ukraine kämpft weiter, egal wie lange es dauert. Die Kampfmoral scheint in der politischen Führung ungebrochen zu sein, die Entschlossenheit noch immer groß. Beobachtern zufolge in ihre Befehlsstruktur intakt und das Vordringen langsam, aber stetig. Teils sind es wenige Kilometer Boden, die die Ukraine gutmacht, manchmal einzelne Dörfer. Waren es bei der ersten Gegenoffensive noch größere Städte, wird nun die Befreiung der kleinen Orte umgehend öffentlich gemacht, wohl um Hoffnung zu streuen.

In und um Robotyne im Westen der südukrainischen Region Saporischschja erweitern die ukrainischen Truppen derzeit Durchbruchsstellen zu russischen Verteidigungslinien. Das berichtet der US-Thinktank Institute for the Study of War. Den größten Teil des Dorfs kontrolliere die Ukraine wieder, das zeigten sogenannte Open-Source-Aufnahmen, die die Truppen orten. Westlich von Verbove erzielt die Ukraine demnach ebenfalls Fortschritte. Auch in der ostukrainischen Region um Bachmut wird weiter gekämpft, allerdings ohne signifikante Erfolge, sagte ein Beobachter t-online am Donnerstag.

Aber hier liegt genau das Problem: Jeder Ukrainer, der von der russischen Besatzung befreit wurde, ist wichtig. Doch strategisch verliert die Ukraine im Ringen um kleine Ortschaften viele Soldaten und Material. Dabei kämpfen die ukrainischen Truppen aktuell noch darum, direkt zu den ersten russischen Verteidigungslinien vorzustoßen. Der Kampf um einen eigentlichen Durchbruch hat dabei noch gar nicht begonnen. Der Weg für die ukrainischen Einheiten zum Asowschen Meer – dem wahrscheinlichen Ziel der Gegenoffensive – erscheint als weit und steinig.

Aber ist die ukrainische Gegenoffensive schon gescheitert?

Erfolgsdruck auf Kiew wächst

Im Westen sind Experten noch zurückhaltend mit einer Bewertung, es wächst jedoch zunehmend die Skepsis. "Gescheitert ist sie erst dann, wenn die Ukraine sie abbläst oder die Offensive einfach ohne große Ankündigung eingestellt wird", sagte der Militär- und Russland-Experte Gustav Gressel im Interview mit t-online. "Aber es stimmt: Es ist zunehmend fraglich, ob die Ukraine ihre operativen Ziele noch erreichen kann." Gressel wirbt dafür, dass die Ukraine aus ihren Fehlern bei dieser Gegenoffensive lernen solle. Denn eines sei klar: "Kriege sind ein ständiger Lernprozess."

Doch ausländische Kritik, wonach die ukrainische Armee zur Abwehr der russischen Invasion falsch aufgestellt sei, hat Präsident Wolodymyr Selenskyj inzwischen zurückgewiesen. "Weiß ein Experte, wie viele Menschen, wie viele Besatzer sich im Osten aufhalten? Ungefähr 200.000!", sagte er am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Kiew. Die russische Armee warte nur darauf, dass die Ukraine den Schutz einiger Frontabschnitte vernachlässige. Die Russen würden dann im Osten sofort vorstoßen. "Wir werden Charkiw, den Donbass, Pawlohrad oder Dnipro nicht aufgeben. Und das ist auch gut so", sagte der Präsident, mehr dazu lesen Sie hier.

Zuvor hatte die "New York Times" nicht genannte US-Militärs und andere Experten mit entsprechender Kritik zitiert. Sie hatten geäußert, dass die Ukraine zu wenige Einheiten im Süden konzentriere. Deshalb stocke der erhoffte Vormarsch in Richtung Asowsches Meer. Sie rieten Kiew, die Taktik zu ändern.

Aber natürlich ist die Front im Osten und Süden der Ukraine lang, und für Kiew ist es existenziell wichtig, ausreichend Reserven für die Verteidigung zu haben. Denn Offensiven sind nur dann erfolgreich, wenn die Ukraine die eroberten Gebiete auch verteidigen und halten kann. Wenn nicht – hat sie Menschenleben und Material verschenkt. Die tatsächlichen Erfolge lassen sich laut Experten allerdings ohnehin noch nicht bemessen. Demnach lassen sich erst im Herbst entsprechende Aussagen treffen. Außerdem ist der Fortgang von der Ausstattung mit entsprechenden Waffen abhängig. Die Ukraine fordert nach ersten Zusagen weitere Kampfjets – um die Luftverteidigung zu verbessern.

Auch die Ukraine hat Fehler gemacht

Derzeit ist die Front im Osten und Süden der Ukraine etwa 800 Kilometer lang. Daneben muss die ukrainische Armee weitere Grenzabschnitte zu Russland verteidigen, zum Beispiel bei Charkiw und Sumy, und die lange Grenze zu Belarus bewachen.

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Doch die Reaktion Selenskyjs zeigt, dass der Druck auf Kiew steigt – und natürlich auch die Ukraine Fehler gemacht hat. "Ich kann nicht verstehen, warum die ukrainische Armee auch an Stellen der Front Schwerpunkte ihrer Angriffe gesetzt hat, an denen die russische Verteidigung sehr dicht gestaffelt ist", meinte Gressel. "Hinzu kommt, dass die Ukraine das moderne Kriegsgerät aus dem Westen auch neu aufgestellten Einheiten gegeben hat. Die Lernkurve war einfach zu steil, und die Folge war taktisches Fehlverhalten."

Die ukrainische Führung braucht Erfolge und führt auch deshalb Operationen durch, die großen symbolischen Wert haben. So hat ein ukrainisches Spezialkommando nach Geheimdienstangaben einen Einsatz auf der Halbinsel Krim ausgeführt und die ukrainische Fahne auf der von Russland annektierten Halbinsel gehisst. Die ukrainischen Spezialkräfte seien in der Nacht zum Donnerstag vom Meer im Westen der Krim nahe den Orten Oleniwka und Majak an Land gegangen und inzwischen ohne Verluste wieder von der Halbinsel abgerückt.

Ein Nationalfeiertag der Selbstvergewisserung

Das Vorgehen sendet zum Nationalfeiertag eine Botschaft an die ukrainische Bevölkerung: Wir geben keinen Quadratmeter unseres Staatsgebietes auf, auch die Krim nicht. Eine ukrainische Flagge, die auf der 2014 von Russland annektierten Schwarzmeerhalbinsel weht, wäre ein Erfolg für die ukrainische Propaganda und brächte Putin in Bedrängnis. Immerhin ist die Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Grundpfeiler seiner Ideologie.

Verschieben sich die Frontlinien weiter nur langsam, werden derartige Angriffe wohl zunehmen – als ukrainische Attacken auf die Krim-Brücke, auf russische Kriegsschiffe und als Sabotageaktionen auf russischem Territorium. Bei Angriffen auf russische Flugplätze in den vergangenen Tagen sind nach ukrainischen Angaben zwei TU-22 Langstreckenbomber zerstört und zwei weitere beschädigt worden. Eine fünfte Maschine soll ebenfalls getroffen worden sein. Diese Angriffe treffen Russland empfindlich, denn die Langstreckenbomber sind ein wichtiger Grundpfeiler der atomaren Abschreckung der Russischen Föderation – und die russische Luftwaffe hat nicht viele davon. Lesen Sie hier mehr dazu.

Letztlich sind sich westliche Experten vor allem in einem Punkt einig: "Wir werden in der Ukraine einen langen Krieg erleben", sagte Gressel. Darauf muss sich insbesondere natürlich auch die ukrainische Bevölkerung einstellen. Deswegen ist ihr Unabhängigkeitstag am 24. August auch ein Tag der Selbstvergewisserung. Ein Tag, an dem sich die Ukraine daran erinnert, wofür sie kämpft: für ihre Freiheit und um nicht als Vasall Putins zu enden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • understandingwar.com: "Russian Offensive Campaign Assessment, August 23, 2023" (englisch)
  • Nachrichtenagenturen Reuters, dpa
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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